Johann Hinrich Wichern - Herold der Barmherzigkeit. Jürgen Ruszkowski
Читать онлайн книгу.gedrängt, nach Unterweisung zu fragen. Solche Weckung musste mit desto größerer Freude von uns wahrgenommen werden, und desto stärkere Hoffnungen bei uns entzünden, da sie keineswegs die Frucht einer Sonntagsschulmission, sondern einer freien Erscheinung war, welche die ins Leben tretende neue Anstalt ungezwungen begleitete.“
Hier war nun der rechte Platz für den jungen Kandidaten Wichern, seine brennende Sorge und Liebe einzusetzen für die bedrohten, verlassenen und gefährdeten Kinder seiner Vaterstadt, und das Amt eines Oberlehrers an dieser Schule zu übernehmen. Die Anstalt wuchs unter Wicherns Mitarbeit, ja Führung zu neuer Blüte; er gab ihr das Gesicht einer Musterschule, nach der alle späteren Sonntagsschulen sich im Blick auf Lehrplan, Klassen- und Familieneinteilung, Helferstab und Verbindung mit den Eltern ausrichteten. Vor allem trat Wichern auch dem Besuchsverein bei, den Rautenberg aus den Helfern der Sonntagsschule gebildet hatte mit dem Auftrag, die Elternhäuser der Sonntagsschulkinder regelmäßig zu besuchen, und mit den Vätern und Müttern, die oft in bitterem Elend, oft auch selbst in hoffnungsloser Verwahrlosung lebten, Kontakt zu suchen.
„Was hält uns, dass wir nicht zutreten und anfassen? Was hindert uns, hinzugehen in die Hütten des Unheils, den Jammer mit eigenen Augen zu sehen, und die armen Leute zu bitten und zu vermahnen, dass sie sich selbst, dass sie mindestens doch ihre unglücklichen Kinder retten lassen aus den Stricken des Todes“
Immer wieder hatte Rautenberg die Jahresversammlung des Sonntagsschulvereins wahrgenommen, um in der ihm eigenen Anschaulichkeit der Sprache die Not und Ausmaße der Verwahrlosung zu schildern. „Bibel, Kirche, Abendmahl, Sonntag, Gebet, Schule, Kinderzucht – ja, wer kann an dergleichen noch denken, wenn man abends nicht weiß, womit man morgens den Hunger stillen soll, den man sich schläft – Das ganze sittliche Leben der Leute schlägt sich nun nieder in die Leidenschaft des Magens, und ihr ganzer Himmel schrumpft zusammen in eine Semmel… Alle höhern geselligen Bande haben sie zerrissen oder fahren lassen. Für sie gibt’s keinerlei Ordnung mehr, nur Auflösung, Anarchie und Verwirrung… Vom Greise bis zum Kinde, das am Boden kriecht, geht jedes seinen eigenen Weg nach des bösen Herzens ‚Lust, – nur eine gemeinsame Aufgabe haben sie noch, nämlich so viel an jedem ist, Brot oder Geld herbeizuschaffen, und so viel Liebe noch, dass eins dem andern von seinem Vorrat abgibt, – und das Gegebene mit Flüchen würzt! Genug, sie führen ein Leben, wie die Raben auf unsern Türmen, die wir morgens auf den Raub hinausziehen und abends mehr oder minder gesättigt zurückkehren sehen. Sie halten Nomaden-Campagne mitten in unsern Gassen, und ihr Aufenthalt ist ein schauriges Zigeuner-Bivouac mitten in einer christlichen Stadt… O, fürwahr, Freunde, wenn der Geist christlicher Gemeinschaft und Zucht nicht besondere starke Dämme gegen diesen reißend wachsenden Strom des Unheils aufführt, so mögen wir zehn Schulen in jeder Gasse errichten, – ein großer Teil des aufkeimenden Geschlechts wird doch nicht viel besser sein, als wäre er aus den Hottentotten eingewandert.“
Immer kehrt dieser Gedanke wieder in einer Anschaulichkeit der Sprache und in einer Eindringlichkeit, die sich dem Hörer tief einprägen muss: „Was tun wir, um der himmelschreienden Verwahrlosung und dem zunehmenden Heidentum mitten in unserer so genannten christlichen Stadt zu wehren?“ Man dürfe sich damit nicht begnügen, die Kinder an den Sonntagen zwei Stunden zum Unterricht zusammenzurufen. Sollte die Arbeit an den Kindern Erfolg haben, so müsse man auch ihre Eltern gewinnen. Und nun klingt auf einer Jahresversammlung der St. Georger Sonntagsschule am 8. März 1830, fünf Jahre nach ihrer Begründung zum ersten Mal der Gedanke an, dass in der christlichen Stadt Hamburg eine innere Mission notwendig sei, um dem mehr als heidnischen Elend dieser Stadt zu wehren. „Können wir denn nicht helfen? Was hält uns, dass wir nicht zutreten und anfassen? Was hindert uns, gleich unsern Brüdern in London, Glasgow, New York und mehreren großen Städten Englands und Nordamerikas, Missionare zu werden für das mehr als heidnische Elend in unsern Mauern?
