Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen. Sibylle Reith

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Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen - Sibylle Reith


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aufweisen, erleiden sie Defizite in Diagnostik, Therapie und Versorgung. Sie erleben oft über Jahre diagnostische Unsicherheiten, eingeschränkte Behandlungs-Optionen und ggf. schädigende Fehlbehandlungen. Es besteht ein enormer Leidensdruck und damit ein dringender Handlungsbedarf.

      Das „zweite Buch der Medizin“

      Erworbene multisystemische (Komplex-)Erkrankungen erfordern als systemische „Ganzkörper-Erkrankungen“eine Erweiterung des Krankheitsbegriffes bzw. ein neues Krankheitskonzept.

Prof. Pall spricht von einem neuen „10. Paradigma“. } Siehe Kapitel 5.5

      Prof. Robert K. Naviaux leitet das Robert Naviaux Labor an der University of California San Diego School of Medicine/UCSD. Der international anerkannte Experte, forscht zu mitochondrialen und anderen stoffwechselbezogenen Faktoren. In Kapitel 27.3 wird die von Prof. Naviaux erforschte „Cell danger response/CDR (Deutsch: Antwort auf Zellgefahren) beschrieben, die für das Verständnis chronischer Krankheiten wesentlich ist. Prof. Naviaux spricht von einem ersten und zweiten „Buch der Medizin“.

      Das erste Buch der Medizin

      „Seit 5.000 Jahren geschriebener Geschichte konzentriert sich die Medizin auf die Behandlung von akuten Verletzungen durch Traumata, Infektionen und Vergiftungen. Dies ist das Thema des Ersten Buches der Medizin („Buch I“). Das Erste Buch der Medizin wird im 21. Jahrhundert von jedem Arzt und biomedizinischen Wissenschaftler gelehrt. Wenn jedoch eine Verletzung oder Krankheit nicht innerhalb von sechs Monaten geheilt ist, wird sie als chronische Krankheit betrachtet, und die Regeln der Akutmedizin reichen nicht mehr aus. Um chronische Krankheiten effektiv zu behandeln, brauchen wir ein neues Buch der Medizin. Die Behandlung und Vorbeugung von chronischen Krankheiten ist der Schwerpunkt des Zweiten Buches der Medizin („Buch II“). [Ü.d.A.] 2.2.2/1 Naviaux

      Ein zweites Buch der Medizin

      „Um die steigende Flut chronischer Krankheiten zu behandeln, ist ein Zweites Buch der Medizin erforderlich. Das Erste Buch der Medizin enthält den Korpus medizinischen Wissens aus den letzten 5.000 Jahren geschriebener Geschichte. Aus dem Ersten Buch der Medizin lernten Ärzte, wie sie akute Krankheiten behandeln können, die durch Infektionen, Vergiftungen und körperliche Verletzungen verursacht wurden. Typische akute Krankheiten dauern weniger als sechs Monate. Das Thema des Zweiten Buches der Medizin wird die Ursache und Behandlung chronischer Krankheiten sein, die länger als sechs Monate dauern.“ [Ü.d.A. Quellenhinweise im Originaltext] 2.2.2/2 Naviaux

      Ein epochaler Wandel

      Wir haben es heute kaum mehr mit abgrenzbaren, eindeutigen Krankheits-Manifestationen zu tun, sondern mit komplexen Krankheitsbildern, die miteinander verflochten sind und sich überlappen. Diese Krankheitsbilder sind unscharf, die Diagnosestellung ist aufwändig.

      Statistisch inexistent

      Insbesondere ME/CFS und MCS werden selten korrekt diagnostiziert und finden derzeit keinen Eingang in offizielle behördliche Statistiken. Die jeweiligen Diagnosekodes werden weder von Haus- noch von Fachärzten auch nur annähernd angemessen vergeben. Die Lehrbücher schweigen, wer Medizin studiert, wird – wenn überhaupt – nur rudimentär aufgeklärt. Weder Kranken- noch Rentenkassen liefern verlässliche Daten. Antworten der Bundesregierung auf mehrere Kleine Anfragen trugen bislang auch nicht zur Aufklärung bei. Unklar sind auch die direkten und indirekten Krankheitskosten. FMS und PTBS sind zumindest als Diagnosebegriffe bekannt, belastbare Daten fehlen dennoch in vielerlei Hinsicht. Keine dieser vier Krankheiten gehört zu den sogenannten „Seltenen Erkrankungen“.

Für Multisystemische (Komplex-)Erkrankungen besteht durch die Daten-Lücke eine Wahrnehmungs-Lücke und folglich eine Versorgungslücke.Bis zu einem umfassenden Problembewusstsein liegt offensichtlich noch ein weiter Weg vor uns.

