Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe. Jack London

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Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe - Jack London


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wie ein feuriger Trank, der seine Gefühle zu ungewohnter Kühnheit anspornte, wie ein Rausch, der seine Phantasie ergriff und sie bis in die Wolken hob. Musik verjagte die schmutzige Wirklichkeit, erfüllte sein Gemüt mit Schönheit, ließ die Romantik frei und gab ihr Schwingen. Er verstand die Musik nicht, die sie spielte. Sie war ganz anders als die Musik, die er kannte: das hämmernde Klavier und die lärmenden Blechkapellen in den Tanzlokalen. Aber er hätte durch die Bücher eine Vorstellung von dieser Art Musik, und er nahm ihr Spiel gläubig auf, wartete anfangs geduldig auf die hüpfenden Takte eines bestimmten einfachen Rhythmus und wurde ganz verwirrt, weil diese Maße so oft wechselten. Gerade wenn er ihre Melodie erfaßt hatte und seine Phantasie harmonisch zum Flug ansetzte, verschwanden sie immer wieder in einem wirren Chaos von Tönen, die ihm nichts bedeuteten, und seine Phantasie stürzte schwer zur Erde zurück.

      Plötzlich fiel ihm ein, daß dies ein bewußter Versuch sein mochte, ihn zurückzuweisen. Er fühlte ihre Abwehr und bemühte sich, die Botschaft zu erraten, die ihre Hände durch die Tasten mitteilten. Dann aber schob er diesen Gedanken als unwürdig und unmöglich von sich und überließ sich freier der Musik. Wieder überkam ihn das alte Entzücken. Seine Füße waren nicht mehr erdgebunden, sein Fleisch wurde Geist. Vor und hinter seinem Blick entzündete sich ein mächtiger Strahlenkranz. Er vergaß seine Umgebung und erhob sich im Fluge über eine Welt, die ihm so teuer war. In den Traumbildern, die seiner inneren Schau zuströmten, mischte sich Bekanntes mit Unbekanntem. Er erreichte fremde Häfen in sonnigen Ländern und betrat Marktplätze barbarischer Völker, die kein Mensch je gesehen hatte. Er konnte den Duft der Gewürzinseln spüren, wie er ihn in warmen, stillen Nächten auf See gespürt hatte, er kreuzte gegen den Südostpassat der langen Tropentage, den Passat, der die Palmenwedel der Koralleninseln in das türkisblaue Meer hinter ihm versinken und wieder auftauchen ließ. Diese Bilder kamen und schwanden mit der Schnelligkeit eines Gedankens. In einem Augenblick saß er rittlings auf einem Präriehengst und flog durch das bunte Wüstenland mit seinen Märchenfarben; im nächsten starrte er durch Hitzeflimmer in die bleiche Gruft des Totentals oder ruderte über ein halb zugefrorenes Weltmeer, aus dem sich große Eisinseln hoben und in der Sonne glitzerten. Er lag am Ufer einer Koralleninsel, deren Kokospalmen bis zu der sanftrauschenden Brandung hinunterwuchsen. Auf dem Rumpf eines alten Wracks brannten blaue Flammen, und in ihrem Schimmer tanzten die Hulatänzer zu den fremdartigen Liebesrufen der Sänger, den klimpernden Ukuleles und rasselnden Tom-Toms. Es war eine sinnenerregende tropische Nacht. Im Hintergrund hob sich die dunkle Silhouette eines vulkanischen Kraters vom Sternenhimmel ab. Am Himmel stand ein blasser Halbmond, und tief am Horizont flammte das Kreuz des Südens.

      Er war wie eine Harfe; alles Leben, das er bisher gekannt hatte und das sein Bewußtsein bildete, stellte die Saiten der Harfe dar, und die Flut der Musik war der Wind, der gegen die Saiten schlug und sie unter Erinnerungen und Träumen schwingen ließ. Er fühlte nicht nur. Seine Empfindung nahm Form, Farbe und Leuchtkraft an und verkörperte auf erhabene, zauberische Weise, was seine Phantasie wagte. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wurden eins, und er wanderte beschwingt durch die weite, glühende Welt, durch Abenteuer und edle Taten, hin zu ihr – ja, und zusammen mit ihr, die er gewinnen wollte; er schlang seinen Arm um sie und trug sie im Fluge durch das Königreich seines Geistes.

      Und als sie ihm über die Schulter hinweg einen verstohlenen Blick zuwarf, sah sie etwas von alledem in seinem Gesicht. Es war ein verklärtes Gesicht mit großen, glänzenden Augen, die durch den Schleier der Töne blickten und dahinter den klopfenden Pulsschlag des Lebens und die mächtigen Phantome des Geistes sahen. Sie erschrak. Der ungehobelte, verlegene Bursche war verschwunden. Die schlechtsitzende Kleidung, die zerschrammten Hände und das sonnverbrannte Gesicht waren noch da, aber nur wie ein Kerkergitter, durch das sie eine große Seele ausschauen sah, stumm und stammelnd, weil die Lippen unfähig waren, ihr Ausdruck zu verleihen. Sie erblickte das alles nur einen flüchtigen Augenblick; dann sah sie wieder den linkischen Burschen und lachte über ihren wunderlichen Einfall. Aber den Eindruck dieses flüchtigen Bildes konnte sie nicht abschütteln, und als der Zeitpunkt kam, da er sich, stolpernd und unsicher, verabschiedete, lieh sie ihm den Band Swinburne, in dem er geblättert hatte, und einen Band Browning – sie hörte gerade Vorlesungen über Browning. Wie er errötend dastand und seinen Dank stammelte, schien er ihr ein solcher Knabe, daß eine Woge mütterlichen Mitleids in ihr aufwallte. Sie dachte weder an den linkischen Burschen noch an die gefangene Seele oder an den Mann, der sie mit all seiner Männlichkeit angestarrt, der sie entzückt und geängstigt hatte. Sie sah nur einen Knaben, der ihre Hand mit einer Hand drückte, die so arbeitshart war, daß sie sich wie ein Reibeisen anfühlte, und ihr die Haut kratzte, einen Knaben, der stockend hervorstieß:

