Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen. Sibylle Reith

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Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen - Sibylle Reith


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Europa

      Für die Jahre 2012–2016 wurde im Jahr 2006 eine Europäische Strategie zur Prävention und Bekämpfung nichtübertragbarer Krankheiten von der WHO verabschiedet. Der Aktionsplan zur Prävention und Bekämpfung nichtübertragbarer Krankheiten in der Europäischen Region der WHO ist die Fortschreibung und Überarbeitung für die Jahre 2016–2025.

      Abb. 1.1.1/1 Gründe für Todesfälle 2015

       Das Umweltbundesamt informiert:

      „Die Lancet-Kommission zum Thema „pollution and health“ stützt sich auf Daten unterschiedlicher Institute und konstatiert für das Jahr 2015, dass weltweit circa neun Millionen Todesfälle auf Umweltverschmutzung zurückzuführen sind. Allein 4,2 Millionen Todesfälle werden global den Auswirkungen von Feinstaub in der Umgebungsluft zugeschrieben, was die große Bedeutung dieses Risikofaktors für die Gesundheit veranschaulicht. Damit ist Feinstaub in Bezug auf Mortalität einer der wichtigsten Risikofaktoren. Im Vergleich dazu können ernährungsbezogenen Risikofaktoren jährlich weltweit circa 12,1 Millionen, Bluthochdruck 10,7 Millionen, Adipositas 4,0 Millionen, Alkoholmissbrauch 2,3 Millionen und Verkehrsunfällen 1,4 Millionen Todesfälle zugeschrieben werden.“ [Quellenhinweise im Original] 1.1.1/7 UMID

      Kapitel 2 Der Begriff „Multisystem-Erkrankung“

      In Kapitel 1 haben wir uns einen Einblick verschafft über Zivilisations-, bzw. über Nichtübertragbare Erkrankungen. Doch was verstehen wir unter multisystemischen Erkrankungen? Zunächst wenden wir uns den Multisymptom-Erkrankungen zu, um dann zu einer ersten Annäherung an den Begriff „Multisystem-Erkrankung“ zu kommen.

      2.1 Multisymptom-Erkrankungen

      Der Begriff „Chronische Multisymptom Erkrankung“ wurde 1998 erstmals als „chronic multisymptom illness“ eingeführt, um chronische unerklärliche Symptome der Air Force Veteranen des Golf Krieges von 1991 zu benennen. 2.1/1 Fukuda et al. Die aus dem Golfkrieg 1991 zurückgekehrten Veteranen wiesen eine solche Fülle an Symptomen auf, dass sie nicht in die bestehenden Klassifikationen einzuordnen waren. Sie litten unter massiver Erschöpfung und Müdigkeit (fachsprachlich Fatigue), Störungen des Nervensystems, des Atemsystems, chronischen muskulären Störungen, Magen-Darm-Störungen, kognitiven und emotionalen Auffälligkeiten (z. B. Apathie, geringe Stresstoleranz-Grenze und/oder Überreizung) sowie unter Schlafstörungen. Diese Symptome traten innerhalb der Rückkehrer individuell sehr unterschiedlich auf, so dass kein einheitliches Symptombild zu erkennen war.

      Unter anderen Begriffen war dieses Phänomen auch schon bei Militärpersonal in Einsätzen vor dem Golfkrieg beschrieben worden. Die Golfkrieg-Veteranen schienen aber in besonders schwerem Ausmaß betroffen zu sein.

      Medizinisch unerklärliche Symptome

      Ein Komitee des Institute of Medicine/IOM (Washington, USA) veröffentlichte 2013 eine Publikation, die sich mit „Chronischen Multisymptom-Erkrankungen“ befasste und Behandlungs-Optionen untersuchte. Das IOM-Komitee betonte, dass die für die Golfkriegs-Veteranen beschriebenen Symptome nicht nur bei dieser Gruppe zu finden waren, sondern auch in der zivilen Bevölkerung weite Verbreitung zeigten. Für vergleichbare Erkrankungen im zivilen Bereich wurden Begriffe wie “Medically unexplained (physical) symptoms/MU(P)S”, auf Deutsch: „Medizinisch unerklärbare (körperliche) Symptome“ oder „Funktionelle somatische Störung“ verwendet.

Diese “Medically unexplained (physical) symptoms/MU(P)S” ließen sich weder bei den definierten psychischen Erkrankungen einordnen noch als organische Erkrankungen im klassischen Sinne. [Ü.d.A.] 2.1/2 Burton

      Mediziner vermuteten, dass diese Art von Erkrankung multifaktoriell verursacht sei und physiologische, psychologische und soziale Faktoren einschließe. Eine niederländische Studie, die 2009 veröffentlicht wurde, zeigte, dass nahezu 60 % der Patienten, die unter „unerklärbaren Symptomen“ litten, auch nach zwölf Monaten noch keine Diagnose erhalten hatten. 2.1/3 Koch et al. Um dieser rätselhaften Erkrankung anhand einer Falldefinition näherzukommen, verfasste das IOM-Komitee eine Definition für Multisymptom-Erkrankungen. Die englischsprachige Abkürzung lautet „CMI“ für Chronic Multisymptom Illness. Diese Abkürzung wird in anderen Veröffentlichungen auch für „chronic multisystem illness“ verwendet.

