Die Natur heilt. Georg Groddeck

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Die Natur heilt - Georg Groddeck


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dritten Menschen krank heißen? Oder man nehme die Tuberkulose. Geh in das Theater und schau dir die Menge an. Fast alle, die dort sitzen, geputzt und aufmerksam, sind tuberkulös oder waren es einmal oder werden es einmal sein, denn unter hundert Menschen sind nur drei, die diese Krankheit nicht befällt. Setz dich an deinen Tisch mit Weib und Kind und merk es wohl: nicht einer von den Deinen ist frei von dieser Krankheit, vor der du zitterst, weil man dich täglich in Wort und Schrift damit erschreckt. Beschau dich nur im Spiegel und merke dir, wie solch Tuberkulöser aussieht. Denn du bist vermutlich einer von den 97. Aber bist du darum krank? Du tust dein Werk heute und morgen und freust dich der Sonne, die dir scheint, und der Nacht, die dich erquickt, und wer dich krank nennen will, dem lachst du ins Gesicht. Es ist zu dumm. Man kann nicht 97 Prozent der Menschen krank nennen.

      Oder merk auf jenen dort, der verstört und untätig durch das Leben schleicht, von Arzt zu Arzt rennt, seine Leiden zu klagen, und der überall denselben Bescheid erhält: Du bist gesund; du bildest dir deine Krankheit nur ein. Der eingebildete Kranke, ja gibt es denn den? Es gibt Frauen, die Migräne bekommen, weil sie einen neuen Hut haben wollen, es gibt Männer, die Zahnweh haben, weil eine Gesellschaft droht, es gibt schulkranke Kinder. Aber eingebildete Kranke? Ich habe noch keine gesehn. Wer sich krank fühlt, den soll man auch krank nennen, auch wenn man nichts an und in ihm findet, was krankhaft ist. Es ist bequem von Einbildung zu sprechen, von Hysterie, von Interessantseinwollen, aber es ist ein fahrlässiges Vergehn, und keiner, der das Wort Einbildung von einem Menschen brauchen will, vergesse, daß er damit den Frohsinn eines Lebens bricht.

      Und zum letzten, wo will man die Krankheit beginnen lassen, etwa die Tuberkulose? In dem Moment, wo Fieber und Husten den Menschen niederwerfen? Aber vorher bestanden schon jahrelang in den Lungen die kleinen Knötchen, die man Tuberkel nennt. In dem Moment, wo jene Knötchen entstanden? Aber ehe sie entstanden, mußten Bazillen in die Lungen dringen, ganz abgesehn davon, daß sich das erste Knötchen niemals feststellen läßt. Und kann man die Lunge, in der ein Bazillus Acker und Wirkungfeld findet, noch gesund nennen? Gewiß nicht, denn jeder Mensch atmet täglich Tuberkelbazillen ein, ohne daß sie ihm irgend etwas schaden. Sein Organismus, seine Gesundheit vernichtet den Feind. Wer Tuberkel bekommt, muß vorher schon Fehler in seinem Organismus haben, muß, wenn man so will, vorher schon krank gewesen sein, von Geburt an vielleicht, ja vielleicht schon in seinen Eltern und Ahnen.

      Ich sehe keine Möglichkeit, das Wort krank wissenschaftlich zu definieren. So gestatte man mir, persönlich zu urteilen. Krank ist für mich, wer in seiner Leistungsfähigkeit geschädigt ist und sich für krank hält. Alle andern, mögen sie von der Wissenschaft tausendmal für krank erklärt werden, sind für mich gesund, selbst wenn der Tod sie schon gepackt hätte, selbst wenn ihr Leib schon vom Leiden bis auf ein Restchen verzehrt ist. Mit ihnen hat der Arzt nichts zu schaffen. Sie sind gesund.

      Ich knüpfe hier wieder an die alltägliche Erkrankung des Fußsohlennervs an, zu der ich noch einiges nachzutragen habe. Ich sagte, der Fuß tritt stets so auf, daß die schmerzhafte Stelle geschont wird. Eine gewöhnliche Folge davon ist das Hühnerauge, wohl auch die Schwielen unter und an den Zehen; denn nur der Fuß hat Verstand, nicht der Schuh, der durchaus nicht den vorsichtigen Bewegungen seines Gefangnen folgt. Es treten selbst bei gut sitzenden Stiefeln, die es heutigen Tages fast gar nicht mehr gibt, Reibungen auf, die allmählich zur Verdickung der Hornhaut, zum Hühnerauge führen. Das verdoppelt dann die Schwierigkeit des Gehns. Von dem Moment an wird der Fuß geschont, unwillkürlich, gewiß. Aber die Tatsache bleibt, daß das Bein mit dem kranken Nerv, mit dem Hühnerauge weniger gebraucht wird als das andere. Und das heißt, daß es schwächer wird. Denn jedes Glied wird durch mangelhaften Gebrauch schwach.

