Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe. Jack London

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Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe - Jack London


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Er sah die blassen, kränklichen Gesichter der Fabrikarbeiterinnen und die albernen, lauten Mädchen südlich der Market Street, Mädchen aus den Viehdistrikten und dunkelhäutige, zigarettenrauchende Mexikanerinnen; und diese wurden wieder verdrängt von puppenhaften Japanerinnen, die auf Holzsohlen geziert einhertrippelten, von Eurasierinnen, deren feine Züge vom Verfall der Rasse gekennzeichnet waren, von vollblütigen, blumengeschmückten, braunhäutigen Südseeinsulanerinnen. Sie alle wurden ausgelöscht durch ein groteskes und furchtbares Nachtgezücht – schlampige, watschelnde Geschöpfe aus den Straßen Whitechapels, schnapsgedunsene Hexen aus den Bordells, den ganzen großen Höhlenschwarm von Harpyen, unflätig und gemein, Ungeheuer in Weibsgestalt, die sich auf den Seemann stürzen, der Abschaum der Häfen, der schlammige Bodensatz der menschlichen Tiefen.

      »Wollen Sie nicht Platz nehmen, Herr Eden?« sagte das Mädchen. »Seit Arthur uns von Ihnen erzählte, habe ich mich so darauf gefreut, Sie kennenzulernen. Es war tapfer von Ihnen…«

      Er machte eine abwehrende Handbewegung und murmelte, das, was er getan habe, sei nicht der Rede wert. Jeder andere hätte genauso gehandelt. Sie bemerkte, daß seine Hand von frischen, in der Heilung begriffenen Schrammen bedeckt war, und ein Blick auf die andere, herabhängende Hand zeigte ihr, daß diese ebenso zugerichtet war. Ihr rasches, prüfendes Auge entdeckte auch eine Narbe an seiner Wange, eine zweite, die unter dem Stirnhaar hervorsah, und eine dritte am Halse, wo sie unter dem steifen Kragen verschwand. Sie unterdrückte ein Lächeln beim Anblick des roten Strichs, den der Kragen in die sonnenverbrannte Haut gerieben hatte. Er war offenbar nicht gewohnt, steife Kragen zu tragen. Ihr Blick schweifte auch über seine Kleidung und bemerkte den gewöhnlichen, unschönen Schnitt, den Rock, der sich an den Schultern beutelte, und die Falten in den Ärmeln, die seine mächtigen Muskeln ahnen ließen.

      Während er abwinkte und murmelte, daß er nichts Besonderes getan hätte, folgte er ihrer Aufforderung, sich zu setzen. Er fand noch Zeit, die Leichtigkeit zu bewundern, mit der sie sich setzte, dann taumelte er nieder auf einen Stuhl, der dem ihren gegenüberstand, überwältigt von dem Bewußtsein seiner eigenen Ungeschicklichkeit. Das war ihm etwas ganz Neues. Sein ganzes Leben lang, bis zu diesem Tage, hatte er nicht darauf geachtet, ob er gewandt oder linkisch war. Er war gar nicht auf derartige Gedanken gekommen. Er setzte sich vorsichtig auf die Stuhlkante und wußte nicht, wo er mit seinen Händen bleiben sollte. Wohin er sie auch steckte, waren sie ihm im Wege. Arthur verließ das Zimmer, und Martin Eden sah ihm mit sehnsüchtigen Blicken nach. Allein im Raum mit diesem blassen, elfenhaften Mädchen kam er sich ganz verloren vor. Hier gab es keinen Kellner, bei dem er sich etwas zu trinken bestellen, keinen Jungen, den er nach einer Kanne Bier um die Ecke schicken konnte, um durch einen gemeinsamen Trunk die Grundlage für eine freundschaftliche Verständigung zu schaffen.

      »Sie haben eine Narbe am Hals, Herr Eden«, sagte das Mädchen. »Wie haben Sie die bekommen? Das ist sicher ein ganzes Abenteuer.«

      »Ein mexikanisches Messer, Fräulein«, antwortete er, indem er sich räusperte und die trockenen Lippen befeuchtete. »Es war eben eine Schlägerei. Als ich ihm das Messer weggenommen hatte, versuchte er mir die Nase abzubeißen.«

      Er sagte das ganz nüchtern, aber vor seinem Auge stand das farbenprächtige Bild jener heißen, sternenklaren Nacht in Salina Cruz, der weiße Küstenstreifen, die Lichter der Zuckerdampfer im Hafen, die Stimmen der betrunkenen Matrosen in der Ferne, die hastenden Stauerleute, die flammende Leidenschaft im Gesicht des Mexikaners, das Funkeln seiner Raubtieraugen im Sternenlicht, der Stich in den Hals, das hervorschießende Blut, die schreiende Menge, die beiden Körper – seiner und der des Mexikaners –, wie sie, ineinander verbissen, wütend über den Sand rollten, und von weit her irgendwo das weiche Klimpern einer Gitarre. Das war das Bild, das er sah, und die Erinnerung durchschauerte ihn, während er darüber nachdachte, ob der Mann, der den Lotsenkutter an der Wand gemalt hatte, auch das malen könnte. Der weiße Strand, die Sterne, die Lichter auf den Zuckerdampfern müßten prachtvoll wirken, dachte er, und dazu mitten auf dem Sand die dunkle Gruppe, die die Kämpfenden umgab. Das Messer verdiente auch seinen Platz auf dem Gemälde, entschied er, und es würde großartig aussehen, wie es im Sternenlicht aufblitzte. Aber von alledem war in seinen Worten nicht das mindeste zu spüren. »Er versuchte, mir die Nase abzubeißen«, schloß er.

