Johann Hinrich Wichern - Herold der Barmherzigkeit. Jürgen Ruszkowski

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Johann Hinrich Wichern - Herold der Barmherzigkeit - Jürgen Ruszkowski


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Denn nur mit Ehrfurcht kann man sich vor solchen Männern fühlen, die Gott und der Herr der Kirche sich zu auserlesenen Rüstzeugen ersehen hat.“

      Unter Kanzel und Katheder von Schleiermache lernt er Glauben und Handeln des Christen durchdenken. Schleiermachers Betonung des Familiengedankens und Neanders Betonung des allgemeinen Priestertums im Sinne der lutherischen Reformation gewinnen auf Wichern bleibenden Einfluss, doch sind seine Lehrer nur Anreger. Wichern hat alles eigenständig umgeprägt. Sehr genau studiert er Luther und den deutschen Mystiker, Philosophen und Theosophen Jakob Böhme.

      Es ist immer wieder erstaunlich, einen wie schnellen Kontakt dieser junge Student mit den bedeutendsten Menschen seiner Zeit gefunden hat, sofern sie ihm innerlich gleich gestimmt waren – ja es ist geradezu ein auffallendes Wesensmerkmal dieses Mannes. Dies gütige Geschenk der Gnade soll in den Folgejahren viel beitragen zu den in die Breite und in die Tiefe gehenden Wirkungen des späteren Heroldes der Inneren Mission. Denn es sind in Berlin keineswegs nur berühmte akademische Lehrer, die ihn innerlich fördern; nicht minder schnell findet er den Zugang in die Häuser und Herzen so bedeutender Männer wie etwa des Geheimrates Semler oder des Barons Hans Ernst von Kottwitz. Der fromme Baron von Kottwitz, der geistige Mittelpunkt der christlich erweckten Kreise. In dessen „Freiwilliger Armenbeschäftigungsanstalt“ findet Wichern verwirklicht, was er als Ruf aus Gottes Wort zu vernehmen weiß: Hilfe und Rettung für alle Blenden und Armen. Ganz gewiss liegen in der Erweckungsbewegung jener Zeit Wurzeln und Quellen Wichernscher Glaubens- und Lebensentfaltung; freilich, nicht in eng-pietistischer Neigung, sich selbstzufrieden der Seligkeit zu freuen und der bösen Welt den Rücken zu kehren; „erweckt sein“ heißt für Wichern „gerufen sein“ zum Dienst an der Welt und die Kräfte des Evangeliums durch Wort und Werk in der Welt zu bezeugen.

      Der junge Student, der aus einer Hamburger Kellerwohnung kommt, soll sich einst im Auftrag Gottes ohne Scheu und Gehemmtheit auf dem Parkett der Königsschlösser und der Ministerien bewegen können. Das will gelernt sein. Und so bedeutet es ihm nicht nur Freude, sondern auch Hilfe, dass er im Hause des Geheimen Oberfinanzrates Semler aus- und eingehen darf. Semler ist weltgewandt und in hohen Stellungen in Rom, Paris und Petersburg gewesen. Jetzt ist er am staatlichen Armenwesen sowie am Gefängniswesen lebendig und persönlich interessiert. Einen tiefen Eindruck macht auf Wichern auch die weitschauende Klugheit und Herzenswärme des Mannes und die schlichte Zurückhaltung der jungen Hausfrau, mit der sie still ohne Absicht die Gespräche wie den Geist des Hauses prägt. Hier lebt die gute Atmosphäre des besten Bürgertums aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts, die erfüllt ist von einer vielgestaltigen Bildung und bereichert durch weitverzweigte Beziehungen. Aber der Grundton dieses vornehmen Hauses ist auf denselben Ton gestimmt, der in Wicherns schlichtem Elternhaus die Dominante darstellte: „O selig Haus, wo man dich aufgenommen, du wahrer Seelenfreund, Herr Jesus Christ!“

      Von all den führenden Männern Berlins, die den jungen Wichern damals beeinflussten, hat wohl keiner auf ihn einen so tiefen Eindruck ausgeübt wie Baron von Kottwitz. Als junge, empfindsame und leicht aufgeschlossene Seele, die sich willig und freudig prägen lässt, als einer der vielen jungen Männer der christlichen Erweckungsbewegung kommt Wichern mit dem ehrwürdigen alten Baron in Berührung. Aber er bleibt nicht einer der Vielen. Es wird nur weniger Jahre bedürfen, dann wird das Saatkorn, das in dieser Berührung gelegt wurde, aufgehen und hundertfältige Frucht bringen.