      Hidden diseases

      Das Europäische Parlament beschrieb ME/CFS im Jahr 2020, (also im Jahr 51 nach der offiziellen, weltweit gültigen WHO-Klassifizierung von ME/CFS im Jahr 1969!) in einer vielbeachteten Resolution als „verborgenes Problem im Gesundheitswesen“ und forderte die Mitgliedsstaaten auf, aktiv zu werden. Diese Resolution war ein Plädoyer für die Anerkennung von ME/CFS und sie forderte Aufklärung über die Erkrankung. 2.2.2/3 EU-Parlament Auch weitere multisystemische (Komplex-)Erkrankungen werden zunehmend international als Hidden Diseases/verborgene Erkrankungen wahrgenommen.

      Licht am Horizont?!

      Zumindest für ME/CFS-Patienten könnte die Corona-Pandemie zum Game-Changer werden. Jeder zehnte COVID-19-Patient leidet unter Langzeitfolgen, wir erleben in Echtzeit die Entstehung der neuen multisystemischen Erkrankung „Post-COVID-19-Syndrom“. Geschätzt zwei Prozent aller positiv Getesteten entwickeln ein ME/CFS.

In allen führenden Medien wird nun nicht nur über die Corona-Pandemie, sondern auch über die weitverbreitete, aber ignorierte Erkrankung ME/CFS berichtet.

      Der komplette Mangel an Versorgungs-Strukturen für Post-COVID-19-Patienten offenbarte das Versorgungsdesaster, das (seit Jahrzehnten) für multisystemische Komplex-Erkrankungen besteht. Unter diesem Druck reagiert die Bundesregierung mittlerweile mit ersten Förderprogrammen und wissenschaftlichen Evaluationen. } Siehe Kapitel 7 und Kapitel 10

      2.2.3 Die medizinische Seite des Anthropozän

      In der jüngeren Vergangenheit fanden innerhalb weniger Jahrzehnte revolutionäre Umwälzungen statt. Unsere biologische, geologische und atmosphärische Umwelt veränderte sich durch neue Technologien und Elektrotechnik nachhaltig und, wie wir heute wissen, zum Teil irreversibel. Unsere menschengemachten Spuren werden über lange geologische Zeiträume hinweg erhalten bleiben. Der Weltbiodiversitätsrat/IPBES berichtet:

       Das Artensterben ist heute mindestens dutzende bis hunderte Male größer als im Durchschnitt der letzten zehn Millionen Jahre.

       75 % der Landoberfläche und 66 % der Meeresfläche sind stark verändert. Über 85 % der Feuchtgebiete sind verloren gegangen.

       Diese negative Entwicklung ist auf zahlreiche direkte Treiber wie beispielsweise Landnutzungsänderungen, Umweltverschmutzung und Klimawandel zurückzuführen.

      Unter Wissenschaftlern wird zunehmend der Begriff „Anthropozän“ diskutiert oder schon verwendet, Dieser Begriff wurde 2002 in dem Artikel Geology of mankind in der Zeitschrift Nature von dem Nobelpreisträger für Chemie, Prof. Paul J. Crutzen vorgeschlagen. „Anthropozän“ steht für das derzeitige neue Zeitalter, in dem der Mensch als wichtigster Einflussfaktor auftritt. Prof. Crutzen beschrieb, dass die durch Menschen verursachten Veränderungen seit dem Beginn des industriellen Zeitalters so massive Auswirkungen auf die Atmosphäre unseres Planeten haben, dass sie eine neue geologische Epoche rechtfertigen.

      Mittlerweile lassen sich in Sedimentschichten Aluminium, Betonreste, Plastikteilchen, Kohlenstoffverbindungen wie CO2, Fallout aus Atombombenversuchen u.a. nachweisen. Selbst im Weltraum nimmt der Schrott zu. Kunststoffe im Atlantik bedecken eine Fläche, die das dreifache Ausmaß von Deutschland umfasst, unsere Atmosphäre ist durch Kohlendioxid- und Methanmoleküle verändert.

      Im April 2019 fand in der Universität Wien die Tagung The Anthropocene – Challenging the Disciplines statt. Es war die erste Veranstaltung des neu gegründeten Vienna Anthropocene Network, die das vorgeschlagene neue Erdzeitalter aus unterschiedlichen Fachrichtungen beleuchtete.

      Die medizinische Signatur des Anthropozän

Erde, Wasser, Licht und Luft haben ihre Reinheit verloren. Synthetische Substanzen gehören zum Alltag – und finden sich in unserem Organismus wieder: In allen Körperflüssigkeiten und in (Fett-)Geweben.

      Der gemeinsame Lebensraum hat sich seit dem Beginn des industriellen Zeitalters drastisch verändert. Tausende Generationen vor uns lebten zwar nicht gefahrlos – aber ohne synthetisch hergestellte (Gefahr-)Stoffe. Unsere Lebensgrundlagen sind teilweise so vergiftet oder verstrahlt, dass sie als Lebensräume für Menschen nicht mehr geeignet sind. Die Katastrophe von Fukushima ist dafür eines der deutlichsten Beispiele.

      Die „Innenweltverschmutzung“ durch synthetische Substanzen, Strahlen und Partikel spielt ursächlich


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