Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen. Sibylle Reith

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Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen - Sibylle Reith


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3.1.1/3 Dauerstress belastet das Autonome Nervensystem

      Das sympathische Nervensystem – das Gaspedal

      Der Sympathikus hat während des Tages seine aktive Phase. Er bewirkt die Anpassung an Stress-Situationen und ist damit auch zuständig für die Notfall-Antwort des Körpers auf Bedrohungen. Er wirkt anregend und leistungsfördernd. Er versetzt uns in einen Zustand höherer Aufmerksamkeit und Fluchtbereitschaft. Seine Kennzeichen sind die Energieentladung und die abbauenden Stoffwechselprozesse. Über die alarmierte Sympathikus-Nebennierenmark-Achse (das „Adrenalin-Netzwerk“) werden blitzschnell proinflammatorische Zytokine freigesetzt. } Siehe Kapitel 5.4 Ist der Sympathikus aktiv, wird sein Gegenspieler, der Parasympathikus, entthront.

Die Leistungsgesellschaft, wie wir sie heute erleben, ist Sympathikus-betont. Eine dauerhafte Sympathikonie (erhöhte Erregbarkeit des Sympathikus) fördert die Entzündungsbereitschaft und erhöht das Risiko z. B. für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

      In Kapitel 19 werden wir sehen, dass auch eine instabile Halswirbelsäule zu einer Dominanz des Sympathikus führen kann.

      Das Parasympathische Nervensystem

      Der Parasympathikus („Vagus“) wird auch Erholungsnerv genannt, denn er füllt verbrauchte Reserven wieder auf und sorgt so für Ruhe, Schonung, Reparatur der Zellen, Entgiftung, Verdauung etc. Er drosselt die allgemeinen Funktionen und bringt den Menschen in einen Ruhezustand – je aktiver der Parasympathikus ist, desto besser erholen wir uns. Seine Kennzeichen sind die Energiespeicherung und die aufbauenden Stoffwechselprozesse. Der Parasympathikus reguliert die Hemmfunktion der Organe über die Ausschüttung von Acetylcholin.

Entspannung hemmt EntzündungDer Vagusnerv kann über den cholinergen Transmitter Acetylcholin überschießende, inflammatorische Antworten regulieren. (Fachsprachlich: „Inflammatorischer Reflex“)

      Die beiden Gegenspieler Sympathikus und Parasympathikus verbinden das Gehirn mit den inneren Organen – und umgekehrt. Wenn wir gesund sind, arbeiten unsere Organe auch unter Anforderungen und Stress ohne Funktionsstörungen – ein Zeichen, dass die Wirkungen der beiden Kräfte im dynamischen Gleichgewicht sind.

Der gesunde Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung ist die Grundvoraussetzung für unser Wohlbefinden.

      Unter Dauerstress kann es zu vegetativen Fehlregulationen kommen, dann sind Sympathikus und Parasympathikus gleichzeitig und überall aktiv, während sie im gesunden Organismus rhythmisch abwechselnd und räumlich differenziert Impulse geben. So entstehen widersprüchliche Situationen: Wir haben Hunger und sind nach drei Bissen satt; wir schwitzen und haben kalte Hände und Füße, die Verdauung wechselt zwischen Verstopfung und Durchfall, der Kreislauf spielt verrückt. Wenn der Sympathikus auch in der Nacht aktiv bleibt, kann der Parasympathikus, der nachts für die Regeneration, für das Herunterfahren von Entzündungen und für die Entspannung des Organismus verantwortlich ist, seine Aufgabe nicht erfüllen.

      Erschöpfungszustände wie das Burnout-Syndrom (Überbetonung des Sympathikus; Daueraktivierung) einerseits und der Wellness-Boom andererseits (Erholung, Parasympathikus) spiegeln die Ausschläge der Wirkungsweisen unseres Vegetativen Nervensystems wider.

      3.1.2 Die zweite Kaskade der Alarm-Reaktion

      Jedem Stress-Ereignis folgt in einer zweiten Kaskade die Freisetzung von Cortisol. Dieses Schlüsselhormon reguliert das weitere Geschehen in Interaktion mit einem Netzwerk von weiteren Botenstoffen. „Cortison“ ist die synthetische Form des Hormons, die wir als Medikament kennen.

Stimulation der Cortisol-Netzwerk-AchseCortisol unterdrückt das Immunsystem und hemmt die Entzündungs-Prozesse, die bei jeder Stress-Antwort entstehen. Zudem vermindert es die Schmerzempfindung.