      Wer darauf achtet, kann bei recht vielen Menschen feststellen, daß die Kraft ihrer Beine verschieden ist. Ein schwaches Bein ist aber naturgemäß der Verletzung leichter ausgesetzt als ein gesundes. Ja, ich persönlich halte es nicht für unwahrscheinlich, daß oft ein Bein nur deshalb bricht, weil es schon schwach, das heißt krank war. Von den meisten Kniegelenkleiden, wie sie durch Fall oder Stoß entstehn, und die bald nur zu mäßigen Anschwellungen oder Blutergüssen führen, bald aber langwierige, mitunter lebenslange Entzündungen hervorrufen, glaube ich es unbedingt. Nur ganz ausnahmsweise tritt, abgesehn von den Infektionskrankheiten, eine Kniegelenkentzündung an einem gesunden Bein auf. Fast immer war es vorher schon krank. Zum bessern Verständnis muß ich allerdings hinzufügen, daß der Gründe für den Kraftunterschied beider Beine Legion ist. Einer der häufigsten ist ein Unfall in der Kindheit oder später, in dessen Folge das eine Bein längere Zeit geschont wurde oder gar im Verband lag. Eingewachsene Nägel spielen ebenfalls dabei eine Rolle. Aber auch im Gefolge bestimmter Erkrankungen der Bauchorgane, nach Typhus, Blinddarmentzündungen, Unterleibsleiden, langwierigen Verstopfungen oder Diarrhöen wird bald das rechte bald das linke Bein schwächer. Eis kommt dann unter Umständen zu Vorgängen, bei denen sich alles in einem ärztlich hochinteressanten, für den Kranken aber recht unangenehmen Kreise bewegt. Durch irgendeinen krankhaften Zustand im Bauch, vielleicht durch Narbenstränge in der Blinddarmgegend, die auf die Nerven des Beins drücken, wird das rechte Bein geschwächt. Unwillkürlich wird es geschont und falsch aufgesetzt. Es entsteht ein Hühnerauge. Nun wird das Auftreten noch schwieriger und künstlicher. Das Bein wird dauernd in verkehrter Stellung gebraucht, und nach einigen Jahren erkrankt der Hüftnerv dadurch, daß er stets nach falschen Richtungen hingezerrt wird, von unten nach oben hinauf, und schließlich ist die vollendete, schwere, vielleicht unheilbare Ischias da.

      Eine Prüfung der Kraft in den Beinen ist für jedermann nützlich. Sobald ein Unterschied darin nachgewiesen wird, muß das gesunde Bein geschont und das schwache mehr gebraucht werden, etwa so, daß beim Treppensteigen mit dem kranken Bein zwei Stufen genommen werden, während das gesunde nachgezogen wird. Im äußersten Falle muß man sogar das gesunde Bein zeitweise durch einen Gipsverband gebrauchsunfähig machen, um die gefährliche Differenz auszugleichen. Denn die Gefahr hegt immer nur in der Differenz der Kraft. Sind beide Beine schwach, so hat das nicht dieselben Folgen.

      Von der heimtückischen Art der Entzündungen, die es an sich haben, immer wiederzukommen, wenn sie erst einmal ein Kniegelenk befallen haben, hat wohl jeder schon Beispiele gesehn. In der Hauptsache ist diese Sucht des Gelenks, wieder zu erkranken, auf die Schwäche des Beins zurückzuführen, die durch die Entzündung selbst hervorgerufen wird, die aber durch das übliche Ruhigstellen des Gelenks, womöglich mit dem Gipsverband, erheblich verschlimmert wird. Wer Kniegelenkentzündungen zu behandeln hat, sollte von vornherein daran denken, daß er es nicht mit der einzelnen Erkrankung zu tun hat, sondern daß aller Wahrscheinlichkeit nach früher oder später Rückfälle kommen werden, und daß das einzige Mittel sie zu verhüten, allerdings eines, das selten versagt, die Kräftigung des kranken Beines ist, durch Widerstandsbewegungen, Massage, oder was man sonst verwenden will.

      Gelenke

      Ich bin unversehens in die Besprechung der Gelenkerkrankungen hineingeraten, möchte aber, ehe ich darin weiter fortfahre, noch auf eine Form der Bruchverletzungen zurückkommen, die durch eigentümliche Umstände neuerdings häufig geworden ist, das ist das Abspringen eines Knorpelstücks innerhalb des Kniegelenks. Hier verbindet sich der Knochen- oder Knorpelbruch mit der Gelenkentzündung. Vorher muß ich jedoch einiges nachholen, was zum Verständnis nötig ist.

      Jedermann hat wohl eine ungefähre Vorstellung davon, wie ein Knochen gestaltet ist, daß man platte Knochen unterscheidet, wie sie am Schädel vorkommen, und Röhrenknochen, die den Gliedmaßen Halt geben. Der Röhrenknochen, mit dem wir es hier zu tun haben, trägt seinen Namen, weil er innen eine Höhlung hat. In ihr birgt sich das Knochenmark, das für die Blutbildung eine Bedeutung hat; umgeben ist der Knochen von der Knochenhaut, von der aus im wesentlichen die Neubildung des Knochens stattfindet. Da die Hauptaufgabe der Gliedmaßen nur durch ihre Beweglichkeit erfüllt werden kann, darf der Halt der Knochen nicht starr sein, wie es der Fall wäre, wenn ein einziger Knochen in ihrem Inneren läge, sondern es müssen mehrere Knochen aneinandergereiht sein, die dann mit Hilfe verschieden gestalteter Gelenke gegeneinanderbewegt werden. Dort wo zwei Knochen aneinanderstoßen, sind ihre Enden von einer glatten weißen Schicht überzogen, dem Gelenkknorpel. Damit die Bewegung ohne jede Reibung, so leicht wie möglich stattfindet, sind aber nicht nur die Knorpel spiegelglatt, sie sind auch noch durch eine Flüssigkeit, die Gelenkschmiere, geschmeidig


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