Die Natur heilt. Georg Groddeck
Читать онлайн книгу.gestreckt oder gar gebeugt. Der Fuß bewegt sich in der Regel in einem gleichmäßigen Auf und Ab, wobei die Bewegungsweite so gering wie möglich ist. Das Kniegelenk ist außer beim Stehn nie gestreckt, und selbst dann nur mangelhaft; die Menschen stehn fast alle knickbeinig. Am schlimmsten wird am Hüftgelenk gesündigt. Jemand, der das Bein gestreckt ohne Schmerzen heben kann, ist schon eine große Ausnahme.
Selten werden diese Tatsachen, die, wie ich später zeigen werde, in jeder Beziehung für die Gesundheit des Menschen von Wichtigkeit sind, genügend beachtet, aber man frage einmal die Unteroffiziere, welche Mühe es kostet, den Rekruten das Beinheben und das Beinspreizen beizubringen. Kerle, die angeblich kerngesund sind, die in der hochgelobten freien Natur bei einer sogenannten gesunden Beschäftigung aufgewachsen sind, die als Knaben jeden Baum und jede Felsenspitze erklettert haben, sind mit zwanzig Jahren so steif wie Stöcke.
Bei solchen Verhältnissen ist es ohne weiteres klar, daß der Versuch, den Fall durch eine abwehrende Bewegung zu lindern, recht unglücklich ausfallen kann. Es kommt noch hinzu, daß durch den Mangel ausgiebiger Bewegungen in den Gelenken, vor allem der Streckbewegungen, an bestimmten Nerven Rauheiten auftreten, die die Freiheit der Bewegungen, sobald sie das gewohnte Maß überschreiten, schmerzhaft machen. Die Nerven rosten ein, werden an den Knochenfurchen, in denen sie laufen, zwischen den Muskeln und Faszien eingekeilt, häufig verwachsen sie auch mit der Haut oder den anliegenden Geweben. Sind diese Erscheinungen erst einmal da – und sie treten fast bei allen Menschen schon in der Jugend auf –, dann vermeidet der Körper unwillkürlich eine Reihe von Bewegungen. Der Verstand hat damit nichts zu tun, aber jeder Mensch hat ein Unterbewußtsein, das ihn lehrt, was er im Moment tun und lassen soll. Beim Fall nun, der zum Knochenbruch führt, spielt sich häufig in diesem Unterbewußtsein ein rascher Kampf ab. Der Körper wünscht das Glied in die richtige Lage zu bringen, in der es nicht gefährdet ist, weiß auch ganz genau, wie das zu geschehen hat – denn, wie gesagt, jeder Teil des Körpers hat eine merkwürdige Menge Verstand –, im Moment, wo er die zweckmäßige Bewegung jedoch machen will, fällt ihm ein, daß sie schmerzhaft ist, er hält in der Mitte inne, und das Glied bricht in der verzwickten Lage, in die es geraten ist.
Man wird vielleicht meinen Worten, daß anscheinend ganz gesunde Menschen kranke Nerven haben, wenig Glauben schenken. Den Zweiflern rate ich, einmal ihre Fußsohlen abzutasten, nicht gar zu sanft, etwa so wie ein Stein drücken würde, auf den man unversehens tritt. Etwa in der Mitte der Sohle werden sie einen schmerzhaften Punkt finden, ja vielleicht werden sie eine ganze Reihe solcher Punkte entdecken. Dieser Schmerz ist das Zeichen, daß der Nerv der Fußsohle irgendwo und irgendwie geschädigt ist. Das ist auch ganz natürlich, muß so sein. Wenn man bedenkt, daß im Leben des Erwachsenen fast nie ein Moment eintritt, in dem die Flüssigkeit aus dem Fuß von selbst abfließen kann, daß der Fuß im wachen Zustand der tiefstgelegne Teil ist, daß dort der Strom der Säfte stets bergauf geht, daß er auch beim Liegen höchstens eben wird, dann sieht man ein, daß im Fuß leicht Stauungen auftreten. Es kommt hinzu, daß der Rückfluß der Säfte aus den Beinen durch die vielen Hindernisse im Bauch an und für sich erschwert ist. Welche Bedeutung das hat, geht daraus hervor, daß der Unterschenkel des Menschen abends ½-1 cm dicker zu sein pflegt als morgens, was allerdings nur wenige wissen. Nun ist aber das Gewebe der Fußsohle besonders straff gespannt, und jede Säfteüberfüllung übt dort einen erheblichen Druck aus. Rechnet man weiter, daß die Füße durch das Schuhwerk eingeschnürt sind, daß auf ihnen beim Gehn, Stehn, ja bisweilen auch beim Sitzen das Gewicht des Körpers lastet, daß die starre Schuhsohle jede ausgiebige Bewegung des Mittelfußgelenks verhindert, so daß der Nerv nur wenig hin und her gleitet und leicht an seiner Oberfläche Rauheiten bildet, so erscheint einem die häufige Erkrankung des Nervs nicht mehr merkwürdig.