      Definition des US-amerikanischen IOM-Komitees für Chronische Multisymptom-Erkrankungen/CMI (2013)

      „CMI ist ein komplexer, uneinheitlicher Zustand, und seine Falldefinition kann sich ändern, wenn neue wissenschaftliche Informationen auftauchen. Für die Zwecke dieses Berichts hat der Ausschuss CMI wie folgt definiert:

      Das Vorhandensein eines Spektrums chronischer Symptome, die in mindestens zwei von sechs Kategorien – Müdigkeit, Stimmung und Kognition, Muskel-Skelett, Magen-Darm, Atmung und Neurologie – auftreten, die mit bekannten Syndromen (wie Reizdarm, CFS und Fibromyalgie) oder anderen Diagnosen überlappen können, aber nicht vollständig erfasst werden.

      Es ist wichtig zu beachten, dass die Definition des Ausschusses keine Syndrome mit genau definierten diagnostischen Kriterien wie Reizdarm, CFS und Fibromyalgie umfasst. Aufgrund der gemeinsamen Symptome können jedoch wirksame Therapien für diese definierten Syndrome für Patienten mit CMI von Vorteil sein.“ [Ü.d.A.] 2.1/4 IOM

      2.2 Erworbene Multisystem-Erkrankungen

      Multisymptom- oder Multisystem-Erkrankung?

Während für „chronic multisymptom illness“ eine erste, weit gefasste Definition vorliegt, scheint es für den Begriff „Multisystem-Erkrankung“ keine ausgearbeitete einheitliche Definition zu geben. Je nach Quelle werden sehr unterschiedliche Erkrankungen unter diesem Begriff subsummiert.

      Die medizinische Herausforderung unserer Zeit

      Bei Erworbenen multisystemischen (Komplex-)Erkrankungen scheinen alle Faktoren variabel, uneinheitlich und kaum greifbar zu sein: Die Symptome, der Verlauf, die Schwere, die Auslöser und die Ursachen. Betroffene leiden unter zahlreichen, meist unspezifischen und oft kaum lokalisierbaren Beschwerden. In Studien werden bis zu 200 unterschiedliche Symptome aufgezählt. Diese organübergreifenden „Ganzkörper“-Phänomene, die auf regulativen Störungen beruhen, werden als „systemisch“ bezeichnet. Als organübergreifende Ganzkörper-Erkrankungen erfüllen sie weder die Kriterien der Organpathologie im klassischen Sinn noch die der klassischen Infektionskrankheiten. Die Patientengruppen sind selbst bei gleicher Diagnose sehr heterogen.

      Sie lassen sich auch nicht, das ist wichtig, als Primäre Psychische und Psychiatrische Erkrankungen klassifizieren. (Für PTBS lesen Sie bitte Kapitel 11).

EmKE sind multikausal begründetEs gibt nicht die eine Ursache, sondern stets mehrere (Summenbelastung). Dabei spielen biologische, chemische, physikalische und psychosoziale Belastungen eine jeweils individuell zu gewichtende Rolle. Stoffliche (z.B. Viren, Umweltschadstoffe) und nichtstoffliche (z.B. elektromagnetische) Reize interagieren synergistisch und ziehen biochemisch ähnliche Reaktionskaskaden nach sich.
EmKE betreffen multiple Regulations-SystemeDurch quantitativ und qualitativ unüberschaubare Einflüsse werden die regulierenden Abläufe im Immun-, Hormon- und Nervensystem extrem herausgefordert. Dadurch entstehen einmalige, individuelle Kombinationen von multisystemischen Fehlsteuerungen. Auch die Psyche wird in Mitleidenschaft gezogen.
EmKE betreffen multiple Organe in ihrer FunktionsfähigkeitDie Fehlsteuerungen betreffen den ganzen Organismus. Sie haben funktionelle Auswirkungen auf mehrere Gewebe, Strukturen und Organe. Sie führen zu meist unspezifischen Symptomen. Patienten beschreiben typischerweise, dass die Beschwerden „überall und nirgends“ auftreten.
EmKE zeigen multiple SymptomeBei den drei EmKE werden jeweils spezifische Leitsymptome beschrieben. Typischerweise treten zugleich zahlreiche unspezifische Symptome auf – die häufigsten sind Schmerzen und Fatigue.
EmKE
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