      »Oh!« sagte das junge Mädchen mit leiser, ferner Stimme, und er bemerkte den erschrockenen Ausdruck in ihren beweglichen Zügen.

      Er erschrak selbst, und eine schwache Röte der Verlegenheit stieg ihm in die sonnenbraunen Wangen, aber er hatte das Gefühl, daß sie so stark brannten, wie wenn er vor der offenen Ofentür im Feuerungsraum gestanden hätte. Derartig schmutzige Dinge wie Messerstechereien waren offenbar kein passender Unterhaltungsgegenstand für eine Dame. In den Büchern sprachen Menschen ihres Standes nicht über derlei – wußten vielleicht gar nichts davon.

      Eine kurze Pause trat in dem Gespräch ein, das sie gerade in Gang zu setzen versucht hatten. Dann fragte sie nach der Narbe auf seiner Wange. Er merkte, daß sie sich bemühte, so zu sprechen, wie er zu sprechen gewohnt war, und er beschloß, in ihrer Sprache zu antworten.

      »Das war nur ein Unfall«, sagte er und legte die Hand an die Wange. »Eines Nachts, bei stillem Wetter und schwerer See, sprang die Großbaumtopnant und gleich darauf die Talje. Die Topnant war aus Stahldraht und fuhr wie eine Schlange hin und her. Die ganze Wache versuchte, sie einzufangen, und ich kriegte beim Zupacken mächtig eins in die Fresse.«

      »Oh!« sagte sie, diesmal in einem Ton, als hätte sie alles verstanden, obwohl seine Sprache das reine Griechisch für sie gewesen war und sie gern gewußt hätte, was eine Topnant war.

      »Der Mann, der Swineburne«, begann er mit einem Versuch, seinen Plan zur Ausführung zu bringen.

      »Wer?«

      »Swineburne«, wiederholte er mit derselben falschen Aussprache, »der Dichter.«

      »Swinburne«, berichtigte sie.

      »Ja, den meine ich«, stammelte er, wieder mit heißen Wangen. »Wann ist er gestorben?«

      »Wie bitte? Ich habe nie gehört, daß er tot ist!« Sie betrachtete ihn neugierig. »Wo haben Sie seine Bekanntschaft gemacht?«

      »Ich habe ihn nie gesehen«, lautete die Antwort. »Aber ich habe einige von seinen Gedichten in dem Buch dort auf dem Tisch gelesen, ehe Sie hereinkamen. Wie finden Sie seine Gedichte?«

      Und jetzt begann sie, schnell und leicht über den Gegenstand zu sprechen, den er selbst gewählt hatte. Er fühlte sich wohler und setzte sich etwas bequemer auf den Stuhle stützte sich aber immer noch fest mit den Armen auf die Lehnen, als fürchtete er, daß der Sitz unter ihm wegrutschen und er zu Boden fallen könnte. Es war ihm geglückt, sie in ihrer eigenen Sprache zum Sprechen zu bringen. Und während sie redete, strengte er sich an, ihr zu folgen, verwundert über all das Wissen, das in dem reizenden Köpfchen steckte und sog die blasse Schönheit ihres Gesichts gierig in sich ein. Er folgte ihr auch obwohl ihn unbekannte Worte, die leicht von ihren Lippen glitten, und kritische Bemerkungen und Gedankengänge störten, die ihm fremd waren, die aber doch seinen Geist reizten und entflammten. Hier war geistiges Leben, dachte er, und hier war Schönheit, eine warme, wunderbare Schönheit, wie er sie sich nie hatte träumen lassen. Er vergaß sich und starrte sie mit hungrigen Augen an. Hier war etwas, für das es sich lohnte, zu leben, vorwärtszukommen, zu kämpfen – ja, und zu sterben. Die Bücher sprachen die Wahrheit. Es gab solche Frauen in der Welt. Sie war eine von ihnen. Sie verlieh seiner Phantasie Schwingen, und große, leuchtende Bilder erschienen vor seinem Blick, undeutliche, riesige Bilder, die Liebe, Romantik und Heldentum um einer Frau willen zeigten – um einer blassen Frau, einer goldenen Blume willen. Und hinter der zitternden, schwingenden Vision sah er wie hinter einer Fata Morgana das lebendige Weib, das hier saß und von Literatur und Kunst sprach. Er hörte auch zu, aber er blickte sie dabei an, ohne sich bewußt zu sein, wie starr sein Blick war, und daß alles, was seine Natur an Männlichkeit besaß, ihm aus den Augen leuchtete. Sie aber, die wenig von der Welt der Männer wußte, weil sie eine Frau war, sie fühlte deutlich seine brennenden Augen. Sie war noch nie auf diese Weise angesehen worden, und es machte sie verlegen. Sie stockte und suchte nach Worten. Sie verlor vollkommen den Faden. Er erschreckte sie, und doch wurde sie wieder von einer seltsamen Freude


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