Merkwürdig ist nur, daß der Mensch gewöhnlich nichts von dieser Erkrankung weiß. Man sollte denken, daß eine solche außergewöhnlich schmerzhafte Stelle für das Gehn hinderlich sein müsse. Das ist nicht der Fall. Der Fuß hat einen scharfen Verstand – ich muß wieder diesen Ausdruck gebrauchen, so sehr ich damit auch vieler Empfinden verletze. Er fragt nicht erst lange beim Gehirn an, sondern weiß selbst genau, wie er auftreten muß, um den Schmerz zu vermeiden, er bemerkt vorher schon jedes Steinchen, jede Unebenheit und weicht ihr aus. Es muß schon ein unglücklicher Zufall sein, wenn der Nerv einmal doch von einem spitzen Stein oder sonst irgend etwas getroffen wird. Ich komme gleich darauf zu sprechen. Hier möchte ich nur betonen, daß diese immerwährende Vorsicht, mit der der Fuß seine Arbeit tut, doch erheblich anstrengender ist, als wenn er das, wie bei den Kindern, nicht nötig hat. Der erwachsne Mensch verbraucht, daran ist gar nicht zu zweifeln, ein Gutteil Kraft, um seine kranken Fußnerven zu schonen, Kraft, die er anders verwenden könnte, wenn er einigermaßen auf sich achtete. Es ist nämlich sehr einfach, den Nerv gesund zu erhalten oder ihn wieder gesund zu machen. Dazu braucht man sich nur anzugewöhnen, die Füße, soviel es geht, hochzulegen, damit die Flüssigkeit leichter daraus abfließen kann; die Amerikaner sind darin Vorbild, wie in vielen Dingen. Den gefräßigen Bauch muß man ein wenig knapp halten und möglichst oft barfuß gehn.
Im übrigen gilt das, was hier von den Fußnerven gesagt wurde, für eine Reihe andrer Nerven ebenso. Fast jeder kann sich davon überzeugen, daß er oberhalb der Augen, an den Schläfen, am Hinterhaupt, am Brustbein, vor allem in der Hüftgegend ähnliche Schmerzpunkte hat. Sie haben eine große Bedeutung für die Gesundheit des Menschen. Denn man geht wohl nicht zu weit, wenn man annimmt, daß diese allen Schädlichkeiten ausgesetzten Stellen nach und nach für den Körper verhängnisvoll werden. Ich kann vorläufig nur andeuten, wie ich es meine, da zum vollen Verständnis die Beziehungen des Nervensystems zum Blutkreislauf und zur Ernährung bekannt sein müßten. An dieser Stelle genügt es hervorzuheben, daß ein solcher Einfluß erkrankter Nerven auf das Befinden des Gesamtorganismus besteht. Es bedarf auch, um diesen Einfluß hervorzurufen, gar nicht eines schmerzhaften Eindrucks auf die Nerven. Die scharfen Winde, das helle Licht, das Beugen des Kopfes beim Lesen wirken schon auf die erkrankten Nerven der Augengegend ein, das Sitzen, vor allem das Liegen auf die der Hüftgegend. Auch diese Teile leben – um mich dieses gewagten Ausdrucks zu bedienen – vorsichtig, sie sind beständig auf der Hut, unangenehme Empfindungen zu vermeiden, sie verbrauchen immer und immer einen reichlichen Teil der Kraft, die dem Menschen zur Verfügung steht. Mit dieser Kraft wird lediglich etwas vermieden, nichts getan, während doch die Kraft dem Menschen zum Tun gegeben ist. Jedem ist bekannt, daß bei gleichen äußern Ursachen, etwa bei einer Epidemie, nicht alle Menschen erkranken, daß dazu vielmehr noch eine innre, im Menschen gelegene Ursache gehört, die man etwa Anlage zum Erkranken nennen mag. Wir haben hier einen der Faktoren, die die rätselhafte Anlage oder Prädisposition bilden.
Es ist oft nicht leicht zu bestimmen, was gesund und krank ist, so geläufig diese Ausdrücke auch für jeden sind. Gesundheit und Krankheit sind keine Gegensätze, es besteht zwischen ihnen keine Trennungslinie, jenseits und diesseits deren man sagen könnte, hier ist der Mensch gesund und dort ist er krank. Ein Sandkorn ist noch kein Haufen, zwei oder drei auch nicht, es steht in dem Belieben eines jeden, bei wieviel Sand er von einem Haufen reden will. Genauso braucht ein jeder das Wort krank nach seinem eignen Gutdünken. Der echte deutsche Mann hält sich, wie mir gütige Frauen sagen, für krank, wenn er einen Schnupfen hat, der Holländer aber, der mit geschwollnen gichtbrüchigen Gelenken, lahm und von Schmerzen gepeinigt den Arzt aufsucht, beginnt seine Erzählung mit den Worten: Ich bin nicht krank, Doktor. Für ihn ist Kranksein und Im-Bett-Liegen dasselbe. Für uns, die wir im Leben stehn, ist ein Mensch mit Hühneraugen gewiß nicht krank, er ist nicht krank, wenn ihm ein paar Zähne fehlen, wenn er einen Buckel hat oder wenn ihm ein Fingerglied verstümmelt ist. Wer aber am Schreibtisch den Begriff der Krankheit definieren will, der wird all das zur Krankheit rechnen müssen.
Im Grunde ist Krankheit nur ein Name, ein Wort, das man zur leichtern Verständigung geschaffen hat, das aber bald zu viel und bald zu wenig faßt. Da ist ein Mensch mit blauen Lippen und Nägeln, mit keuchendem Atem und dicken Füßen, und wenn er die Hand auf seine linke Brust legt, fühlt er sein Herz unruhig toben. Er hat einen Herzfehler, er ist krank; wer einen Herzfehler hat, ist krank, das weiß ein jeder. Aber neben ihm steht einer, stark und kräftig, geht seiner Arbeit nach und lebt sein Leben dahin ohne jede Beschwerde bis in ein hohes Alter; und doch, bei der Sektion findet man ein krankes Herz. Ist der Mann krank? Geht durch die Straßen, jeder sechste Mensch, der euch begegnet, hat solch ein krankes Herz. Ist er darum krank