Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe. Jack London

Читать онлайн книгу.

Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe - Jack London


Скачать книгу
war ein Wunder und ein phantastisches Spiel des Schicksals, das ihm an diesem Abend ermöglicht hatte, sie zu sehen, mit ihr zusammen zu sein, mit ihr zu sprechen. Es war Zufall, nicht sein Verdienst. Er verdiente ein solches Glück nicht. Er fühlte sich ganz religiös gestimmt. Er war bescheiden und demütig, von der Erkenntnis seiner eigenen Kleinheit und Unwürdigkeit erfüllt. In solcher Gemütsverfassung drängt es die Sünder zum Beichtstuhl. Er war von seiner Sünde überzeugt. Aber wie die Geringen und Demütigen, wenn sie Buße tun, einen strahlenden Schimmer ihrer eigenen künftigen Größe sehen, so sah auch er einen Schimmer dessen, was er durch ihren Besitz erreichen würde. Die Vorstellung von diesem künftigen Besitz war jedoch unklar und verschwommen. Er war völlig verschieden von der Art Besitz, die er bisher gekannt hatte. Sein Ehrgeiz erhob sich in wahnsinnigem Flug, und er sah, wie er gemeinsam mit ihr die Gipfel des Lebens erklomm, seine Gedanken mit ihr teilte und sich mit ihr an schönen, edlen Dingen freute. Es war ein Besitz der Seele, von dem er träumte, von allem irdisch Groben geläutert, eine freie Kameradschaft der Geister, die er nicht in bestimmte Gedanken fassen konnte. Er dachte sie nicht. In dieser Sache dachte er überhaupt nicht. Sein Gefühl bemächtigte sich der Vernunft, er zitterte und bebte in nie gekannten Erregungen, trieb lustvoll auf einem Meer von Empfindung, wo selbst das Gefühl erhaben und vergeistigt war und ihn auf die Höhen des Lebens trug.

      Er schwankte wie ein Betrunkener und murmelte laut und begeistert: »Bei Gott! Bei Gott!«

      An einer Straßenecke sah ihn ein Schutzmann mißtrauisch an und bemerkte seinen wiegenden Seemannsgang.

      »Wo hast du dir den Rausch geholt?« fragte der Schutzmann. Martin Eden kehrte auf die Erde zurück. Sein Geist war wie ein leichtflüssiger Stoff, der schnell beweglich alle Winkel und Ritzen füllen konnte. Der Anruf des Schutzmanns brachte ihn sofort zu sich, und er erfaßte die Situation klar.

      »Der ist nicht schlecht, was?« antwortete er lachend. »Ich wußte gar nicht, daß ich laut redete.«

      »Du wirst bald anfangen zu singen«, meinte der Schutzmann.

      »Nein, das werd ich nicht. Gib mir ein Streichholz, und ich fahre mit der nächsten Bahn nach Haus.«

      Er zündete sich seine Zigarette an, sagte gute Nacht und ging weiter. »Dem hab ich sicher einen Schreck eingejagt«, murmelte er. »Der dachte, ich bin betrunken.« Er lächelte und überlegte. »Das war ich wohl auch«, fügte er hinzu, »aber ich hätte nie gedacht, daß ein Frauengesicht dazu genügt.«

      Er stieg in eine Straßenbahn, die von Telegraph Avenue nach Berkeley ging. Sie war überfüllt – lauter junge Burschen, die Lieder sangen und immer wieder den Kriegsruf ihres Colleges ausstießen. Er betrachtete sie mit Interesse. Es waren Studenten. Sie besuchten alle dieselbe Universität wie Ruth, gehörten derselben sozialen Klasse an wie sie, kannten sie vielleicht, sahen sie jeden Tag, wenn sie Lust dazu hatten. Er wunderte sich, daß sie keine Lust dazu hatten, daß sie ausgegangen waren, um sich zu amüsieren, statt heute abend in einem ehrerbietigen, bewundernden Kreis um sie zu sitzen. Seine Gedanken arbeiteten weiter. Er bemerkte einen jungen Mann mit schmalgeschlitzten Augen und schlaffen Lippen. Das ist ein Mistkerl, dachte er. An Bord eines Schiffes würde er einen Schleicher, einen Waschlappen, einen Schwätzer abgeben. Er, Martin Eden, war ein besserer Mann als dieser Bursche. Der Gedanke ermutigte ihn. Es war, als ob er ihn ihr näherbrachte. Er begann, sich mit den anderen Studenten zu vergleichen. Er wurde sich seines Muskelmechanismus bewußt und war überzeugt, daß er ihnen in körperlicher Beziehung überlegen war. Aber ihre Köpfe waren mit einem Wissen gefüllt, das sie befähigte, so zu sprechen, wie sie zu sprechen pflegte. Dieser Gedanke bedrückte ihn. Aber wozu hat man denn einen Kopf? fragte er sich heftig. Was die getan hatten, konnte er auch tun. Sie hatten das Leben in Büchern studiert, während er damit beschäftigt war, das Leben wirklich zu leben. Sein Kopf war genauso voller Wissen wie die ihren, wenn es auch eine andere Art von Wissen war. Wie viele von ihnen konnten wohl einen Taljereepknoten schlingen, ein Ruder bedienen oder Wache stehen? Sein Leben lag vor ihm ausgebreitet in einer ganzen Reihe von Bildern, Bildern von Gefahr und Kühnheit, Mühsal und Härte. Er erinnerte sich der Niederlagen und Schlappen seiner Lehrjahre. Soviel hatte er jedenfalls doch gewonnen: sie mußten später auch hinaus ins Leben und ihre Erfahrungen machen, wie er es getan hatte. Schön! Während sie damit beschäftigt waren, konnte er die andere Seite des Lebens aus Büchern lernen.