Was hindert uns, hineinzugehen in die Hütten des Unheils, an welche wir hier gedenken, den Jammer mit eignen Augen zu sehen und die armen Leute zu bitten und zu ermahnen, dass sie sich selbst, dass sie mindestens doch ihre unglücklichen Kinder retten lassen aus den Stricken des Todes?...
Kinderreiche Familien in Hamburgs Elendsvierteln
Wäre denn nicht manchen unter uns, die von der Liebe Christi zu den armen Brüdern durchdrungen sind, so viel Zeit gelassen, solch Amt der Barmherzigkeit auszurichten? Und wäre es denn so schwer, dafür einen förmlichen „Besuch-Verein“ zu bilden, damit dies schöne Liebeswerk nach einer gemeinsamen Ordnung ins Leben träte?“
In seinen Notizbüchern und in einem umfangreichen Manuskript „Hamburgs wahres und geheimes Volksleben“ hat der junge Wichern viel von der schreienden Armut und der trostlosen sittlichen Verwahrlosung festgehalten, die ihm auf seinen Besuchen im ‚Gängeviertel’ Hamburgs entgegentraten. Er fertigt Protokolle an, wobei er in Kontenbüchern auch die familiären und gesundheitlichen Zustände der Kinder vermerkt. Diese Aufzeichnungen suchen an Schärfe der Beobachtung und an der Hingabe am Einzelfall ihresgleichen. Hier findet man eine interessante Parallele zu dem Bild, das etwas später Friedrich Engels von der Lage der arbeitenden Klasse in England entwirft.
in Hamburgs ‚Gängeviertel’
Dieser von Rautenberg schon 1830, als Wichern noch in Göttingen studierte, begründete, und von dem jungen Wichern geführte Besuchsverein, stößt hinein in die entlegendsten Hinterhöfe der Armut und des Elends, in die dunkelsten Schlupfwinkel leiblicher und seelischer Verwahrlosung, in einen bisher nicht für möglich gehaltenen, von einem wohlbehüteten und wohlsituierten Bürgertum bisher nicht gekannten Abgrund sozialer Verlorenheit und menschlicher Verkommenheit. In einem späteren Bericht ist zu lesen: „Das ganze sittliche Leben der Leute schlägt sich nieder in die Leidenschaft des Magens, und ihr ganzer Himmel schrumpft zusammen in eine Semmel. Die rohe Befriedigung der niedersten Bedürfnisse ist’s allein, was sie noch suchen. Alles andere haben sie aufgegeben. Für sie gibt’s keinerlei Ordnung mehr in der Welt, nur Auflösung, Anarchie und Verwirrung. Innerhalb ihrer Kreise zerstören sie alle Ordnung völlig und am letzten Scheit lodert das Gesetzbuch häuslicher Zucht und Sitte auf. Vom Greise bis zum Kinde, das am Boden kriecht, geht jeder seinen eigenen Weg nach des bösen Herzens Lust. Genug, sie führen ein Leben, wie die Raben auf unseren Türmen.“ Wichern zog selbst durch die Elendsquartiere und Lasterhöhlen, und sah in die tiefsten Tiefen der Not und des Unglaubens hinein. Er gewann Eindrücke von der Verelendung und Gefährdung, Abstumpfung und Verbitterung der breiten Masse, die ihn nicht mehr losließen und für die Zukunft seinen Weg und sein Werk bestimmten und prägten.
Da ist das berüchtigte Gängeviertel in Hamburg, eine dunkle Ecke, ein muffiges Hinterhaus. „Durch den lichtlosen Flur muss man sich nach der Tür tasten. Hinter der Tür: nur trübes Licht im dunklen Raum. Schnapsflaschen auf schmutzigem Tisch. Und ein Geruch von Verwesung und Moder. Kartenspielende Männer. Eine Frau rekelt sich winselnd auf der wackligen Bettstelle, wirr hängen ihr die öligen Haare ungemacht um den Kopf. „Du versoffenes Aas!“ schimpft einer der Männer, dem selbst der Trunk und das Laster im Gesicht geschrieben stehen. I n einer Ecke ein Knäuel sich balgender Kinder. Gezänk um eine Kruste Brot. In den Augen der offene Hunger. Auf dem Tisch der Schnaps. Nur fluchende Männer und ein heulendes, betrunkenes Weib, das den Namen „Mutter“ kaum noch verdient. „Guten Tag – wir kommen von der Sonntagsschule – wir möchten Ihre Kinder abholen!“ Spottende Flüche und höhnisches Gelächter -- und dann die Antwort von einem der Männer: „Meinetwegen – Ihr könnt sie haben – alle! Haut ab – dann sind sie aus dem Wege.“ Und einer der Schnapsbrüder schreit: „Ihr könnt sie behalten – umsonst – Ihr könnt sie geschenkt bekommen.“ Beklommen trippeln die Kinder an der Seite des fremden freundlichen Mannes – es ist der junge Wichern – zur „Sonntagsschule“. Dort werden sie gewaschen und gespeist und lernen singen, beten, auch schreiben, rechnen und lesen, und lernen fröhlich und dankbar sein.
Freilich, viele Bemühungen, leiblich und geistlich zu helfen, sind oft wie Tropfen auf heißem Stein, und helfende Hände werden von den Verständnislosen in Verbitterung und mit Hohn zurückgewiesen: „Baut diesen Versunkenen