Amsterdam. Uwe Hammer
Читать онлайн книгу.fest. Seiner Nase entwich weiterhin eine nicht unerhebliche Menge Blut, überhaupt brannte sein Gesicht wie Feuer. Er war froh, dass er keinen Spiegel zur Hand hatte, und so wenigstens vom Anblick seines sicherlich schwer in Mitleidenschaft gezogenen Gesichtes verschont wurde. Er kramte in seinen Taschen nach einem Taschentuch, obwohl er wusste, dass er nie ein Taschentuch einstecken hatte. Normalerweise fragte der Claudette, wenn er ein Taschentuch benötigte, die hatte immer Taschentücher in ihrer Handtasche, die sie immer bei sich trug, außer beim Radfahren, da hatte sie selbstverständlich ein kleines Erste-Hilfe-Pack bei sich. Dieter hasste diese Besserwisserei. Aus Ermangelung eines Taschentuches oder gar Erste-Hilfe-Packs entschloss Dieter sich, seinen Schuh auszuziehen, um an seinen ohnehin völlig durchnässten Socken zu kommen, welchen er sich zur Eindämmung des Blutflusses vor die Nase hielt. Dieser etwas ungewöhnliche Lösungsansatz erfüllt ihn mit Stolz, zeigte er doch, dass auch er sich durchaus zu helfen weiß und nicht auf Claudettes Handtasche oder noch schlimmer auf ihr Erste-Hilfe-Set angewiesen war.
Allerdings erwies es sich als ratsam, den Socken nicht gegen die Nase zu drücken, da eine direkte Berührung einen nicht unerheblichen Schmerz hervorbrachte. Dieter lehnte sich an den Baum an, mit dem er bereits Bekanntschaft geschlossen hatte, und überlegte, was er nun machen sollte. Noch immer regnete es, aber wenigstens hatte der Regen soweit nachgelassen, dass er keine Luftbläschen in den Wasserpfützen mehr bildete. Dennoch konnte Dieter nicht damit rechnen, dass in absehbarer Zeit Passanten den Weg entlangkamen, die er um Hilfe bitten konnte. Sein Handy hatte er natürlich nicht mitgenommen. Warum denn auch, wenn bitte sollte er an einem Sonntagmorgen anrufen, und angerufen wurde er sowie so gut wie nie.
Bisher war er immer stolz, dass er nicht so von diesem elektronischen Zeug abhängig war, dass er recht gut ohne diese Bürde der modernen Menschheit zurechtkam. Es versetze ihn regelrecht in Angst und Schrecken, wenn er beobachtet, dass vor allem junge Menschen kaum eine Sekunde ohne ihr Handy auskamen. Er fragte sich immer was es denn bitteschön ständig an diesem Ding herumzudrücken oder hineinzuglotzen gab. Wie lange wird es wohl noch dauern, bis die Menschen überhaupt kein direktes Wort mehr miteinander sprachen, sondern nur noch E-Mails oder SMS oder sonst irgendein Zeug schrieben. In diesem Moment musste er allerdings zugeben, dass es durchaus hilfreich wäre ein Handy bei sich zu haben. Er tröstete sich damit, dass er bei seinem Glück ohnehin kein Netz gehabt hätte.
Mühsam krabbelte er auf allen Vieren die Böschung hoch, die er noch vor wenigen Minuten hilflos auf seinem sauteuren Fahrrad sitzend hinunter gedonnert war, vergaß allerdings, den Socken aus der Hand zu nehmen, wodurch dieser erheblich mit Schlamm beschmutzt wurde. Oben angekommen überlegte er sich kurz ob er den Socken wechseln sollte, entschied sich aber dagegen, da ihm dies zu mühsam erschien. Er richtet sich so gerade auf wie es ihm im Augenblick möglich war. Er überlegte kurz (er zählte noch nie zu der Sorte Mensch, die sich mit langen Überlegungen aufhielt) ob er lieber aufwärts oder abwärts gehen sollte, und entschloss sich, nach oben zu gehen, da dies der kürzere Weg sein musste.
Es tat ihm im Herzen weh, sein sauteures Fahrrad zurückzulassen, aber es war ihm klar, dass er es unmöglich schaffen konnte das Ding den Berg hoch zu zerren. Kürzer erwies sich jedoch recht schnell als relativ. Es kostet Dieter alle Kraft, dem immer noch recht steilen Weg Richtung Gindelalm zu folgen, und er fragte sich erneut, warum Menschen ihren Gastronomiebetrieb unbedingt auf einen Berg setzen mussten. Wahrscheinlich, weil die Menschen, wenn sie oben angekommen waren völlig ausgehungert und vor allem ausgetrocknet waren, und dadurch der Umsatz pro Gast stieg. Allerdings war die Anzahl der Gäste geringer, da es vielen Menschen sicherlich vermieden eine solche Strapaze auf sich zu nehmen. Dieter riss sich von seiner wirtschaftlichen Überlegungen los, da er einsah, dass das nicht bringen konnte, und konzentrierte sich wieder auf die Bewältigung des Aufstiegs, wobei er entschied ganz bestimmt nichts in diesem Etablissement zu bestellen sollte er jemals ankommen.
