Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen. Sibylle Reith
Читать онлайн книгу.Informationen über die Schadstoffbelastung von Bürgern durch Umweltchemikalien und deren Zusammenwirken mit anderen gleichzeitig auftretenden Umweltbelastungen sowie den Auswirkungen auf die Gesundheit. Dies erschwert eine zuverlässige Risikobewertung und -steuerung von Umweltchemikalien. Jeder von uns ist im Alltag einem komplexen Mix von Chemikalien ausgesetzt – durch Umwelteinflüsse, Produkte, Kosmetika, Lebensmittel, Trinkwasser und am Arbeitsplatz. Für viele Umweltchemikalien sind die gesundheitlichen Auswirkungen, die mit einer lebenslangen Exposition einhergehen, unbekannt. Zudem ist das Wissen über gesundheitliche Auswirkungen von Chemikalienmixturen begrenzt.“ 3.2.6/1 UBA
Mit Hilfe von Human-Biomonitoring werden die Belastung der Menschen in Europa durch Schadstoffe untersucht und deren Auswirkungen auf die Gesundheit erforscht, um die politische Entscheidungsfindung zu unterstützen. Unter anderem sollen Referenzwerte für die Belastung der Bevölkerung erarbeitet werden. Gemessen werden Umweltchemikalien, deren Stoffwechselprodukte und Wirkungs-Marker in Blut und Urin. Ziel ist die Verbesserung der Risikobewertung von Chemikalien. Die HBM4EU-Partner arbeiten mit politischen Entscheidungsträgern zusammen, um z. B. Maßnahmen zur Risikominderung zu entwickeln und bestehende Regulierungen und Richtlinien zu prüfen. 30 Partnerländer sind an dem Projekt beteiligt. 3.2.6/2 HBM4EU Für erste Substanzen liegen bereits wissenschaftliche Monografien vor. Fact-sheets mit Informationen für die Bevölkerung werden derzeit vorbereitet. 3.2.6/3 HBM4EU
Was ist Human-Biomonitoring?
Messung der Konzentration von Schadstoffen bzw. deren Stoffwechselprodukte in humanbiologischem Material (Blut, Serum, Muttermilch, Harn, Haare, Zähne, Ausatmungsluft, Sektionsmaterial etc.). Die Bewertung der Messergebnisse geschieht auf Basis von Referenzwerten sowie umweltmedizinisch-toxikologisch abgeleiteten, so genannten Human-Biomonitoring-Werten (HBM-Werte).
Was ist Effektmonitoring?
Messung von biologischen Parametern, die auf Belastungen durch chemische, physikalische oder biologische Faktoren reagieren bzw. deren Wirkungen anzeigen (Wirkungsparameter). Die Bewertung der Messergebnisse geschieht anhand von Referenzwertvergleichen bzw. vergleichbarer Untersuchungen an einem Kontrollkollektiv.
Europaweit Chemikalien im Blut
Der World-Wide-Fund WWF und The Co-operative Bank nahmen im Dezember 2003 47 Personen aus ganz Europa, darunter 39 Mitgliedern des Europäischen Parlaments, Blut ab und analysierten es auf beachtliche 101 Chemikalien aus fünf Gruppen: Chlororganische Pestizide einschließlich DDT, PCBs, bromierte Flammschutzmittel, Phthalate und perfluorierte Verbindungen. Insgesamt wurden 76 verschiedene der 101 untersuchten Chemikalien im Blut der Probanden gefunden.
„Die Ergebnisse zeigen weiter, dass die höchste Anzahl von Chemikalien in einer Person 54 betrug, während der Medianwert der gefundenen Chemikalien bei 41 lag. Mindestens 13 der gleichen Chemikalien wurden in jeder einzelnen getesteten Person gefunden, darunter Chemikalien, die in Europa vor mehr als 20 Jahren verboten wurden, aber auch Chemikalien, die heute weit verbreitet sind, wie Phthalate und perfluorierte Verbindungen.“ [Ü.d.A., Hervorhebung durch die Autorin] 3.2.6/4 Panda
3.3 Chemikalien, Schwermetalle, Feinstaub und Elektrosmog
Von was sprechen wir beim Thema Umweltschadstoffe? In diesem Unterkapitel werden exemplarisch einige Umweltschadstoffe beschrieben, ihre (toxischen) Eigenschaften, ihr Aufkommen und ihre Wirkung auf unsere Gesundheit. Die vorgestellten Schadstoffe sind Teil der alltäglichen kollektiven Grundbelastung in der Bevölkerung.
3.3.1 Chemikalien und Kunststoffe
Synthetische Substanzen
1907 wurde „Bakelit“ erfunden, das war der erste Kunststoff, der keine in der Natur bekannten Moleküle enthielt, also vollständig synthetisch hergestellt wurde. Synthetische Kunststoffe bestehen aus Erdöl, das aufbereitet wird. Nach dem zweiten Weltkrieg begann mit der Erfindung von Polyvinylchlorid/PVC, das aus den Abfällen der chemischen Industrie hergestellt wurde, ein rasanter Anstieg der Produktion, der bis heute anhält.