      Als der Wagen die wenig bebaute Gegend durchfuhr, die Oakland und Berkeley trennte, hielt er Ausschau nach einem wohlbekannten zweistöckigen Gebäude, das an der Straßenfront das stolze Schild »Higginbothams Bar- und Kassageschäft« trug. An dieser Ecke stieg Martin Eden aus. Er starrte einen Augenblick auf das Schild. Es verkündete ihm mehr, als die bloßen Worte besagten. Es war, als ob aus diesen Buchstaben eine kleinliche, egoistische und tückisch berechnende Persönlichkeit hervortrat. Bernard Higginbotham war mit seiner Schwester verheiratet, und er kannte ihn gut. Er öffnete die Haustür und stieg die Treppe hinauf zum zweiten Stock. Hier wohnte sein Schwager. Das Geschäft befand sich unten. Ein Geruch von welkem Gemüse hing in der Luft. Als er sich durch den dunklen Vorplatz tastete, stolperte er über einen Spielzeugwagen, den eines von seinen zahlreichen Neffen oder Nichten hatte stehenlassen, und stieß mit einem Krach, der im ganzen Hause widerhallte, gegen eine Tür. Der Knicker! dachte er. Zu geizig, um für zwei Cent Gas zu brennen, damit sich seine Pensionäre nicht den Hals brechen.

      Schließlich fand er den Türgriff und betrat ein erleuchtetes Zimmer, in dem seine Schwester und Bernard Higginbotham saßen. Sie war dabei, ein Paar alte Hosen ihres Mannes zu flicken, und er rekelte seinen mageren Körper auf einem Stuhl, während seine Füße in ganz ausgetretenen Filzpantoffeln von einem zweiten Stuhl herunterbaumelten. Mit dunklen, unehrlichen, stechenden Augen blickte er über den Rand seiner Zeitung hinweg. Martin Eden konnte ihn nie ansehen, ohne daß ihn ein Gefühl des Widerwillens überkam. Was seine Schwester in diesem Manne gesehen hatte, ging über seinen Verstand. Auf ihn wirkte er stets wie ein giftiges Gewürm, und er fühlte immer die Versuchung, ihn unter seinem Absatz zu zertreten. Eines schönen Tages schlage ich ihm doch in die Fresse, sagte er sich oft, um sich darüber zu trösten, daß er die Existenz dieses Mannes dulden mußte. Die wieselartigen, grausamen Augen sahen ihn vorwurfsvoll an.

      »Na?« sagte Martin. »Heraus damit!«

      »Ich hab erst vorige Woche die Tür streichen lassen«, erklärte Bernard Higginbotham in halb jammerndem, halb keifendem Ton, »und du weißt, wie hoch der Gewerkschaftstarif ist. Du solltest besser achtgeben.«

      Martin wollte antworten, sah dann aber ein, daß es zwecklos war. Sein Blick glitt über die unsagbare Gemeinheit dieses Menschen hinweg auf einen Farbendruck an der Wand. Er wunderte sich. Bisher hatte er ihm stets gefallen, jetzt aber schien ihm, als sähe er ihn zum erstenmal. Er war billig, das war es – billig, wie alles andere in diesem Hause. Seine Gedanken kehrten zu dem Heim zurück, das er soeben verlassen hatte, und er sah zuerst die Gemälde und dann sie, die ihn mit zarter Sanftmut angeblickt hatte, als sie ihm die Hand zum Abschied drückte. Er vergaß ganz, wo er war, ja, er vergaß die Existenz Bernard Higginbothams, bis dieser Herr fragte: »Du hast wohl einen Geist gesehen?«

      Martin trat auf ihn zu und sah ihm in die kleinen, höhnischen, bösartigen, feigen Augen, und in seiner Vorstellung sah er wie auf einer Leinwand dieselben Augen, wenn ihr Besitzer unten im Laden stand und handelte – unterwürfig, schmeichelnd, voll öliger Liebenswürdigkeit.

      »Ja«, antwortete Martin, »ich habe einen Geist gesehen. Gute Nacht. Gute Nacht, Gertrude.«

      Er wandte sich zum Gehen, strauchelte aber über einen Riß in dem verschlissenen Teppich.

      »Schmeiß nicht die Tür zu«, warnte ihn Herr Higginbotham.

      Martin Eden fühlte das Blut in seinen Adern kochen, aber er bezwang sich und schloß vorsichtig die Tür hinter sich.

      Herr Higginbotham sah seine Frau triumphierend an.

      »Er ist betrunken«, erklärte er heiser flüsternd. »Ich habe es dir ja gesagt.«

      Sie nickte resigniert.

      »Seine Augen glänzten so«, gab sie zu. »Und er hatte keinen Kragen um, obgleich er mit Kragen weggegangen ist. Aber vielleicht hat er nur ein paar Glas getrunken.«

      »Er


Скачать книгу