Martin Eden: Vollständige deutsche Ausgabe. Jack London
Читать онлайн книгу.für die Frauen war und ihre Hände danach verlangen ließ, es zu streicheln und zärtlich hindurchzufahren. Aber das überging er als wertlos in IHREN Augen. Lange und sinnend verweilte er bei der hohen, breiten Stirn und versuchte hinter sie zu dringen, um zu sehen, was dort wohnen mochte. Was für eine Art Hirn lag dort drinnen – das fragte er sich die ganze Zeit. Was vermochte es? Wie weit konnte es ihn bringen? Würde es ihn wohl zu ihr bringen?
Er fragte sich dann, ob Seele in diesen großen, stahlgrauen Augen lag, die zuweilen ganz blau waren und klar vom Salzhauch der sonnigen See. Er grübelte auch, welchen Eindruck seine Augen auf sie gemacht haben mochten. Er versuchte, sich an ihre Stelle zu versetzen, wenn sie ihm in die Augen sah, aber hier scheiterte seine Phantasie. Wohl konnte er sich in die Gedanken anderer versetzen, aber es mußten Menschen sein, deren Lebensweise er kannte. Ihre Lebensweise kannte er nicht. Sie war ein Wunder, ein Rätsel, und wie konnte er auch nur einen einzigen ihrer Gedanken erraten? Nun ja, es waren ehrliche Augen, so schloß er, und es war nichts Kleines oder Gemeines in ihnen. Sein braunes, sonnenverbranntes Gesicht überraschte ihn, denn er hatte nicht geahnt, daß er so dunkel war. Er schob den Hemdsärmel zurück und verglich die Haut seiner Arme mit diesem Gesicht. Ja, ein Weißer war er doch! Aber die Arme waren auch verbrannt. Er drehte den Arm, rollte mit der andern Hand den Bizeps beiseite und betrachtete die Unterseite, die von der Sonne am wenigsten verbrannt war. Sie war sehr weiß, und er lachte über sein bronzebraunes Gesicht im Spiegel bei dem Gedanken, daß es einmal ebenso weiß wie die Innenseite seines Arms gewesen war; aber er ließ sich nicht träumen, daß es nur wenige blasse, elfenhafte Frauen gab, die eine hellere, glattere Haut als die seine hatten – heller als seine dort war, wo die Sonne sie nicht verbrennen konnte.
Sein Mund wäre der eines Cherubs gewesen, hätten die vollen, sinnlichen Lippen sich nicht in erregten Augenblicken fest über den Zähnen geschlossen. Zuweilen schlossen sie sich so fest, daß der Mund barsch und streng, ja fast asketisch wurde. Es waren die Lippen eines Mannes, der zu kämpfen und zu lieben verstand. Sie konnten die Süße des Lebens schmecken und sich an ihr freuen, und sie konnten die Süße beiseite schieben und das Leben beherrschen. Das Kinn und die kräftigen Kieferbogen, die eine handfeste Angriffslust nur eben andeuteten, halfen den Lippen, das Leben zu beherrschen. Kraft beherrschte die Sinnlichkeit und hatte eine heilsame Wirkung auf sie, denn sie zwang ihn, nur Schönheit zu lieben, die natürlich war, und nur auf Sinneseindrücke zu reagieren, die gesund waren. Und zwischen diesen Lippen lagen zwei Reihen Zähne, die nie einen Zahnarzt gekannt oder gebraucht hatten. Sie waren weiß, stark und regelmäßig, fand er, als er sie prüfend betrachtete. Aber während er sie betrachtete, begann er unruhig zu werden. Irgendwo in einem geheimen Winkel seines Gehirns lebte als dunkle Erinnerung der Eindruck, daß es Leute gäbe, die sich täglich die Zähne putzten; das waren die Leute hoch oben auf der sozialen Stufenleiter, die Menschen ihrer Klasse. Sie bürstete sich sicher täglich die Zähne. Was würde sie sagen, wenn sie erfuhr, daß er sich noch nie im Leben die Zähne geputzt hatte? Er beschloß, sich eine Zahnbürste zu kaufen und sich an ihre Benutzung zu gewöhnen. Gleich morgen wollte er damit beginnen. Nicht allein durch große Taten konnte er sie zu gewinnen hoffen. Er mußte seine ganze Lebensführung verändern, er mußte sich die Zähne putzen und sich daran gewöhnen, mit gestärkter Wäsche zu gehen, obwohl ein steifer Kragen ihm wie eine Beschränkung seiner Freiheit vorkam.
Er hob die Hand, rieb mit dem Daumenballen die schwielige Innenfläche und sah den Schmutz, der gleichsam in die Haut gewachsen war und den keine Bürste entfernen konnte. Wie anders war doch ihre Hand! Bei der Erinnerung an sie durchschauerte es ihn angenehm. Wie ein Rosenblatt, dachte er, kühl und weich wie eine Schneeflocke. Nie hatte er gedacht, daß eine Frauenhand so herrlich weich sein könnte. Er ertappte sich auch bei dem Gedanken, wie wunderbar es sein mußte, von einer solchen Hand liebkost zu werden, und eine schuldbewußte Röte färbte seine Wangen. Dieser Gedanke war zu grob – irdisch; irgendwie schien er ihrer hohen Geistigkeit zu widersprechen. Sie war eine blasse, feine Elfe, hoch erhaben über die Gier des Fleisches; aber dennoch konnte er sich nicht von dem Gedanken an ihre weiche Hand frei machen. Er war an die harten Hände der Fabrikmädel und Arbeiterfrauen gewöhnt.
