Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen. Sibylle Reith

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Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen - Sibylle Reith


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Konstellation findet sich typischerweise beim „Burnout-Syndrom“.

Das Burnout-Syndrom ist der (reversible) Ausdruck einer „Überdosis“ an Dauerstress.

      Die Liste der Beschwerden beim Burnout-Syndrom ist umfassend und individuell sehr unterschiedlich: Sie reicht von Erschöpfung, Energiemangel, Schlafstörungen über Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, Ruhelosigkeit bis hin zu Gleichgültigkeit und Verlust an Empathie. Auch Verbitterung, Partnerschaftsprobleme, das Gefühl mangelnder Anerkennung und nicht zuletzt körperliche Beschwerden wie Enge in der Brust, Rückenschmerzen oder Übelkeit werden von Betroffenen berichtet. Die Beschwerden können sich aufschaukeln und Betroffene können in einen Teufelskreis geraten, in dem sie sich nicht mehr als selbstwirksam erleben. Das kann zu purer Verzweiflung führen oder zu Suizidgedanken. Burnout ist ein Risikofaktor für das Auftreten von Depression, Herzinfarkt, Schlaganfall, Osteoporose und Diabetes mellitus.

      Das Burnout-Syndrom kann als direkte Folge einer Erschöpfung der Zellkraftwerke verstanden werden. Uschi Eichinger und Kyra Hoffmann zeigen diesen Sachverhalt in dem lesenswerten Buch Der Burnout-Irrtum: Ausgebrannt durch Vitalstoffmangel – Burnout fängt in der Körperzelle an.

      3.1.5 Dauerstress und Trauma

      Dauerstress

      Dauerstress entsteht durch die Aneinanderreihung von akuten Stress-Ereignissen. Da dabei langfristig die Erholungsphase fehlt, hat permanenter Dauerstress (auch „toxischer Stress“) pathologische körperliche und seelische Auswirkungen.

      Abb. 3.1.5/1 Dauerstress und Traumata

      Dauerstress und Traumata korrumpieren die Selbstheilung

      Trauma

      Der Begriff „Trauma“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet „Verletzung“. Im Alltag wird der Begriff Trauma medizinisch unpräzise für Alltagsbelastungen verwendet. Ob ein Ereignis oder Geschehen zu einem Trauma wird, hängt einerseits von dessen Schwere und Ausmaß ab (zum Beispiel Naturkatastrophen, schwere Unfälle, Vergewaltigungen, Terroranschläge, Kriegserlebnisse oder Entführungen), zum anderen, ob das Ereignis oder Geschehen nachhaltige psychische oder körperliche Verletzungen bei den betroffenen Personen hinterlässt. In Kapitel 11 finden Sie Informationen zum Posttraumatischen Belastungs-Syndrom/PTBS.

      Weniger geläufig sind

       Mechanische Traumen, (z. B. durch Unfall, Gewalt),

       Chemische Traumen (z. B. durch Verätzung, Vergiftung) oder

       Physikalische Traumen (z. B. durch Strahlung, Kälte, Druck, Schall)

      Alle Arten von Dauerstress und Traumen – also nicht nur, aber auch, psychosozialer Stress – hinterlassen ihre Spuren, sie verändern nachhaltig unsere Physiologie, die Zellkommunikation und den Stoffwechsel und können zu chronischen Erkrankungen führen.

      Early Life Stress

      Frühkindliche (auch schon embryonale) Stress-Erfahrungen können langanhaltend schädigend auf das sich entwickelnde Immun- und Stress-System wirken. Je instabiler die Stress-Achsen durch frühe Lebensereignisse „eingestellt“ sind, desto stärker können Stressoren lebenslang (!) einwirken. Das lässt sich mit der Grundeinstellung eines Thermostats vergleichen. } Siehe Kapitel 34

      Early Life Exposom-Stress

      Psychosoziale Early Life Stress-Faktoren sind gut untersucht. Doch die sich entwickelnden Feten und Kinder sind vielen weiteren Faktoren ausgesetzt, deren Gesamtheit als Exposom bezeichnet wird. } Siehe Kapitel 3.2.3 Dazu gehören z. B. Chemikalien. Auch diese Stressoren können die Stress- und Immunregulation nachhaltig negativ beeinflussen – ggf. lebenslang. } Siehe Kapitel 34

      3.1.6 Stress verändert unser Verhalten

      Unter Dauerstress verändern sich Gehirnstrukturen: Die Dendriten der Amygdala verzweigen sich und werden durch die dauerhafte Beanspruchung „stärker“.

Wenn die Amygdala das Zepter übernimmt, handeln wir weniger vernunftgelenkt, sondern impulsiver, triebhafter, das Denken ist beeinträchtigt oder „blockiert“.

