Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe. Jack London

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Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe - Jack London


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auf den Fersen, mit schwingenden Schultern und unbewußt so breitbeinig, als höbe und senkte sich der ebene Boden wie Meereswogen. Die großen Räume schienen zu eng für seinen wiegenden Gang, und heimlich hatte er furchtbare Angst, daß seine breiten Schultern an den Türrahmen stoßen oder die Nippes von dem niedrigen Kamin fegen würden. Er schwankte zwischen den verschiedenen Dingen hin und her und vervielfältigte dadurch die Gefahren, die in Wirklichkeit nur in seiner Einbildung bestanden. Zwischen einem Flügel und einem hoch mit Büchern beladenen Tisch in der Mitte des Zimmers wäre Platz genug für ein halbes Dutzend Männer nebeneinander gewesen, aber er wagte den Weg nur mit Zittern und Zagen. Seine schweren Arme hingen schlaff an den Seiten herab. Er wußte nicht, was er mit diesen Armen und Händen anfangen sollte, und als seine erregte Phantasie ihm vorspiegelte, daß er die Bücher auf dem Tische umwerfen könnte, machte er wie ein scheues Pferd einen Satz nach der anderen Seite und entging mit Mühe und Not einem Zusammenstoß mit dem Klaviersessel. Er beobachtete den leichten Schritt des andern vor ihm, und zum erstenmal wurde ihm klar, daß sein Gang sich von dem anderer Leute unterschied. Einen Augenblick durchfuhr ihn schmerzliche Scham über seine eigene Schwerfälligkeit. Der Schweiß brach in kleinen Tröpfchen auf seiner Stirn aus, er blieb stehen und wischte sich mit dem Taschentuch über das sonnenverbrannte Gesicht.

      »Warten Sie ein bißchen, Arthur«, sagte er, indem er seine Angst hinter einer scherzhaften Bemerkung zu verbergen suchte. »Das ist zuviel auf einmal für Ihren ergebenen Diener. Sie müssen mir Zeit lassen, mal Luft zu schöpfen. Sie wissen, daß ich nicht mitkommen wollte, und ich glaube, Ihre Familie wird auch nicht gerade darauf brennen, mich kennenzulernen.«

      »Aber nicht doch«, lautete die beruhigende Antwort. »Ihnen braucht nicht bange vor uns zu sein. Wir sind ganz einfache Menschen. Hallo, da ist ja ein Brief für mich!« Er trat an den Tisch, riß den Umschlag auf und begann zu lesen, so bot er dem Fremden Gelegenheit, sich zu sammeln. Und der Gast begriff und war dankbar. Er besaß selbst die Gabe des Verstehens, des Mitfühlens, und auch jetzt wirkte sie unter seiner äußeren Erregung fort. Er trocknete sich die Stirn und blickte ruhiger umher, wenn auch in seinen Augen der Ausdruck des wilden Tieres lag, das die Falle fürchtet. Er befand sich in einer unbekannten Umgebung, ängstigte sich vor dem, was da geschehen mochte, und wußte nicht, wie er sich benehmen sollte; dabei war ihm seine Ungeschicklichkeit wohl bewußt, und er fürchtete, Geist und Seele wären ebenso gelähmt wie sein Körper. Er war überaus empfindlich und hoffnungslos befangen; der belustigte Blick, den der andere ihm heimlich über den Rand des Briefes zuwarf, brannte wie ein Dolchstoß in ihm. Er ließ sich jedoch nichts anmerken, denn unter anderen Dingen hatte er auch Selbstbeherrschung gelernt. Aber der Dolchstoß hatte seinen Stolz getroffen. Er verwünschte sich, weil er gekommen war, und beschloß gleichzeitig, die nun einmal begonnene Sache auf jeden Fall durchzuführen. Seine Züge wurden härter, und ein streitbares Feuer blitzte in seinen Augen. Er sah sich viel unbefangener um und fühlte mit seiner schnellen Auffassungsgabe, wie jede Einzelheit in dem schönen Raum sich seinem Bewußtsein einprägte. Seine Augen standen weit auseinander; nichts innerhalb ihres Gesichtskreises entging ihm; und wie sie die Schönheit, die sie sahen, tranken, schwand der kampfbereite Ausdruck in ihnen und wich einer warmen Glut. Er war empfänglich für Schönheit, und hier gab es genug aufzunehmen.

      Ein Ölgemälde fesselte ihn. Schwere Brandung donnerte krachend gegen einen vorspringenden Felsen; drohende Sturmwolken bedeckten den Himmel, und vor der Brandung lag ein Lotsenschoner mit gerefften Segeln, holte gerade über, so daß man jede Einzelheit auf seinem Deck sah, und wurde von den Wellen in ein wolkiges Abendrot gehoben. Das war Schönheit, und er fühlte sich unwiderstehlich davon angezogen. Er vergaß seinen linkischen Gang und trat ganz dicht an das Gemälde heran. Da schwand die Schönheit von der Leinwand. Sein Gesicht zeigte Bestürzung. Er starrte auf etwas, das scheinbar nichts als eine nachlässige Schmiererei war. Dann trat er wieder zurück. Sofort kehrte alle Schönheit auf die Leinwand zurück. Ein Trickbild, dachte er und wandte sich ab, fand aber inmitten der vielen Eindrücke, die auf ihn einstürmten, doch Zeit, sich zu empören, daß man soviel Schönheit auf ein Trickbild verwandt hatte. Von Malerei verstand er nichts. Er war zwischen Farbdrucken und Lithographien aufgewachsen, die in der Nähe wie aus der Ferne immer gleich scharf und deutlich wirkten. Zwar hatte er in Schaufenstern Ölgemälde gesehen, aber die Scheibe hatte ihn gehindert, dicht an sie heranzutreten.