Nun ja, er wußte ja gut, warum deren Hände hart waren, aber ihre Hand… sie war weich, weil sie nie damit gearbeitet hatte. Der klaffende Abgrund zwischen ihnen wurde größer als je bei dem Gedanken, daß es Menschen gab, die nie für ihr Brot hatten arbeiten müssen. Er sah plötzlich den Adel des Menschen, der nie arbeitete. Wie eine Bronzestatue ragte er vor ihm auf, hochmütig und mächtig. Er selbst hatte gearbeitet; seine ersten Erinnerungen schon schienen mit Arbeit verknüpft zu sein. Und seine ganze Familie hatte gearbeitet. Gertrude zum Beispiel! Waren ihre Hände nicht hart von der endlosen Hausarbeit, so waren sie von der Wäsche geschwollen und rot wie Rindfleisch. Und seine Schwester Marian! Sie hatte letzten Sommer in der Konservenfabrik gearbeitet, und ihre hübschen, schmalen Hände waren über und über mit Narben von den Tomatenmessern bedeckt. Dazu hatte sie im Winter zuvor zwei Fingerspitzen durch die Schneidemaschine in der Tütenfabrik verloren. Er gedachte der harten Hände seiner Mutter, als sie im Sarge lag. Und sein Vater hatte bis zum allerletzten Atemzug gearbeitet, und als er starb, war die Hornhaut an seinen Händen wohl einen halben Zoll dick gewesen. Ihre Hände waren weich, ebenso wie die Hände ihrer Mutter und ihrer Brüder. Dieses letzte kam ihm wie ein Überfall, es zeigte so furchtbar deutlich die Hoheit ihrer Kaste und den ungeheuren Abstand zwischen ihr und ihm.
Mit einem bitteren Lachen ließ er sich auf das Bett fallen und zog sich die Schuhe aus. Er war ein Narr. Er hatte sich von dem Gesicht und den weißen, weichen Händen einer Frau berauschen lassen. Und plötzlich erschien ein neues Bild auf der schmutzigen geweißten Wand. Er sah sich selbst vor einer düsteren Mietskaserne stehen. Es war eine Nacht im Osten Londons, und vor ihm stand Margey, eine kleine Fabrikarbeiterin von fünfzehn Jahren. Er hatte sie nach dem »Bohnenfest« heimbegleitet. Sie wohnte in dem finsteren Gebäude, das selbst als Schweinekoben zu schlecht war. Er reichte ihr die Hand zum Abschied, und sie hob ihm den Mund entgegen, damit er sie küßte. Aber er wollte sie nicht küssen. Er fürchtete sich irgendwie vor ihr. Da aber schloß sich ihre Hand mit fieberhaftem Druck über der seinen, er fühlte, wie ihre Schwielen gegen die seinen rieben, und eine Woge innigen Mitleids wallte ihn ihm auf. Er sah den sehnsüchtigen, hungrigen Ausdruck in ihren Augen, und wie die kleine, unterernährte Gestalt aus ihrer Kindlichkeit wild und gehetzt zur Reife drängte. Da schlang er mit unendlicher Nachsicht die Arme um sie, beugte sich zu ihr hinab und küßte sie auf den Mund. Er hörte noch den kleinen Freudenschrei, den sie ausstieß, und er fühlte, wie sie sich wie eine Katze an ihn klammerte. Arme, verkümmerte Kleine! Er starrte weiter auf die Vision dessen, was vor langer, langer Zeit geschehen war. Das Blut rollte schneller durch seine Adern, wie es in jener Nacht getan, als sie sich an ihn klammerte und sein Herz vor Mitleid schwoll. Es war ein graues Bild, schmutziggrau, und trübe rieselte der Regen auf die Pflastersteine. Dann aber erstrahlte die Wand in Glorie, das Bild verschwand, und statt seiner leuchtete IHR blasses Antlitz unter der goldenen Haarkrone, fern und unerreichbar wie ein Stern.
Er nahm den Browning und den Swinburne vom Stuhl und küßte die Bücher. Trotzdem hat sie mich aufgefordert, wiederzukommen, dachte er. Wieder warf er einen Blick in den Spiegel und sagte dann laut, mit tiefem Ernst:
»Martin Eden, gleich morgen früh gehst du in die Volksbibliothek und liest darüber nach, wie man sich zu benehmen hat. Verstanden?«
Er drehte das Gas aus, und die Federn kreischten unter seinem Gewicht.
»Aber du darfst nicht mehr fluchen, Martin. Hörst du, Alter, du darfst nicht mehr fluchen«, sagte er laut.
Dann schlief er ein und hatte Träume, die sich an Kühnheit nur mit den Träumen eines Opiumrauchers messen konnten.
Fünftes Kapitel
Am nächsten Morgen erwachte er aus seinen rosigen Träumen in einer dampfigen Luft, die nach Seifenlauge und schmutziger Wäsche roch und von den schreienden Disharmonien eines zerquälten Lebens vibrierte. Als er sein Zimmer verließ, hörte er Wasserplätschern, scharfes Schelten und eine schallende Backpfeife: seine Schwester ließ ihren Ärger an einem ihrer vielen Kinder aus. Das Schreien des Kindes durchbohrte ihn wie ein Messer. Er war sich bewußt, daß das alles, ja selbst die Luft, die er atmete, niedrig und widerwärtig