Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe. Jack London

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Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe - Jack London


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sehr. Aber er faßte sich schnell.

      »Das ist ein Kanakenwort für ›fertig‹«, erklärte er. »Und es rutschte mir unwillkürlich heraus!«

      Er sah, wie ihr Blick neugierig auf seinen Händen ruhte, und da er einmal beim Erklären war, redete er weiter: »Ich kam auf einem Schiff von der Pazifik-Postlinie die Küste herunter. Wir hatten uns verspätet, und in allen Häfen am Puget-Sund schufteten wir wie die Nigger, um die Ladung zu verstauen – Stückgut, wenn Sie wissen, was das heißt. Davon ist die Haut so abgeschrammt.«

      »Ach, das meinte ich nicht«, erklärte sie schnell. »Ihre Hände scheinen mir zu klein für Ihren Körper.«

      Er errötete. Er glaubte, daß wieder eine seiner Unvollkommenheiten ans Tageslicht gebracht worden sei.

      »Ja«, sagte er ärgerlich. »Sie sind nicht groß genug. Meine Arme und Schultern sind so stark wie die von einem Maultier – zu stark, und wenn ich einem Mann eins in die Fresse haue, kriegen meine Hände auch etwas dabei ab.«

      Was er da eben vorgebracht hatte, gefiel ihm nicht. Er war wütend auf sich. Er hatte seine Zunge laufen lassen und Dinge gesagt, die sich nicht schickten.

      »Es war großartig von Ihnen, daß Sie Arthur auf diese Weise zu Hilfe kamen – Sie, als Fremder«, sagte sie taktvoll, als sie seine Verlegenheit sah, obwohl sie den Grund nicht kannte.

      Er hingegen verstand sehr gut, was sie getan hatte, und in der warmen Welle der Dankbarkeit, die über ihm zusammenschlug, vergaß er seine geschwätzige Zunge.

      »Das war nicht der Rede wert«, sagte er. »Jeder andere hätte es auch getan. Diese Rowdys wollten Spektakel machen, und Arthur hatte ihnen nichts getan. Sie gingen auf ihn los, und da ging ich eben auch auf sie los und vermöbelte ein paar von ihnen. Bei der Gelegenheit ging wohl auch ein bißchen Haut von meinen Händen ab, und unsere Gegner mußten ein paar Zähne opfern. Ich hätte es um alles in der Welt nicht versäumen mögen. Wenn ich sehe…«

      Er hielt inne, mit offenem Munde, am Rande des Abgrunds seiner eigenen Verderbtheit und äußersten Unwürdigkeit, dieselbe Luft wie sie zu atmen. Und während Arthur zum zwanzigstenmal sein Abenteuer mit den betrunkenen Strolchen auf der Fähre berichtete und erzählte, wie Martin Eden sich auf sie gestürzt und ihm geholfen hatte, saß dieser Martin Eden mit gerunzelter Stirn da, dachte, daß er sich jetzt vollkommen lächerlich gemacht hätte, und kämpfte verbissener denn je mit der Frage, wie er sich diesen Leuten gegenüber benehmen sollte. Bis jetzt hatte er wahrhaftig nicht viel Glück gehabt. Er gehörte nicht zu ihrer Klasse und sprach nicht ihre Sprache, so erklärte er es sich selbst. Er konnte nicht so tun, als ob er ihresgleichen wäre. Eine solche Maskerade würde ihm mißglücken, zumal jede Art Maskerade seinem Wesen fremd war. Verstellung oder List kannte er nicht. Was auch geschah, er mußte er selbst bleiben. Noch konnte er ihre Sprache nicht sprechen, doch bald würde er sie beherrschen. Dazu war er fest entschlossen. Inzwischen aber mußte er sprechen, und zwar in seiner eigenen Sprache, die er natürlich mildern müßte, damit sie ihnen verständlich wurde und sie nicht allzusehr verletzte. Von nun an wollte er nicht einmal mehr durch schweigendes Hinnehmen so tun, als kenne er Dinge, die er in Wirklichkeit nicht kannte. Nach dieser Entscheidung fragte Martin Eden, als die beiden Brüder in einem Gespräch über Universitätsangelegenheiten mehrmals den Ausdruck »Trig« gebrauchten:

      »Was ist Trig?«

      »Trigonometrie«, erwiderte Norman, »eine höhere Form der Math.«

      »Und was ist Math?« lautete die nächste Frage, die Norman zum Lachen brachte.

      »Mathematik – Arithmetik«, war die Antwort.

      Martin Eden nickte. Flüchtig hatte er etwas von den anscheinend unbegrenzten Horizonten des Wissens erblickt. Was er sah, nahm greifbare Gestalt an. Seine unerhörte Einbildungskraft ließ Abstraktionen körperliche Form gewinnen. In der Werkstatt seines Hirns wurden Trigonometrie und Mathematik, der ganze Bereich der Wissenschaft, den sie bezeichneten, in eine Landschaft verwandelt. Er sah Alleen in grünem Laub und Waldlichtungen, ganz in sanftes Licht getaucht oder von hellen Sonnenflecken durchblitzt. Die Einzelheiten in der Ferne waren verschleiert und von einem violetten Nebel verwischt, dahinter aber, das fühlte er, lag der Zauber des Unbekannten, der Reiz der Romantik. Es wirkte auf ihn wie Wein. Hier gab es Abenteuer. Hier gab es etwas, das Kopf und Hände verrichten konnten, hier war eine Welt zu erobern; und sogleich tauchte im Hintergrund seines Bewußtseins der Gedanke auf, daß er siegen wollte, um SIE zu gewinnen, diese lilienweiße Elfe, die neben ihm saß.