      Er blickte sich nach seinem Freunde um, der immer noch seinen Brief las, und sah die Bücher auf dem Tisch. In seinen Augen sprang eine träumerische Sehnsucht auf, das drängende Verlangen eines Hungrigen, der etwas Eßbares sieht. Mit einem einzigen impulsiven Schritt und einem Ruck der Schultern von rechts nach links erreichte er den Tisch und begann zärtlich über die Bücher zu streichen. Er betrachtete Titel und Verfassernamen, las Bruchstücke ihres Inhalts, liebkoste die Bände immer wieder mit Augen und Händen und erkannte ein Buch, das er gelesen hatte; die übrigen Bücher und Schriftsteller waren ihm fremd. Ein Band Swinburne fiel ihm plötzlich in die Hand. Er begann darin zu lesen und vergaß bald ganz, wo er sich befand. Sein Gesicht leuchtete. Zweimal blätterte er zurück, um den Namen des Verfassers zu sehen. Swinburne! Den Namen wollte er sich merken. Der Mann hatte Augen im Kopf und hatte wahrhaftig Farben und strahlendes Licht gesehen. Aber wer war Swinburne? War er seit hundert Jahren tot wie die meisten Dichter? Oder lebte und schrieb er noch? Er blätterte zur Titelseite zurück. Ja, er hatte noch andere Bücher geschrieben. Schön, das erste, was er morgen früh tun wollte, war, daß er in die Volksbücherei ging und etwas von dem, was Swinburne geschrieben hatte, zu bekommen suchte. Dann kehrte er wieder zu dem Inhalt des Buches zurück und vergaß alles um sich her. Er bemerkte nicht, daß eine junge Dame ins Zimmer trat. Das erste, dessen er sich bewußt wurde, war die Stimme Arthurs, die sagte:

      »Ruth, das ist Herr Eden.«

      Er schloß das Buch schnell über dem Zeigefinger, aber noch ehe er sich umwandte, fühlte er sich schon von einem neuen Eindruck durchbebt, dessen Ursache nicht das junge Mädchen, sondern die Äußerung ihres Bruders war. Sein muskulöser Körper barg nämlich höchste Empfindsamkeit. Bei dem geringsten Reiz, den die Außenwelt auf sein Bewußtsein ausübte, loderten seine Gedanken und Gefühle wie Flammen auf. Er war ungewöhnlich empfänglich und reagierte schnell, während seine Phantasie, die stets mit Hochdruck arbeitete, sich immer bemühte, Gleichheiten und Unterschiede festzustellen. »Herr Eden« – das hatte jetzt einen so starken Eindruck auf ihn gemacht – er, den man sein ganzes Leben lang nur »Eden«, »Martin Eden« oder einfach »Martin« genannt hatte! Und jetzt »Herr!« Das war wirklich ein weiter Schritt vorwärts, sagte er sich. Sein Geist schien augenblicklich zu einer ungeheuren Camera obscura zu werden, in der eine endlose Reihe von Bildern aus seinem Leben auftauchte, Bilder von Feuerungsräumen und Mannschaftslogis, von Lagern und Küsten, Gefängnissen und Kneipen, Hospitälern und Elendsvierteln, wobei das Bindeglied eben die Art bildete, wie er in den verschiedenen Situationen angeredet worden war.

      Und dann drehte er sich um und sah das Mädchen an. Bei ihrem Anblick verschwanden die Schattenbilder in seinem Kopfe mit einem Schlage. Sie war ein blasses, ätherisches Geschöpf mit großen, träumerischen, blauen Augen und einer Flut goldenen Haares. Von ihrer Kleidung wußte er nichts, als daß sie ebenso wunderbar anzusehen war. Er verglich sie mit einer blaßgoldenen Blume auf schlankem Stiel. Nein, sie war eine Elfe, ein höheres Wesen, eine Gottheit; solche erhabene Schönheit war nicht von dieser Welt. Oder hatten vielleicht die Bücher recht, und es gab viele ihrer Art in den oberen Klassen? Sie hätte gut von diesem Swinburne besungen werden können. Vielleicht hatte er an eine wie sie gedacht, als er in dem Buch, das dort auf dem Tische lag, jenes Mädchen Iseult schilderte. Dies ganze Übermaß von Sinneseindrücken, Gefühlen und Gedanken bestürmte ihn in einem Augenblick. Die wirklichen Dinge, zwischen denen er sich bewegte, geboten ihnen keinen Halt. Er sah, wie sie den Arm ausstreckte und ihm gerade in die Augen blickte, wobei sie ihm so unbefangen die Hand drückte, als wäre sie ein Mann. Die Frauen, die er bisher kannte, hatten solchen Händedruck nicht. Die meisten von ihnen gaben einem überhaupt nicht die Hand. Eine Flut von Gedankenverbindungen und Erinnerungen daran, wie er die Bekanntschaft von Frauen gemacht hatte, schlug über seinem Bewußtsein zusammen und drohte, es unter sich zu begraben. Aber er schüttelte sie ab und betrachtete das Mädchen. Noch nie hatte er ein solches weibliches Wesen gesehen. Die Frauen, die er gekannt hatte! Sofort reihten sich all diese Frauen zu beiden Seiten neben ihr auf. Eine ewig währende Sekunde stand er mitten in einer Bildergalerie, deren


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