      Der in Schlesien beheimatete Baron Hans Ernst von Kottwitz, damals schon 73 Jahre alt, lebte seit 1807 in Berlin. Besonders in der theologischen Jugend war sein Einfluss groß. In einer Zeit, in der es noch keine Sozialversicherung des Staates und noch keine Erwerbslosenunterstützung gab, gründete er in Berlin seine „Freiwillige Beschäftigungsanstalt“. Hunderte von erwerbs- und brotlosen Arbeitern sammelte er in einer Kaserne, gab ihnen Unterkunft, Beschäftigung und Brot und lebte mit ihnen zusammen. Wie August Hermann Francke, hatte auch er nicht nur ein gläubiges Herz, sondern auch einen klaren Blick für die Nöte der Zeit und für ihre Bekämpfung. Es ist nicht verwunderlich, dass Wichern sich diesem Mann sofort anschloss. Als er ihm zum ersten Mal begegnete, der 23jährige dem 73jährigem, schreibt er in sein Tagebuch: „Mein Geburtstag ist heute recht geistiger Art und geistlich gefördert. Am Morgen besuchte ich den lieben Geheimen Finanzrat Semler, dessen Freundlichkeit mir wie immer so wohl tut; am Nachmittag wurde mir aber Großes zuteil durch den Besuch bei dem Vater Kotwitz. Er ist wie ein johanneischer Evangelist in seinem reichen, mit himmlischer Gnade und Freundlichkeit geschmückten Alter. O, du unvergleichlicher Mann, so demütig, dass du mich beschämst mit jedem Wort, so reich im Himmel, so voll Freude, deren heilige Schauer man dich durchbeben sieht. Mein Heiland, ach, lass mich auch so werden, so ergeben und Dir geweiht.“ Diese Tagebuchaufzeichnungen schließen mit den Worten: „Eins habe ich in dieser Zeit gelernt, dass das Leben schwer ist, ehe es leicht wird. Hilf mit, o Heiland!“

      Goethe sagt in Wilhelm Meisters Wanderjahren: „Große Gedanken und ein reines Herz, das ist’s, was wir uns von Gott erbitten sollten.“ Vielleicht darf man für eines Menschen Wanderjahre dies Wort auch umwandeln und sagen: Große Vorbilder und ein reines Herz, das ist es, was wir uns von Gott erbitten sollten. Jedenfalls kann man es Wicherns Lebenswerk ablesen, was große Vorbilder einem reinen Herzen abgezwungen haben.

      Also, nicht nur das theologische Denken oder die wissenschaftliche Arbeit sind Wicherns Feld in Berlin. Alles in ihm drängt zum Tun.

      So eifrig er auch studiert, so fleißig und klug er auch ist, eines bezeugt und beweist er von den ersten Studienjahren an: Nicht allein auf das Wissen und nicht zuerst auf die Lehre kommt es an, sondern auf das Leben aus dem Glauben; es geht um das Tun, das aus brennendem Herzen bricht, es geht um die rettende Tat der Liebe. Mit Recht hat Theodor Heuß von Wichern gesagt: „Er hatte keine Zeit, ein großer Theologe zu werden, da es ihm eilte, ein guter Christ zu sein.“

      In Berlin begegnet er auch dem jüdischen, später katholischen Arzt Nikolaus Heinrich Julius, der eine Arbeit über die Reformen im Gefängniswesen verfasst hatte. Unter den berühmten Predigern Berlins beeindruckte ihn vor allem Johannes Evangelista Goßner wegen der Entschiedenheit seiner Verkündigung.

      Am Ende seiner Lehr- und Wanderjahre schreibt der junge Student in sein Tagebuch: „Bald soll ich heimkehren in die Heimat, zum Wirken und Werken berufen. Was soll mir bleiben aus all dem Reichtum und dem Gebiet des im Geist Erlebten, Gedachten, Empfundenen und Erfahrenen? Nenne ich es Sinn, Wesen, Heiliges, Leben, Liebe, was mir geworden ist? Liebe ist sein einziger Name, und wer wahrhafte Liebe gefunden hat, weiß auch, wann sie kommt. Ich meine aber Liebe aus Gott, die frei ist in ihm und uns frei macht durch sich selber. Darum ist es Aufgabe und Pflicht, sich dienstbar zu machen, was und soviel es zu unserem Dienst verordnet ist, nur dass wir uns nicht dienen lassen, ohne Diener zu sein, nicht Gehorsam fordern, ohne selbst Gehorsam zu leisten. Denn wer nicht Diener Gottes ist und sein Schüler sein Lebelang, wird nicht leben im Leben“.

      Am 2. September 1831 kehrt der junge Wichern in seine Vaterstadt zurück. Er macht 1832 in Hamburg sein Examen als Kandidat der Theologie. Das bleibt sein geistlicher Rang bis zu seiner Berufung in den Preußischen Oberkirchenrat. Im Stil der Zeit, in der Kandidaten der Theologie lange auf ein Pfarramt warten mussten, wenn sie überhaupt eines bekamen, wendet sich Wichern der Erziehertätigkeit zu.

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      Oberlehrer an der Sonntagsschule in St. Georg – Besuchsverein

      Er wird am 24. Juni 1832 Oberlehrer an der von Oncken und Rautenberg initiierten Sonntagsschule in der Evangelischen Vorstadt-Kirchengemeinde St. Georg (sieh oben!) für verwahrloste Proletarierkinder, die ohne Erziehung und Unterricht, ohne elterliche Betreuung und Liebe auf den Plätzen und Straßen der großen Hafenstadt herumstrolchten.

      Die öffentlichen Schulen Hamburgs standen nur der Jugend aus den bürgerlichen und wohlhabenden Kreisen offen; um die unübersehbare Schar der vernachlässigten Arbeiterkinder kümmerte sich niemand. Diese Sonntagsschule, die nach englischem Vorbild Kinder aus den Armenvierteln und Elendsquartieren an einem Tage in der Woche sammelte und betreute, war eine epochemachende, soziale Tat. In einem der ersten Jahresberichte Rautenbergs heißt es: „Eltern, welche mit der stumpfen Unempfindlichkeit ihre Kinder ohne allen


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