      »Die größte Stunde meines Lebens. Wissen Sie, ich bin so was nicht gewohnt…« Er sah sich hilflos um. »Leute und Häuser wie dies. Das ist mir alles neu, und es gefällt mir.«

      »Dann besuchen Sie uns hoffentlich wieder«, antwortete sie, als er ihren Brüdern gute Nacht sagte.

      Er setzte die Mütze auf, stürzte verzweifelt zur Tür hinaus und war verschwunden.

      »Nun, wie findest du ihn?« fragte Arthur.

      »Er ist äußerst interessant – ein frischer Luftzug«, erwiderte sie. »Wie alt ist er?«

      »Zwanzig – fast einundzwanzig. Ich fragte ihn heute nachmittag. Ich hätte ihn nicht für so jung gehalten.« Und ich bin drei Jahre älter, dachte sie, während sie ihren Brüdern den Gutenachtkuß gab.

      Drittes Kapitel

      Während Martin Eden die Treppe hinunterging, fuhr seine Hand in die Rocktasche. Sie kam mit einem Stück braunem Reispapier und einer Prise mexikanischem Tabak wieder zum Vorschein, woraus er sich gewandt eine Zigarette rollte. Er sog den ersten Zug tief in die Lunge ein und atmete langsam den Rauch aus. »Bei Gott!« sagte er laut, mit Ehrfurcht und Staunen in der Stimme. »Bei Gott!« wiederholte er. Und noch einmal murmelte er: »Bei Gott!« Dann hob er die Hand zum Kragen, riß ihn ab und stopfte ihn in die Tasche. Ein kalter Staubregen fiel, aber er entblößte den Kopf und knöpfte sich die Weste auf, während er mit einer herrlichen Sorglosigkeit durch die Straßen schlenderte. Er bemerkte kaum, daß es regnete. Er war in Verzückung, träumte herrliche Träume und genoß in Gedanken noch einmal das soeben Erlebte.

      Endlich hatte er die Frau getroffen – die Frau, an die er bisher so wenig gedacht hatte, weil er nicht dazu neigte, an Frauen zu denken, wenn er auch unbestimmt erwartet hatte, ihr einmal in der Zukunft zu begegnen. Er hatte neben ihr bei Tisch gesessen. Er hatte ihre Hand in der seinen gefühlt, hatte ihr in die Augen geblickt und den Schimmer einer schönen Seele gesehen – die doch nicht schöner war als die Augen, aus denen sie leuchtete, oder der Körper, der ihr Form und Ausdruck gab. Er dachte nicht mit Begehren an ihren Körper, was neu für ihn war, denn bei den Frauen, die er bisher gekannt, hatte er an nichts anderes gedacht. Aber ihr Leib war nicht solcher Art. Er dachte ihn sich nicht als Leib, den Übeln und Schwächen des Fleisches unterworfen. Ihr Körper war mehr als ein Gewand ihres Geistes, er war eine Ausstrahlung ihrer Seele, eine reine, anmutige Kristallisierung des Göttlichen in ihrem Wesen. Dies Gefühl des Göttlichen überraschte ihn. Es scheuchte ihn aus seinen Träumen und zwang ihn zu ernstem Nachdenken. Nie zuvor hatte er auch nur in Gedanken einen Hauch des Göttlichen empfunden, nie hatte er an das Göttliche geglaubt. Er war stets Freidenker gewesen und hatte gutmütig über die »Himmelslotsen« und ihr Gerede von der Unsterblichkeit der Seele gespottet. Ein Leben nach dem Tode hatte er geleugnet; es gab nur das Jetzt und Hier und dann ewige Finsternis. Was er aber in ihren Augen gesehen hatte, war die Seele – die unsterbliche Seele, die nie erlöschen konnte. Kein Mann, den er bisher gekannt hatte, und keine Frau hatte ihm je eine Botschaft von der Unsterblichkeit gebracht. Sie aber hatte es getan. Sie hatte sie ihm zugeflüstert im ersten Augenblick, als sie ihn anschaute. Während er durch die Straßen schritt, schwebte ihr Gesicht vor ihm, blaß und ernst, süß und empfindsam, mit einem Lächeln, so mitfühlend und sanft, wie nur die seligen Geister lächeln können, und so rein, wie er es nie für möglich gehalten hätte. Ihre Reinheit traf ihn wie ein Schlag. Sie erschreckte ihn. Er hatte Gut und Böse gekannt, aber an Reinheit als Wesensausdruck hatte er nie gedacht. Und jetzt erkannte er an ihr, daß Reinheit der höchste Grad von Güte und Unschuld war, deren Summe das ewige Leben ausmachte.


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