Geschichte meines Lebens. George Sand
Читать онлайн книгу.seiner Nebenmenschen in Verbindung zu bringen, würde uns nur ein Räthsel zu lösen geben. Der Zusammenhang ist noch augenscheinlicher, wenn er ein unmittelbarer ist, wie der, welcher die Eltern mit den Kindern, die Freunde mit den Freunden der Vergangenheit und Gegenwart, die Zeitgenossen mit den Zeitgenossen von gestern und heute verbindet. Was mich betrifft (und Euch Alle), so würden meine Gedanken und mein Glaube, meine Abneigungen, meine Instinkte und meine Gefühle für meine eigenen Augen ein Geheimniß sein und ich könnte sie nur dem Zufall zuschreiben, der noch nichts in der Welt erklärt hat — wenn ich nicht in der Vergangenheit die Seite läse, die derjenigen vorangeht, auf welcher meine Individualität in dem Buche des allgemeinen Lebens verzeichnet ist. Diese Individualität hat an und für sich weder eine Bedeutung noch einen Werth. Sie erhält nur dann einen Sinn, wenn sie zum Bestandtheil des allgemeinen Lebens wird, wenn sie sich mit dem Wesen eines jeden meiner Nebenmenschen vereinigt — und nur dadurch erlangt sie historischen Werth.
Nachdem ich dies ausgesprochen habe, um nicht mehr darauf zurückzukommen, erkläre ich, daß es mir unmöglich sein würde mein Leben darzustellen, ohne zuvor das meiner Eltern erzählt und verständlich gemacht zu haben. Dies ist ebenso nothwendig in der Geschichte der Individuen, als in der des Menschengeschlechts. Leset eine Seite der Revolutionsgeschichte oder der Geschichte des Kaiserreichs; Ihr werdet nichts davon verstehen, wenn Euch nicht die vorhergehenden Ereignisse der Revolution und des Kaiserreichs bekannt waren. Und um die Revolution und das Kaiserreich zu verstehen, müßt Ihr wiederum die ganze Geschichte der Menschheit kennen. Ich erzähle hier eine Entwickelungsgeschichte — die Menschheit hat ihre Entwickelungsgeschichte in jedem einzelnen Menschen — und so habe ich einen Zeitraum von etwa hundert Jahren schildern müssen, um vierzig Jahre aus meinem eigenen Leben darzustellen.
Ohne dies wäre ich nicht im Stande meine Erinnerungen zu ordnen. Ich habe das Kaiserreich und die Restauration durchlebt und war im Anfang zu jung, um durch mich selbst die geschichtlichen Ereignisse zu begreifen, die unter meinen Augen vorgingen und sich um mich her bewegten. Aber ich habe die Verhältnisse damals theils durch die Ueberzeugungen, theils durch den Widerspruch aufgefaßt, den die Empfindungen meiner Eltern in mir hervorbrachten. Sie hatten die alte Monarchie und die Revolution durchlebt; ohne die Eindrücke, die sie empfangen hatten, würden die meinigen viel unbestimmter gewesen sein, und es ist zweifelhaft, ob ich aus den ersten Zeiten meines Lebens die deutlichen Erinnerungen bewahrt hätte, die ich besitze. Aber diese ersten Eindrücke — sobald sie lebendig gewesen sind — haben eine unermeßliche Wichtigkeit und oft ist unser ganzes übriges Leben nur eine nothwendige Folge derselben.
Fortsetzung der Geschichte meines Vaters.
Ich habe meinen jungen Soldaten verlassen, als er von dem Fort Bard hinwegzog und um seine Lage dem Leser in's Gedächtnis, zurückzurufen, werde ich einige Bruchstücke eines Briefes mittheilen, den er aus Ivrea an seinen Neffen, René von Villeneuve, über die letzten Erlebnisse schrieb.