      Zurück zu unserem Fallschirm-Absprung: Sie sind gesprungen! Nach kurzer Zeit im freien Fall landen Sie, alles ist gut gegangen. Jetzt beginnt Ihr Körper über komplexe Cortisol-gesteuerte Rückkopplungs-Systeme wieder in ruhige Bahnen zu kommen. Die mit der Stimulation der Cortisol-Netzwerk-Achse verbundene Abgabe von Cortisol aus der Nebennierenrinde fährt die gesteigerte Entzündungsaktivität zurück.

      Abb. 3.1.2/1 Stress ist ein Ganzkörper-Ereignis

      Im gesunden Organismus werden innerhalb von 2–3 Stunden die Stressreaktionen durch mehrere komplizierte (und dadurch störungsanfällige) hormonelle, immunologische und neurale Schaltkreise herunter geregelt. Adrenalin, Noradrenalin, Cortisol und weitere interagierende Botenstoffe werden durch Enzyme abgebaut.

Das Netzwerk der BotenstoffeFür eine adäquate Stress-Antwort ist die rasche Wiederherstellung eines ausgeglichenen Zustandes (Homöostase) durch die koordinierte Aktivierung und Deaktivierung unterschiedlichster Botenstoffe entscheidend.

      Jetzt wird der Parasympathikus aktiv. Der Botenstoff Acetylcholin senkt Herzrate und Blutdruck, der Atem wird wieder gleichmäßiger, Sie entspannen sich. Das Adrenalin wird schnell wieder ausgeschieden. Cortisol bzw. die von ihm „angeforderten“ Substanzen verbleiben jedoch noch bis zu 72 Stunden im Organismus.

      Die Landung mit dem Fallschirm hätte schief gehen können, Sie hätten stürzen und sich verletzen können – der Organismus war durch die Bereitstellung von schnell verfügbarer Energie auf diese Bedrohung vorbereitet. Die Stressreaktion ermöglicht den unmittelbaren Einsatz der Muskeln. So sind unter Stress unglaubliche Leistungen möglich, die aus einer Ruhesituation nicht leistbar wären.

      3.1.3 Alarm – Widerstand – Erschöpfung

      Die Stressforschung unterscheidet drei Phasen der Stress-Antwort: Die Alarmreaktion, die Widerstandsphase und die Erschöpfungsphase.

      1. Die Alarmreaktion

      Droht Gefahr, ermöglicht die Alarmreaktion den unmittelbaren Einsatz von Muskeltätigkeit. Diese erste Sofortreaktion auf Stressoren, die im vorausgehenden Kapitel am Beispiel des Fallschirmsprungs geschildert wurde, ist seit Jahrtausenden unverändert, schon unsere Vorfahren zeigten im Angesicht des Säbelzahntigers das gleiche Stress-Muster: Jetzt ist kein Raum für Neugierde, Kreativität und flexibles Handeln – die Lösungsstrategie ist automatisiert – keine Zeit für wohlüberlegte, langfristige Auswege! Es geht um die Rettung aus akuter Gefahr.

      Alle Regulations- und Stoffwechsel-Systeme sind während der Alarmreaktion im Einsatz: Der Organismus ist bereit zu flüchten oder zu kämpfen.

Diese Mobilisierung von Energiereserven, die Bereitstellung der Stresshormone und der Entzündungs-Zytokine verbraucht viele Vitalstoffe. Der Organismus befindet sich in einem zeitlich begrenzten Verteidigungs- und Überlebensmodus.Alle Körpertätigkeiten, die nicht direkt der überlebensnotwendigen Stress-Anpassung dienen, wie Verdauung, Wachstum, Sexualität oder Schlaf, werden während der Stress-Antwort heruntergeregelt.

      Die akute Stress-Antwort kann unter Umständen lebensbedrohliche Folgen haben: So war beispielsweise 2006 die Herzinfarkt-Rate in Münchner Kliniken um das Dreifache erhöht, als Deutschland bei der WM um den Titel kämpfte.

      2. Die Widerstandsphase

      Die Stressfalle

      Wenn Anzahl, Dauer und/oder Intensität der Stressfaktoren die Kompensationsfähigkeit des Organismus nahezu ununterbrochen herausfordern, befinden wir uns im Dauerstress. Die negative Rückkopplung wird außer Kraft gesetzt, der Stresshormonlevel bleibt dauerhaft erhöht, die Regeneration geht verloren. Wir sind in der Stressfalle. Hohe Stresshormon-Spiegel täuschen nun permanent lebensbedrohliche Situationen vor.

Alle körperlichen Veränderungen, die bei akutem Stress zeitlich begrenzt geschehen, laufen nun andauernd ab und führen zu ständiger Bereitstellung von Energie, gleichzeitig zu hohem Energieverlust, zu Substanzabbau und zu anhaltenden Entzündungsreaktionen. Das Immunsystem ist dauerhaft aktiv.

      Im Überlebens-Modus

      Zugespitzt könnte man


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