Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen. Sibylle Reith

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Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen - Sibylle Reith


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      Medizinisch unerklärlich?

      Um eine Diagnose zu stellen, verschafft sich der Behandler im ärztlichen Vorgespräch (fachsprachlich Anamnese), ein umfassendes Bild der Krankheitsvorgeschichte des Patienten. Er fragt nach aktuellen Beschwerden, Schmerzen, Allergien, bisherigen Krankheiten und Operationen. Von der Anamnese hängen die weiteren Schritte ab: die körperliche Untersuchung, Labordiagnostik (Blut- und Urinstatus), danach gegebenenfalls weiterführende apparative Untersuchungen wie EKG oder bildgebende Verfahren (Röntgen oder Ultraschall). Im besten Fall wissen Arzt und Patient am Ende, welche Erkrankung vorliegt und wie sie zu behandeln ist.

       Multisystemische (Komplex-)Erkrankungen werden jedoch häufig als „Medizinisch nicht erklärbare Symptome“, bzw. „Medizinisch nicht erklärbare (körperliche) Erkrankung“ beschrieben. Englischsprachig: Medically unexplained (physical) symptoms (MUS oder auch MUPS)/} Siehe Kapitel 31

      Abb. 2.2.1/1 Medizinisch unerklärlich?

       Die biopsychosoziale Behandlung: Psychosomatiker, Psychotherapeuten, Psychologen oder Psychiater untersuchen und behandeln das Erleben und Verhalten, z.B. Kindheitsprobleme, familiäre Spannungen, psychosoziale Belastungen, innere Konflikte. Die Diagnosefindung beruht auf Interviews, Fragebogen, Selbstbeschreibungen, Verhaltensbeobachtung oder Zeichnungen. Diese Erhebungen müssen interpretiert werden und sind damit subjektiv. Ergänzende objektive komplexmedizinische Laborparameter, die über die Regelversorgung hinausgehen, z.B. zum Zustand der Mitochondrien, werden üblicherweise nicht erhoben.

      Abb. 2.2.1/2 Die komplexmedizinische Behandlung basiert auf klinischer Beobachtung und objektivierenden Befunden.

      Abb. 2.2.1/3 Zwei Faktoren bewirken, dass EmKE seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert werden

„Medizinisch unerklärlich“ bedeutet, dass mit Hilfe der verwendeten diagnostischen Routine-Methoden kein organischer Befund erhoben werden konnte und von dem Behandler angenommen wird, dass auch weiterer diagnostischer Aufwand keinen organischen Befund erbringen würde.

      Möglicherweise werden Patienten aber auch an Fachärzte weiterverwiesen. In Deutschland gibt es 34 medizinische Fachdisziplinen, wie die Allgemeinmedizin, die Immunologie oder die Neurologie. Mehrere dieser Facharztrichtungen sind wiederum in weitere medizinische Spezialgebiete unterteilt. Betroffene Patienten verbringen sehr viel Lebenszeit in mehreren unterschiedlichen (Fach-)Arztpraxen – doch auch hier ergibt sich keine Erklärung für die Beschwerden. Die werden daher als psychisch bedingt interpretiert. } Siehe Kapitel 31 Multisystemische Erkrankungen sind jedoch „Ganzkörper-Erkrankungen“, die die patientenzentrierte interdisziplinäre Kooperation mehrerer Fachdisziplinen und spezifische Untersuchungen erfordern. Die üblichen sieben bis acht Minuten, die ein Hausarzt pro Patientenkontakt investiert, reichen für eine effektive Versorgung komplexer, chronischer Multisystem-Erkrankung bei weitem nicht aus. Die „Sprechende Medizin“ muss besser honoriert werden.

      Medizinisch erklärbar

      Der Titel des Buches, Explaining unexplained Illnesses von Prof. Pall weist darauf hin, dass zwischen „medizinisch unerklärlich“ und „medizinisch erklärbar“ offenbar eine Wahrnehmungs- bzw. Wissenslücke vorliegt. Zuordnungen zu psychogenen Klassifizierungen sind folglich an der Tagesordnung, wie man zahllosen Patienten-Berichten entnehmen kann.

Die Tatsache, dass mit üblichen Standard-Untersuchungen und der Routine-Labordiagnostik keine auffälligen Befunde ans Licht kommen, lässt jedoch nicht den Umkehrschluss zu, dass diese nicht vorhanden sind!