Aber erst muß ich sagen, wie mein Vater im Alter von einundzwanzig Jahren zu einem Neffen kam, der ein oder zwei Jahre älter als er und sein Freund und Waffenbruder war. Dupin von Francueil war sechszig Jahr alt, als er meine Großmutter heirathete. Er war erst mit einem Fräulein Bouillond verheirathet und hatte aus dieser Ehe eine Tochter, die sich mit Herrn von Villeneuve, dem Neffen der Frau Dupin von Chenonceaux vermählte und diese Frau von Villeneuve hatte zwei Söhne, René und August, die mein Vater immer wie seine Brüder liebte. Es läßt sich denken, daß sie ihn mit seiner Oheimswürde neckten, und daß er ihnen die Ehrfurcht erließ, auf die er als Onkel Anspruch machen konnte. Einst hatte eine Erbschaft Anlaß zu Streitigkeiten zwischen ihren Geschäftsführern gegeben und mein Vetter René erklärt mir jetzt die Sache folgendermaßen: „Die Advocaten riethen uns zum Proceß, den sie durch ihre Spitzfindigkeiten zu gewinnen glaubten. Es handelte sich um ein Haus und um 30,000 Franks, welche Herr von Rochefort, Enkel der Frau Dupin von Chenonceaux unserm lieben Moritz vermacht hatte. Aber Moritz, mein Bruder und ich antworteten den Herren: daß wir uns zu sehr liebten, um uns über irgend etwas zu streiten, daß wir ihnen jedoch, wenn ihnen etwas darauf ankäme, die Erlaubniß gäben, sich zu schlagen. Ich weiß nicht, ob sie sich diese Erlaubniß zu Nutze machten, aber unsere Familien-Zerwürfnisse waren damit beendigt.“
Diese drei jungen Männer waren jedenfalls gut und uneigennützig, aber ihre Zeit war auch besser als die, in welcher wir leben. Trotz der Gebrechen des Directoriums, trotz der Verwirrung der Ideen, war aus den Stürmen der Revolution etwas Ritterliches in den Gemüthern geblieben. Man hatte gelitten, man hatte sich daran gewöhnt sein Vermögen ohne feigen Jammer zu verlieren, es ohne die Freude des Geizigen wiederzugewinnen, und es ist gewiß, daß Unglück und Gefahr heilsame Prüfungen sind. Die Menschheit ist noch nicht so rein, daß sie Ruhe und materiellen Genuß ertragen könnte, ohne in das Laster der Eigensucht zu verfallen. Man würde jetzt nur wenige Familien finden, in denen die Seiten Verwandten, die auf eine zweifelhafte Erbschaft Anspruch machen, ihren Zwist beendigen, indem sie sich lachend, Angesichts ihrer Advocaten umarmen.
In dem Briefe, den mein Vater aus Ivrea an den ältesten seiner Neffen schrieb, schildert er wieder den Uebergang über den großen Bernhard und den Angriff auf die Festung Bard. Die Fragmente, die ich daraus mittheilen werde, beweisen, wie fröhlich und wie ganz ohne Eitelkeit man in jenem schönen Momente unserer Geschichte zu Werke ging.
„Ich komme an den Fuß eines Felsens, neben einen Abgrund, wo sich der Generalstab niedergelassen hatte. Ich stelle mich dem General vor, er empfängt mich, ich richte mich ein und bezeuge Bonaparte meine Hochachtung. Dieselbe Nacht bestehlt er den Angriff der Festung Bard. Ich befinde mich beim Stürmen, mit meinem General. [Dies „ich befand mich“ ist sehr hübsch. Wir haben gesehen, daß er ohne Pferd, ohne Befehl, des Vergnügens wegen dabei war.] Kugeln, Bomben, Granaten, Haubitzenkugeln sausen, rollen, donnern und platzen überall ... wir sind geschlagen, aber ich bin nicht verwundet.
„Wir umgehen nun die Festung und klettern über Felsen und Abgründe. Bonaparte klettert mit uns; mehrere Menschen fallen in die Schluchten; endlich steigen wir in die Ebene hinab, wo der Kampf im vollen Gange war. Ein Husar hatte ein schönes Pferd erbeutet, ich halte ihn an — und nun bin ich beritten, was im Kriege ziemlich nothwendig ist. Heute früh bringe ich einen Befehl an die Vorposten und finde die Wege mit Leichen besäet. Morgen oder diese Nacht giebt es eine geordnete Schlacht. Bonaparte ist nicht gedultig, er will durchaus vorwärts und wir Alle haben große Lust dazu.
„Wir verwüsten ein herrliches Land. Blutvergießen, Gemetzel, Entsetzen folgen unserer Spur und bezeichnen unseren Weg mit Leichen und Ruinen. Wir mögen uns noch so sehr vornehmen die Einwohner zu schonen, die Hartnäckigkeit der Oestreicher zwingt uns Alles niederzuschießen. Ich bin gewiß der Erste, der dies bejammert — und doch auch wieder der Erste, den diese verdammte Leidenschaft der Eroberungen und des Ruhmes erfaßt, so daß ich wünsche, wie möchten uns schlagen und vorwärts gehen.“
Erster Brief.
(Von Moritz an seine Mutter.)
Stradella, 21. prairial.
„Wir gehen vorwärts wie Teufel! gestern haben wir den Po überschritten und den Feind abgeprügelt. Ich bin sehr ermüdet ... und war immer zu Pferde, mit schwierigen und mißlichen Aufträgen belastet, habe mich aber ziemlich gut heraus zu ziehen gewußt. Sobald ich mehr Zeit habe, werde ich Dir die Einzelheiten mittheilen. Diesen Abend kann ich Dich nur noch umarmen und Dir sagen, daß ich Dich liebe.“
Zweiter Brief.
Im Hauptquartier zu Torre di Garofolo,
27. prairial VIII.
„Geschichtsschreiber, schneidet Eure Federn; Dichter, besteigt den Pegasus; Maler, nehmt die Pinsel zur Hand, Zeitungsschreiber, lügt nach Herzenslust niemals ist Euch schönerer Stoff geboten! Was mich betrifft, meine liebe Mutter, so will ich Dir die Dinge erzählen, wie ich sie gesehen habe, wie sie gewesen sind.
„Nach der ruhmvollen Affaire von Montebello kommen wir am 23. nach Voghera. Am folgenden