Johann Hinrich Wichern - Herold der Barmherzigkeit. Jürgen Ruszkowski

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Johann Hinrich Wichern - Herold der Barmherzigkeit - Jürgen Ruszkowski


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      Begegnung mit Pastor Rautenberg

      Hochbegabte Erweckungsprediger im besten Mannesalter, wie sein Konfirmator Pfarrer Wolters, dann Pfarrer John, vor allem Pastor Rautenberg von St. Georg, der mit ihm privat die hebräischen Psalmen liest, ihn aber auch in die Oper mitnimmt, bestärken seinen Entschluss, Theologie zu studieren.

      Johann Wilhelm Rautenberg, Sohn eines Moorfleether Bäckermeisters, drängte es schon immer zu den Kindern. Er wollte Lehrer werden oder Pastor. Durch das Gebot des Herzens und durch Gottes Führung wurde er beides. Vor den Toren und Ringmauern der Stadt Hamburg – heute mitten in ihrem Herzen, am Hauptbahnhof – lag die damalige Vorstadt St. Georg, zu der Zeit ein rasant wachsendes Elendsquartier. Zu ihr gehörten eine Fülle von Marsch- und Geestdörfern.

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      Als der junge Pastor Rautenberg 1820 hier sein Pfarramt antrat, umfasste seine Gemeinde etwa 8.000, als er 1865 dort starb, waren es 30.000 ‚Seelen’. Eine bunt zusammen gewürfelte Gemeinde von Brennern und Bleichern, Holzhändlern und Schiffern, Gärtnern und Bauern war ihm hier vor den Toren Hamburgs anvertraut.

      Aber die Wärme und Echtheit seines Glaubens, die Fülle und der Reichtum seiner Gedanken und nicht zuletzt die Kraft einer einzigartigen, liebedurchglühten Persönlichkeit riefen bald viele Glieder aus den Gemeinden der Innenstadt unter seine Kanzel. Sonntag für Sonntag konnte man in den Jahren 1821 bis 1833 seine Predigten kaufen. Danach fehlte ihm die Zeit, sie drucken zu lassen.

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      Rautenbergs Familie

      Schon seit seiner Schülerzeit fühlt sich der junge Wichern zu dieser markanten Predigergestalt Hamburgs hingezogen. Oft sitzt er unter der St. Georger Kanzel, und regelmäßig liest er Rautenbergs Predigten. Als der 18jährige zum Michaelisfest zu Hause den Inhalt einer Rautenberg-Predigt skizziert, die vom Wert der Kinderseele handelt, schrieb er in sein Tagebuch: „Oh, könnte die Menschenfischerei mein Handwerk bleiben mein Leben lang!“

      Bei seinen täglichen Besuchen treppauf, treppab und in seiner Tätigkeit als Schulinspektor erschreckte Rautenberg die kirchliche Unkenntnis von Erwachsenen und Kindern, die er vorher nicht geahnt hatte. Mehr als ein Zehntel aller Kinder konnte weder lesen noch schreiben noch rechnen. Nie hatten sie die zehn Gebote gelernt. Dies „mehr als heidnische Elend“ ließ dem treuen Seelsorger keine Ruhe. Als er durch einen Agenten der Londoner Central-Gesellschaft, Johann Gerhard Oncken (der einige Jahre in Schottland und England gelebt hatte und später die erste Baptistengemeinde in Hamburg – und auf dem europäischen Festland – gründete), von den englischen Schulvereinen und Sonntagsschulen hörte, gründete er im Jahre 1825 zusammen mit diesem die St. Georger Sonntagschule, wohl die erste einer landeskirchlichen Gemeinde in Deutschland.

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      Johann Gerhard Oncken

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      Oncken hatte bereits 1822 in Hafennähe einen Versuch mit einer solchen Sonntagschule gestartet, die nach englischer Weise „methodistisch“ auf die Kinder einwirkte, d. h. weniger Schule am Alltag war, mehr hingegen andächtiges Hören und fröhliches Singen. Leider brach dieser Versuch einer englischen Sonntagsschule 1830 plötzlich ab.

      Dr. Hans Luckey weist darauf hin, dass der Einfluss der Gedanken und Praktiken der britischen und nordamerikanischen Freikirchen auf Rautenberg und Wichern, aber auch auf andere Hamburger ‚erweckte’ einflussreiche Persönlichkeiten nicht zu unterschätzen ist. Rautenberg und später auch Wichern ließen sich durch diese angelsächsischen Vorbilder immer wieder zur Nachahmung ermuntern. Luckey: „Neben der puritanischen Bewegung von Ost nach West müssen wir auch einen Trend in umgekehrter Richtung von West nach Ost sehen. Wir meinen, die Erweckungen, die von Amerika über England, Schottland und Wales auf den europäischen Kontinent übergriffen und bis nach Südrussland unter Mennoniten und Stundisten wirkten.“

      Unter allen Hamburger Pastoren hatte sich Rautenberg als erster angesichts der erschreckenden Verwilderung unter dem großstädtischen Proletariat zu einer wirklich sozialen Tat aufgerafft.