      Die komplexmedizinische Diagnostik

      Vielfach entpuppen sich „Unerklärliche Beschwerden“ anhand objektivierbarer Befunde als (schwerwiegende) behandlungsbedürftige immunologische, neurologische und/oder metabolische Entgleisungen.

      Wenn nachweisbare molekularbiologische und umweltmedizinische ursächliche Aspekte nicht untersucht werden, bleiben „rätselhafte“ chronische Erkrankungen medizinisch ungeklärt. Diese spezifischen Untersuchungen nenne ich „komplexmedizinische“ Diagnostik.

      Mit Hilfe der NextGen Metabolomics können heute mit einer einzigen Blutprobe über 500 Moleküle aus mehr als 60 verschiedenen biochemischen Stoffwechselwegen gemessen werden. Diese innovativen, massenspektrometrischen Technologien werden in der Forschung eingesetzt. Moderne Technologien führen zu einer riesigen Kluft zwischen (alltäglicher) klinischer Anwendung und (Spitzen-)Forschung.

Wir werden sehen, dass engagierte Behandler in der Zusammenarbeit mit ebenso engagierten Laboren eine ganze Reihe praktikabler und bezahlbarer komplexmedizinischer Untersuchungen und Therapien entwickelt haben, die die Lebensqualität multisystemisch erkrankter Patienten in zahllosen Fällen moderat bis massiv verbessert haben.Die Kosten dieser komplexmedizinischen Versorgung werden derzeit dennoch nicht regelhaft von den Krankenkassen übernommen. Viel EmKE-Patienten haben kein Arbeits-Einkommen und können sie sich unter diesen Rahmenbedingungen diese Versorgung nicht leisten.

      Was sind Omics?

      Die Endsilbe -omic (auf Deutsch -omik) wird verwendet, um die Gesamtheit eines Untersuchungsobjektes zusammenzufassen. „Omics“-Technologien umfassen molekularbiologische Methoden, die mit Hilfe von Hochdurchsatz-Technologien in kürzester Zeit globale, hochaufgelöste molekulare Profile von Zellen und Geweben erstellen. Etymologisch geht der Begriff auf das Sanskrit-Wort OM zurück, das „Vollkommenheit und Fülle“ bedeutet.

      Zu den -Omiks zählen z. B.:

      Genomik: Gesamtheit der Gene

      Proteomik: Gesamtheit der Proteine

      Metabolomik (auch Metabonomik): Gesamtheit der Metaboliten/Stoffwechselprodukte

      Proteomik: Gesamtheit der Proteine

      Transkriptomik: Gesamtheit der Transkriptomen (mRNA). Sie zeigt, welche Gene gerade aktiv abgelesen werden.

      Lipidomics: Gesamtheit der Lipide.

      Glycomics: Gesamtheit der Zucker und Kohlenhydrate.

      Epigenomik: Gesamtheit der epigenetischen Modifikationen.

      Mikrobiomik: Genome der Mikroorganismen.

      Connectomics: Connectome, der Gesamtheit der neuronalen Verbindungen im Gehirn.

      Individuell

      Regional, national und international gleicht kein Mensch dem anderen: wir haben individuell sehr unterschiedliche Genom-, Proteom-, Metabolom- und Mikrobiom-Identitäten. Jeder Mensch hat schon allein genetisch und epigenetisch einen einzigartigen und individuellen Fingerprint unterschiedlicher Merkmale: z. B. Polymorphismen, Mutationen oder RNAs.

      Mit Hilfe der Omic-Technologien können Schadstoff-Expositionen ebenso nachgewiesen werden wie Veränderungen im Stoffwechsel als Reaktion auf Expositionen. Diese Technologien haben das Potenzial, unser Verständnis über Krankheitsursachen und über Krankheitsverläufe maßgeblich zu erweitern.

      Big Data

      Die Methoden der Molekularbiologie (-Omics) werden ergänzt durch weitere KI (Künstliche Intelligenz) Technologien. Der Einsatz dieser Technologien, die zu riesigen Datenansammlungen, zu „digitalen Zwillingen“ und zu „gläsernen Patienten“ führt, hat Licht- und Schattenseiten. } Siehe Kapitel 35

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