Er war inzwischen so erschöpft, dass er noch nicht einmal bemerkte, dass der Regen aufgehört hatte. Schritt für Schritt quälte er sich den Berg hoch. Sein Socken war inzwischen völlig durchgeblutet, sodass das Blut vermischte mit dem ebenfalls am Socken hafteten Schlamm bereits heraustropfte und auf seinem T- Shirt landete welches ohnehin schon völlig verdreckt war. Blut und Schlamm bildete auf seinem T- Shirt ein obskures Muster, dass man mit etwas gutem Willen als moderne Kunst betrachten konnte, dass, wäre es von einem berühmten Künstler kreiert worden, sicherlich bei irgendeiner Auktion viel Geld eingebracht hätte. Überhaupt gab er eine äußerst klägliche Figur ab, über und über mich Schlamm und Blut verschmiert, übersät mit kleineren und größeren Schürfwunden, welche in seinem Gesicht den Höhepunkt erreichten, eine Nase aus der das Blut wie aus einem Wasserfall sprudelte, und deren Ausrichtung in Bezug auf den Rest seines Gesichtes sich deutlich geändert hatte. Man konnte auch ohne genau hinzusehen eine deutliche Tendenz nach rechts erkennen. Endlich erreichte Dieter den Linksknick des Weges den er tatsächlich mochte, und den er sich im Laufe der Zeit eingeprägt hatte und von dem er wusste, dass es der letzte war, bevor diese verdammte Gindelalm endlich auftauchte. Aufgrund des schlechten Wetters saß kein Gast auf der Terrasse und Dieter konnte unbemerkt den Eingang erreichen.
Mit letzter Kraft stieg er die wenigen Stufen hoch und drückte die Türklinke nach unten. Mit einem leichten Quietschen öffnete die Tür. Der Gastraum sah aus, wie der Gastraum einer Bergalm aussehen muss. Klobige mit einer undefinierbaren Patina überzogene Tische und Stühle bildeten die Grundausstattung. An den Wänden standen Sitzbänke gleicher Machart und die Decke zierten aus Hirsch- oder Rehgeweihen hergestellte Lampen, die eine gewisse Geschmacklosigkeit nicht verbergen konnten. Durch die kleinen Fenster wurde der Raum kaum erhellt und Georg der Wirt fand es wohl nicht für nötig, für die paar Gäste extra das Licht einzuschalten, sodass der Raum von einem fahlen Licht nur notdürftig erhellt wurde. Als Dieter in der Tür stand kam ihm das Bild aus alten Western in den Kopf, indem ein von Indianern verfolgter Cowboy mit letzter Kraft einen Saloon betrat, plötzlich jeder Lärm versiegte und alle auf ihn blickten. Genau in dem Augenblick fällt er nach vorne um, und man sieht, dass sein Rücken mit mindesten einem Dutzend Pfeilen verziert war, was zur Folge hatte, dass alle aufsprangen, die Männer ihre Waffen zogen und grimmige Kampfbereitschaft demonstrierten. Dieters Eintreten hatte nicht ganz den Effekt, was vermutlich im nicht Vorhandensein der Pfeile in seinem Rücke seine Ursache hatte.
Keiner der aufgrund des schlechten Wetters wenigen Gäste nahm Notiz von seinem Eintreten. Claudette saß unbeschwert bei einigen ihrer Sportkameraden, die ebenfalls, natürlich mit albernen Radklamotten ausstaffiert, den Weg nach oben gefunden hatten. Georg stand etwas gelangweilt an seinem Ausschank und hoffte wohl auf besseres Wetter. Dieter betrat den Gastraum und hinterließ eine Spur aus Schlamm und einzelnen Bluttropfen auf dem Boden. Ein kurzer spitzer Schrei brachte die fröhliche Unterhaltung der Sportkameraden, die sich sicherlich um irgendeine Tour auf irgendeiner gottverdammten Berg gedreht hatte, jäh zum Erliegen. Ausgestoßen wurde dieser von Maria Huber, eine Freundin wie Claudette sie wohl bezeichnen würde, wobei Dieter den Ausdruck Nervensäge wohl eher verwenden würde.
Diese hatte nichts ahnend und ohne ersichtlichen Grund ihren Kopf gedreht und war plötzlich mit dem schockierenden Anblick von Dieters erbärmlichem Erscheinungsbild konfrontiert. Maria wurde von der Urangst gepackt, Dieter könne nach vorne umkippen, um die Blick auf mindestens ein Dutzend in seinem Rücken steckenden Pfeile freizugeben, was für eine Horde mordlüsterner Indianer das Signal zum Stürmen des friedlich daliegenden Gastraumes darstellte. Zu ihrer Erleichterung kippte er nicht um, sondern bewegte sich leicht taumelnd auf die Gäste zu, die ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrten und für einen Moment regungslos verharrten. Claudette fand als routinierte Oberärztin im Krankenhaus Agatharied als Erste die Fassung und begrüßte ihn mit den Worten.
„Um Gottes willen, wie siehst Du denn aus?“
Dieter war sich nicht sicher ob es sich bei seinem Zustand tatsächlich um Gottes Willen handelte, aber wenn er sich an seine Zeit als Ministrant zurückerinnerte, so behaupten die Christen, dass nichts geschah ohne das Gott es wollte, oder es zumindest zuließ. Somit war sein Zustand wohl auch Gottes Wille, oder wurde von ihm wenigstens geduldet. Dieter hatte keine Zeit sich darüber zu ärgern oder sich gar zu fragen warum Gott es zuließ, dass er so zugerichtet wurde, da er sich eine passenden Antwort auf die Fragen seiner Frau überlegen musste.
„Wieso stimmt was nicht mit mir?“ gab er schnippisch