      Im Januar 1825 wurde sie mit 30 Jungen und 30 Mädchen feierlich eröffnet. Nach vier Jahren waren es 123 Knaben und 157 Mädchen, die in kleinen Klassen von 10 Gehilfen und 12 Gehilfinnen unter Leitung eines Oberlehrers sonntäglich von ein bis drei Uhr unterrichtet wurden. Als Ziel setzte sich die Sonntagsschule, „an den Kindern das zu tun, was die Väter und Mütter derselben versäumt haben. Sie sollen aus ihr mitbringen fertiges Lesen, die fünf Hauptstücke des Kleinen Katechismus und manch schöne Bibelsprüche und Liedverse im Gedächtnis, auch wohl schon im Herzen“. Hier liegen die Anfänge unseres heutigen Kindergottesdienstes. Eine große Zahl der Kinder und Jugendlichen konnten jedoch weder lesen noch schreiben, mussten also erst Deutschunterricht empfangen, wenn sie die Bibel und die Sonntagslektion mit Gewinn zur Kenntnis nehmen sollten. Die Schule am Sonntag reichte dazu nicht aus. Man versuchte, die jungen Menschen auch am Wochentag zu fördern, stieß aber dann auf den Widerstand der Eltern, die an ihren Kindern Verdienst oder Hilfe haben mussten oder wollten. Dass aber bedeutete, dass an die Helfer und Helferinnen der Schule am Sonntag und am Wochentag auch geistig und pädagogisch weit höhere Anforderungen gestellt wurden als in einer schönen Stunde, wo man den Kindern nur vom ‚lieben Heiland’ erzählte. Der erste Oberlehrer der St. Georger Sonntagsschule war denn auch Lehrer von Beruf.

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      Wicherns Theologiestudium

      Dank seines Fleißes und dank großzügiger Mentoren aus „erweckten“ gut gestellten Hamburger Familien, an vorderster Stelle Senator Martin Hieronymus Hudtwalcker und Professor Hartmann, die vom jungen Wichern viel für eine Neubelebung der Hamburger Kirche erwarten – und einer jährliche Rente durch Amalie Sieveking,

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      kann er sich die Voraussetzungen und ein Stipendium für das Theologiestudium zunächst für drei Semester in Göttingen und später in Berlin sichern, wo er mit allen Strömungen der damaligen Theologie in Berührung kommt.

      Er schreibt in sein Tagebuch: Wenn man das Studium beginnt, stehen Gemüt und Verstand noch neben- und oft gegeneinander, und beide fordern ihr Recht. Je mehr sie zur Kraft kommen, umso gewaltiger wird das Ringen von beiden, und erst wenn sie versöhnt sind und zwischen ihnen kein Misston ist, steht der Theologe mit freiem Atem da.

      Schon oft habe ich während meiner Studien die Erfahrung gemacht, dass nur das mutig erfasste Leben des Geistes vor vernichtenden Zweifeln zu schützen imstande ist, und wie der auf Erlebung begründete und durch Gebet befestigte Glaube mächtiger ist, als dass eine Waffe der Wissenschaft ihn niederreißen könnte.

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      In Göttingen beeinflusst ihn besonders Professor Lücke, für den ihm bereits in Hamburg von Neander ein Empfehlungsschreiben mitgegeben worden war.

      Nach dem Tode des Lehrers Professor Lücke Schreibt er: Ich habe ihm als meinem Lehrer viel zu danken, namentlich zweierlei: das gewissenhafte Forschen in der Schrift, das Wirken und Halten aufs Wort, nicht im Allgemeinen, sondern besonders wie es geschrieben steht, und dann die innere Freiheit im Urteil über verschiedene voneinander abweichende theologische, dem Glauben ergebene Richtungen.

      Das Alte Testament war mir lange ein verschlossenes Buch; es fehlte mir die Freiheit des Geistes, es unbefangen zu lesen. Befangen und engbrüstig hatte mich das Lesen mancher Bücher gemacht, die gewiss nicht allein historischen Wert haben, jedoch einem, der mit Unterwerfung und dem tiefen Bewusstsein


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