      Die leuchtende Vision wurde von Arthur zerstört, der den ganzen Abend versucht hatte, seinen wilden Mann aus sich herauszulocken. Martin Eden erinnerte sich seines Entschlusses. Zum erstenmal wurde er der echte Martin Eden, anfangs bewußt und mit voller Überlegung; bald aber vergaß er alles über der schöpferischen Freude, das Leben, wie er es kannte, vor den Augen der Zuhörer vorüberziehen zu lassen.

      Er hatte zur Mannschaft des Schmugglerschoners »Halcyon« gehört, der von einem Zollkutter gefaßt worden war. Er hatte offene Augen und konnte erzählen, was er gesehen hatte.

      Er ließ das wogende Meer und die Männer und Schiffe des Meeres vor ihnen erstehen. Er teilte ihnen von seiner Einbildungskraft mit, bis sie mit seinen Augen sahen, was er gesehen hatte. Aus der ungeheuren Menge von Einzelheiten wählte er mit dem sicheren Griff des Künstlers die geeigneten aus, zeichnete Bilder des Lebens, die von Licht und Farben flammten, so daß seine Zuhörer von diesem Strom ursprünglicher Beredsamkeit, Begeisterung und Kraft gepackt wurden. Zeitweilig erschreckte er sie durch die Lebhaftigkeit der Erzählung und seiner Ausdrücke, aber auf Heftigkeit folgte immer rasch wieder Schönheit, und die Tragödie wurde gemildert durch Humor und durch die Erklärungen der sonderbaren Gedankengänge und Wortspiele, die Seeleuten eigentümlich sind.

      Und während er sprach, sah das junge Mädchen ihn mit großen, erschrockenen Augen an. Sein Feuer durchglühte sie. Sie fragte sich, ob sie wohl ihr ganzes Leben gefroren hätte. Sie sehnte sich danach, sich an diesen brennenden, flammenden Mann zu lehnen, der wie ein Vulkan Stärke und Gesundheit ausspie. Sie fühlte, daß sie sich an ihn lehnen mußte, und widerstand der Versuchung nur mit Mühe. Aber sie empfand auch den entgegengesetzten Impuls: sie schauderte vor ihm zurück. Sie wurde abgestoßen durch diese zerschundenen Hände, die so von Arbeit verfärbt waren, als sei der Schmutz des Lebens bis in das Fleisch gedrungen, durch den roten Streifen vom Kragen und die schwellenden Muskeln. Seine Rauheit erschreckte sie. Jedes grobe Wort beleidigte ihr Ohr, jedes rohe Erlebnis war ein Hohn auf ihre Seele. Aber immer wieder fühlte sie, wie er sie anzog, bis ihr schien, daß er schlecht sein müßte, da er eine solche Macht über sie hatte. Alles, was am tiefsten in ihr wurzelte, geriet ins Wanken. Der Zauber von Romantik und Abenteuer, der über ihm lag, war ein Angriff gegen alles Herkömmliche. Seinen leicht besiegten Gefahren und seinem stets bereiten Lachen gegenüber war das Leben nicht mehr etwas Ernstes voll Mühe und Zwang, sondern ein Spielzeug, das man nach Belieben drehen und wenden, das man sorglos und freudig leben und lässig beiseite werfen konnte. Deshalb spiele! rief es in ihr. Lehne dich an ihn, wenn du Lust dazu hast, und lege ihm deine Arme um den Hals! Sie hätte gern diesen wilden Gedanken verbannt, und sie suchte vergebens, ihre eigene Reinheit und Kultur, alles, was sie war, in die Waagschale zu werfen gegen das, was er nicht war. Sie sah auf die andern und bemerkte, daß sie ihn aufmerksam und hingerissen anblickten, und sie würde ganz den Mut verloren haben, hätte sie nicht den Schrecken in den Augen ihrer Mutter gesehen – die wohl auch gebannt war, aber dennoch zurückschauderte. Dieser Mann aus der äußersten Finsternis war schlecht. Ihre Mutter sah es, und ihre Mutter hatte recht. Sie wollte sich in dieser Sache wie immer auf das Urteil ihrer Mutter verlassen. Das Feuer, das aus ihm loderte, wärmte nicht mehr, ihre Angst vor ihm war nicht mehr so stark.

      Später setzte sie sich an den Flügel und spielte für ihn und gegen ihn, aggressiv, mit dem unklaren Ziel, die unüberbrückbare Kluft zwischen ihnen zu betonen. Ihre Musik war eine Keule, die sie brutal über seinem Haupte schwang, aber wenn sie ihn auch betäubte und in den Staub warf; so wirkte sie doch anspornend auf ihn. Er starrte sie ehrfürchtig an. Für ihn wie für sie erweiterte sich die Kluft zwischen ihnen; aber noch fester wurde sein ehrgeiziger Entschluß, diese Kluft zu überspringen. Jedoch wurde er von einem zu vielfältigen Komplex von Empfindungen


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