      Das kognitive Gehirn und das emotionale Gehirn fallen auseinander, statt Kohärenz entsteht Chaos. Konkret bedeutet das, dass bei Überforderung automatisiertes Handeln zunimmt, während das reflektierte, variable Reagieren auf Situationen abnimmt. Die Nervenfortsätze des Präfrontalen Kortex verkümmern: Neurone bauen Verbindungen ab, wenn sie nicht gebraucht werden.

       Das führt zu Entfremdung: Mit zunehmender Überforderung entfremden wir uns von uns selbst. Der Politikwissenschaftler Hartmut Rosa beschreibt die fehlende Weltbeziehung soziologisch: Wer unter Stress steht, kann nicht mehr mit anderen Menschen und mit der Umwelt in Resonanz treten.

       Zwischen Außenwelt und Innenwelt entsteht ein Spannungsfeld: Dazwischen steht „Eigentlich“. „Eigentlich“ würde ich gerne mehr Zeit haben für meine Familie, eigentlich möchte ich regelmäßig schwimmen gehen, eigentlich habe ich mir mein Leben anders vorgestellt.

       Gestresste können nicht mehr spüren, was guttut und was schadet. Selbst positive Erfahrungen werden nicht mehr gespeichert (Tunnelblick).

       Schlafstörungen treten auf, Nervosität, innere Unruhe, Motivationsverlust und Stimmungsschwankungen.

       Das führt bis hin zu mangelnder Impulskontrolle/Aggressivität, Niedergeschlagenheit, depressiven Episoden. Das Burnout-Syndrom, Depressionen oder Angsterkrankungen können sich entwickeln.

       Stressbedingte Sinnkrisen, Identitätsstörungen, Versagensängste werden berichtet.

       Dauerstress kann zu gesundheitsschädlichem Suchtverhalten führen: Rückzug, Rauchen, vermehrter Alkoholkonsum, Drogen- und Arzneimittel-Missbrauch.

      All diese Auswirkungen spiegeln sich in aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen. Ist es Zufall, dass mit steigender Stressbelastung, die derzeit zu beobachtende Verrohung zunimmt und auch sie sogenannten „Hasspostings“?

      3.1.7 Stress und (Epi-)Genetik

      Die Wissenschaftsdisziplin Epigenetik wird in Kapitel 28 erläutert. Neuere Forschungen belegen, dass sowohl genetische wie auch epigenetische Faktoren eine wesentliche Rolle bei der Verarbeitung von Stress spielen.

      Unsere genetische Konstitution wirkt sich auf unsere individuelle Stressanfälligkeit aus. Abschnitte des Erbgutes, die für die Aktivität der Stresshormone mitverantwortlich sind, (dazu gehören z. B. Polymorphismen der Gene BDNF, COMT, MAOA, FKBP5) stehen im Fokus der aktuellen Forschung. Dazu kommen die epigenetischen Einflüsse, also die Frage, ob vorhandene Gene abgelesen werden oder stillgelegt wurden.

Es gibt nach dem derzeitigen Stand der Forschung weder ein Burnout-Gen, noch ein Depressions-Gen – aber erhöhte Anfälligkeiten, die sich in einem komplexen Zusammenspiel mit anderen Genen, mit unserer Lebensweise und mit Lebensereignissen auf unsere individuelle Stressresistenz auswirken können.

      In einer akuten Stress-Situation werden Kaskaden von Adrenalin und Noradrenalin freigesetzt. Die Werte dieser sogenannten Katecholamine können um das 50-fache ansteigen. Sie binden an die alpha- und beta-adrenergen Membranrezeptoren vieler, sehr unterschiedlicher Zellen im ganzen Körper. Beta-2-Rezeptoren neigen bei chronischer Stimulation, z. B. bei chronischem Herz-Kreislauf Stress zur Desensibilisierung. Ihre Anzahl kann erheblich abnehmen. Die Rolle der Beta-2-Rezeptoren wurde z. B. bei ME/CFS-Patienten untersucht. 3.1.7/1 Wirth, Scheibenbogen

      Um die Stresshormone Adrenalin, Dopamin und Noradrenalin abzubauen, werden mehrere Enzyme benötigt. Dr. Kurt E. Müller beschreibt in seinem Positionspapier zur COVID-19 Pandemie u.a. den unguten Zusammenhang zwischen steigender Stresslast und unzureichendem Abbau der Stresshormone.

      „Der ursprünglich für Notfallreaktionen vorgesehene Gebrauch von Katecholaminen (KA) erfolgt inzwischen im alltäglichen


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