Die Langzeit- und Kombinationswirkungen synthetischer Materialien werden nicht ansatzweise systematisch untersucht. Das Design solcher Studien würde dem Lottospiel gleichen, allerdings nicht mit 49 Komponenten, sondern mit Millionen. Das ist unüberschaubar. Dennoch befinden sich Chemikalien heute in unseren Alltagsprodukten.
Der menschliche Organismus wird zum Versuchslabor der Langzeit- und Kombinationswirkungen. |
Der US-amerikanische Chemical Abstract Service/CAS gilt als klassische Referenzdatenbank für chemische Substanzen. Jeden Tag werden etwa 12.000 neue Substanzen in die CAS-Registry Datenbank aufgenommen. Derzeit sind insgesamt über 140 Millionen Substanzen registriert, darunter auch genbiologisch relevante Stoffe, wie DNA-Sequenzen und Eiweißstoffe.
Heute werden weltweit jedes Jahr ca. 500 Millionen Tonnen Chemikalien produziert.Chemikalien können krebserregend, erbgut- oder fortpflanzungsschädigend sein, hormonelle Ampeln von Rot auf Grün schalten, oder umgekehrt (fachsprachlich: endokrine Disruptoren), sie können persistierend (langlebig) sein und sich in der Umwelt ansammeln (bioakkumulativ). |
Abb. 3.3.1/1 Chemikalien: Schädlichkeit kaum untersucht
Prof. Dr. Martin von Bergen, Helmholtz-Institut München, im Erklär-Video: „Exposom“:
„Weltweit sind über 140 Millionen künstliche Chemikalien bekannt, nur 22.000 davon sind im Rahmen der europäischen Chemikalienzulassung REACH seit 2008 registriert worden. Schätzungsweise 70.000 Substanzen befinden sich im täglichen Gebrauch, darunter sind Gifte wie Pestizide und Herbizide, aber auch Stoffe wie Weichmacher, sogenannte Phtalate, die zur Verbesserung der Haptik von Gebrauchsgegenständen dienen.“ 3.3.1/1 (Abb.) Von Bergen
Zum Beispiel: Mikroplastik
Als Mikroplastik werden Plastikteilchen von mikrometrischer Größe bezeichnet. Zu finden sind die Teilchen überall: In den Ozeanen (ca. 70 Millionen Tonnen), im Boden und in der Luft, in Lebensmitteln, u.a. in Salz und in Fischen, selbst in der menschlichen Plazenta.
Charles Rolsky von der Arizona State University und Kollegen untersuchten 47 menschliche Gewebeproben auf Mikro- und Nanoplastik – sie wurden zu 100 Prozent fündig, wie sie auf der virtuellen Jahrestagung der American Chemical Society 2021 berichten.
Zuvor hatte Kieran Cox von der Universität in Victoria/Kanada mit seinem Team schon 2019 gezeigt, dass erwachsene Amerikaner durchschnittlich zwischen 39.000 und 52.000 Plastikpartikel jährlich mit der Nahrung aufnehmen, wobei die Anzahl auf 74.000 bis 121.000 Partikel pro Jahr anstieg, wenn die Aufnahme über die Atmung hinzugerechnet wurde. 3.3.1/1 Cox et al.
Die Gesundheitsgefahr potenziert sich durch die Tatsache, dass Nanoplastik eine extrem große spezifische Oberfläche hat, an der Giftstoffe oder Schwermetalle binden können und so in den Organismus gelangen. Studien mit Wildtieren zeigten bereits, dass Mikro- und Nanoplastik Krebs, Unfruchtbarkeit und Entzündungen auslösen können.
Zwei Physiker, Jean-Baptiste Fleury von der Universität des Saarlandes und Vladimir Baulin von der Universität Tarragona, haben nun eine sehr beunruhigende entzündliche Wirkung an Lipidmembranen nachgewiesen, die die letzte Schutzbarriere der Zellen gegenüber der Umwelt darstellen. Mikroplastik dehnt die Membrane der roten Blutkörperchen und reduziert dadurch signifikant deren mechanische Stabilität.
„Anscheinend entzündet sich die Membran der roten Blutkörperchen des Menschen spontan“ erklärt Jean-Baptiste Fleury. 3.3.1/2 Uni Saarland
Zum Beispiel: Pestizide
Als Pestizide werden chemische Stoffe bezeichnet, die Organismen (Tiere, Pilze, Pflanzen, Mikroorganismen) abtöten oder lebenswichtige Funktionen blockieren. Im Jahr 2016 waren 1.453 Pestizidprodukte in Deutschland zugelassen. Auf einem Hektar Ackerland werden jährlich durchschnittlich 2,5 Kilogramm Pestizide eingesetzt.
Man unterscheidet: