Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen. Sibylle Reith
Читать онлайн книгу.und Umwelterkrankungen nehmen rasant zu.
Erworbene multisystemische Erkrankungen sind „die medizinische Signatur des Anthropozän“Die maximale biologische, psychische und chemische Belastbarkeit wird zunehmend überschritten, der Organismus wird überfordert, chronisch geschwächt und vulnerabel.Multisystemische Erkrankungen können als die strategische Antwort des Organismus auf herausfordernde Zeitumstände verstanden werden. Derzeit werden sie aber (noch!) nicht als kollektives, der Moderne geschuldetes Gesundheitsproblem erkannt.Erworbene Multisystemische Erkrankungen können allmählich auftreten, wie eine lange Dämmerung – dann bleiben sie lange unter der Wahrnehmungsgrenze. Dort, wo sie schlagartig und mit schweren Verläufen auftreten, „verschwinden“ die Betroffenen meist aus der Gesellschaft. |
Die COVID-19-Pandemie
Die Wurzel der derzeitigen Corona-Pandemie liegt in der menschengemachten Zerstörung gewachsener Lebensräume und dem dadurch ermöglichten Übersprung von Corona-Viren vom Tier zum Menschen. |
Epidemiologen und Umweltmediziner haben wiederholt auf diese Gesundheitsbedrohungen hingewiesen, sie wurden kaum gehört, als noch Prävention möglich war. Das noch junge Fachgebiet der Gesundheitsökologie untersucht die Bedeutung kranker und gesunder Ökosysteme für den Menschen. Dieser Wissenschaftszweig verweist nicht nur auf die anthropogene Verursachung der Pandemie, sondern macht auch darauf aufmerksam, dass Umweltbelastungen Effekte auf den Verlauf der COVID-19-Erkrankung haben. Feinstaub und andere Umweltbelastungen zerstören wichtige Immunzellen, u.a. die Natürlichen Killerzellen, die eine wichtige Rolle bei der Abwehr von Viren spielen. Es verwundert nicht, dass durch Langzeit-Expositionen die Infektionssterblichkeit mit jedem zusätzlichen Mikrogramm Feinstaub (PM 2.5) in der Atemluft ansteigt. Das zeigte eine US-amerikanische Studie, die im November 2020 veröffentlicht wurde. 2.2.3/1 Wu et al.
Die Kapitulation
In den folgenden Kapiteln wird der Prozess des allmählichen oder plötzlichen Kollabierens durch eine Vielzahl unterschiedlicher Variablen beschrieben, die in der Summe nicht bewältigt werden können. Die Fülle moderner Stressoren (Umweltallergene, Schadstoffe, Zusatzstoffe in Nahrungsmitteln, psychosoziale Belastung, ständige Erreichbarkeit u.a.) haben an Quantität und Qualität ein Ausmaß erreicht, das durch die synergistische Dauer-Reizung als Dauer-Entzündung unser Immunsystem überfordert und zu einer allmählichen oder plötzlichen gesundheitlichen Kapitulation führt.
Diese Kapitulation ist die Wurzel der Entstehung der multisystemischen Krankheitsbilder. |
2.3 Systemische Epimedizin
Erworbene multisystemische Komplex-Erkrankungen entstehen aus der unübersichtlichen Gemengelage zwischen sehr vielen, sehr unterschiedlichen Reizfaktoren, variablen körperlichen und seelischen Stressantworten, den daraus entstehenden multiplen Regulations-Störungen und den wiederum daraus entstehenden vielfältigen Symptomen. |
Die Komplexität moderner Erkrankungen erfordert eine veränderte Herangehensweise in Diagnostik und Therapie. Daher wird im vorliegenden Buch die Bezeichnung „Systemische Epimedizin“ für ein umfassendes, interdisziplinäres, systemisches Medizinkonzept vorgeschlagen, das dem Netzwerkcharakter dieser Erkrankungen gerecht wird. Erforderlich ist die Kooperationen zwischen Haus- und Fachärzten, Molekular- und Systembiologen, der Klinischen Umweltmedizin, Ökotoxikologen und ggf. weiteren medizinischen Fachrichtungen.
Der Leitbegriff „Systemische Epimedizin“ verweist auf die systemischen Zusammenhänge zwischen unseren Regulations-Systemen und auf die Wechselbeziehungen der Umwelt mit unseren Genen und den Mitochondrien.Die Systemische Epimedizin und ihre Wissenschaftsdisziplinen werden in TEIL 5 ausführlich beschrieben. |
Die Benennung lehnt sich an die in Kapitel 28 beschriebene neue Wissenschaftsdisziplin der Epigenetik an.
Die Systemische Epimedizin basiert auf einem systemmedizinischen Krankheitsverständnis, das z. B. in großangelegten Förderprojekten wie e:med vom Bundesministerium für Bildung und Forschung vorangetrieben wird. } Siehe Kapitel 25
EmKE sind noch lange nicht vollständig verstanden, aber Segmente dieser Erkrankungen sind schon nach heutiger Datenlage ursächlich behandelbar. Die Systemische Epimedizin bietet ein wissenschaftlich begründetes, systemmedizinisches Konzept für das Verständnis Erworbener multisystemischer (Komplex-)Erkrankungen. |
2.4 Homöostase: Stabilisierungs-Strategien
Unser Überleben hängt davon ab, dass wir uns den ständig wechselnden Lebens- und Umgebungszuständen anpassen können. Alle lebenden Organismen sind permanent damit beschäftigt die biologische Balance zu erhalten. Unser Blutzuckerwert wird ständig reguliert, unser Immunsystem ist gesund, wenn es weder überschießend noch defizitär reagiert. Der Energiestoffwechsel, das Herz-Kreislauf-System, die Atmung – die Anpassung unserer Körperchemie an die aktuelle Situation ist ein Wunderwerk, das, wenn wir gesund sind, unbemerkt und reibungslos in unserem Organismus abläuft.
Die HomöostaseGesundheit ist kein statischer Zustand, sondern ein permanentes Kreisen um ein volatiles Gleichgewicht. Alle Regelkreise in unserem Organismus kreisen um eine „goldene Mitte“ innerhalb eines engen Korridors. Dieses lebenslange Ringen wird Homöostase genannt.Die lebenserhaltende Anpassungsleistung stellt höchste Anforderungen an das komplizierte Zusammenspiel unseres Organismus und ist deshalb störanfällig. |
Reize wie Erreger, niedriger Blutzucker, geringe Sauerstoffversorgung des Gewebes, extreme Hitze oder Kälte, Wunden, Noxen, Schmerzen oder psychische Belastungen verlangen nach einer Reaktion. Unser Organismus ist in einem permanenten Zustand der Selbstverteidigung und ringt um die Selbsterhaltung. Solange alles reibungslos funktioniert, entzieht sich dieses Geschehen weitgehend unserer Wahrnehmung.
Wir bestehen aus 37 Billionen Körperzellen. Jede einzelne Zelle verfügt über rund 3.000 Enzymsysteme, und in jeder Körperzelle geschehen 100.000 Stoffwechselvorgänge pro Sekunde, ca. einhundert Mal pro Minute findet ein Wasseraustausch statt. Pro Sekunde entstehen rund 50 Millionen neue Zellen. |
In unserem Organismus summt und brummt es sozusagen ständig. Die Regulationssysteme versenden ihre Botenstoffe (Hormone, Neurotransmitter, Zytokine) mit Nachrichten wie: „Alles gut, keine Gefahr“ bis hin zu „Achtung, Achtung, gefährlicher Eindringling, volle Abwehrpower, Lebensgefahr!“ Diese ständige Anpassungsleistung ermöglicht es uns Menschen sowohl in sibirischer Kälte wie auch im tropischen Regenwald zu überleben.
Homöostase ist die Fähigkeit des Organismus, Störung des inneren Gleichgewichts permanent auszugleichen. Gesund bleiben und gesund werden hängt ganz wesentlich von der Fähigkeit zur Selbstregulation/Homöostase ab.Wenn die Stabilisierungs-Maßnahmen nicht mehr greifen, sind Leib und Seele in Not. |
Dann versagt die mitochondriale Synchronisation, wir empfinden körperliches und seelischen Unbehagen, das bei dauerhafter Überlastung erst zu Beschwerden, dann zu Krankheiten führt – ggf. bis hin zu einer Regulationsstarre. Mit zunehmendem Alter wird die Fähigkeit zur Homöostase eingeschränkter. Der Tod setzt das eindeutige Zeichen, dass es dem Organismus trotz aller Stabilisierungs-Anstrengungen nicht mehr gelingt, die Homöostase aufrecht zu erhalten.
Allostatische Belastung
Das Autorenduo McEwen und Stellar führten 1993 das Konzept der „allostatischen Belastung“/Englisch: „allostatic load“ ein. 2.4/1 McEwen, Stellar Allostasis bedeutet wörtlich „Stabilität durch Wandel“. Während bei der Homöostase von einem „optimalen Sollwert“ ausgegangen wird, weist das Allostase-Konzept darauf hin, dass alle physiologischen Parameter innerhalb dynamischer Grenzen variieren und sich auf einem neuen Niveau einpendeln können.
Aus Sicht der Systemischen Epimedizin ist jede multisystemische Erkrankung der individuelle Ausdruck einer aus dem Gleichgewicht geratenen Homöostase, bzw. einer überforderten Allostase auf mehreren regulativen Ebenen. |
2.4.1 Zum Vergleich: Kipp-Punkte im Klimasystem
Hans Joachim Schellnhuber, Direktor Emeritus des Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, entwickelte das Konzept der Kippelemente, bzw. Kipp-Punkte. In der Erdsystem- und Klimaforschung wird von Kipp-Punkten gesprochen, wenn durch relativ geringe äußere Einflüsse ein neuer, labilerer Zustand im globalen Erd- und Klimasystem entsteht: