Der Fall Ludwig XV.. Walter Brendel
Читать онлайн книгу.in der Öffentlichkeit und zumal mit ihm noch nicht bekannten Personen zu sprechen. Seine Gouvernante konstatierte: „Ganz allein ist er sehr nett; dagegen gibt er sich in der Öffentlichkeit ernst.“ Deshalb, so fuhr sie fort, wolle sie ihn daran gewöhnen zu sprechen, aber sie habe damit viel Mühe. Diese Schüchternheit sollte Ludwig XV. zeitlebens nicht ablegen.
Nach den ganzen Schicksalsschlägen war es noch ein Ereignis, dass sich besonders fest in dem fünfjährigen Kind einprägte. Dieses geschah vom 31. August zum 1. September 1715.
Es war die Stunde des Abschieds zwischen Urgroßvater und Urenkel und der Übergang von Ludwig XIV. zu Ludwig XV.
An diesen Tagen war im Schlosse Versailles der königliche Oberhofmarschall fieberhaft mit dem „Pompe funebre" beschäftigt. Er hat alle Vorbereitungen getroffen, damit das Sterben des großen Königs sich in den strengsten äußeren Formen und so, wie es dem König erwünscht sein wird, abspielen kann. Am dringendsten war es, zu bewirken, dass am heutigen Vormittag sämtliche Mitglieder des Königshauses, legitime wie illegitime, die Möglichkeit haben, sich im Schloss zu versammeln. Deshalb sind gestern eine Anzahl vierspänniger Wagen fortgerollt, besetzt mit je einem Hofkavalier. Denn jedes Mitglied des Königshauses -vom fünfjährigen Dauphin, vom Herzog von Orleans und „Madame", seiner Mutter Liselotte, bis herab zur jüngsten unehelichen Tochter -jedes Mitglied des Königshauses hat Anspruch darauf, die Aufforderung, dem Sterbensakt des Königs in nächster Nähe beizuwohnen, von einem besonderen Hofkavalier überbracht zu erhalten. Dabei ist es von größter Wichtigkeit, nicht gegen die Rangordnung zu verstoßen und jeweils den rangmäßig zustehenden Kavalier mit der Einladung abzusenden. Nun, es ist dem Oberhofmarschall zustatten gekommen, dass er sich insgeheim schon seit Monaten mit dieser schwierigen Aufgabe befasst hat!
So sind denn vom frühen Morgen an auf der Rückseite des Schlosses immer wieder prächtige Galawagen eingetroffen, denen vornehme Damen und Herren und Kinder entstiegen sind. Gepäckwagen mit riesigen, eisen- und lederbeschlagenen Koffern und Scharen von männlichen und weiblichen Bediensteten sind ihnen nachgefolgt, so dass im Laufe des Vormittags die ganze königliche Familie, die Kinder einbegriffen, um dem notwendigsten Bedarf an Garderobe und Bedienung in Versailles zugegen ist. Das Schloss ist so geräumig, dass diese Menge von Standespersonen mühelos in verschiedenen Appartements untergebracht werden kann. Man rechnet ja auch mit der Möglichkeit, dass die hohen Herrschaften mehrere Tage und Nächte in Versailles ausharren müssen.
Gegen Mittag erscheinen sämtliche Mitglieder der königlichen Familie im Großen Empfangssalon, ausgenommen natürlich die Kinder. Audi der kleine Dauphin Ludwig bleibt in der Obhut seiner Gouvernante in seinem Appartement zurück, bis sein Auftreten im Ablauf des Sterbezeremoniells erforderlich wird. Die Damen und Herren des Hofadels, die, wie üblich, schon zum Lever des Königs, freilich auch heute wieder vergeblich, aus Paris herbeigeeilt sind, haben einen großen Tag: sie können sich einer ebenso wichtigen wie zugleich vergnüglich ablenkenden Beschäftigung hingeben, indem sie nach und nach alle Glieder der Königsfamilie hochformell durch mehr oder weniger tiefe Verneigungen begrüßen und damit eine wohlabgestufte höfische Politik treiben.
Am nächsten Morgen - es ist der erste September Siebzehnhundertfünfzehn, ein Sonntag - überbringt der Erste Kammerdiener dem Oberhofmarschall die Order: die Abschiedszeremonie werde in der zehnten Stunde vor sich gehen. Darauf entsteht im Schloss ein lebhaftes Treiben. Die Mitglieder des königlichen Hauses werden in ihren Gemächern aufgestört und müssen sich in dem großen Vorraum versammeln, von dem aus man, wenn man zum Lever zugelassen war, in das Prunkschlafgemach des Königs gelangte.
Herzog Philipp von Orleans und seine Mutter Liselotte sind die ersten im Vorraum. Nach ihnen treffen dauernd weiter Angehörige des Hofadels, von Paris herbeigeeilt, ein.
Die Aufstellung der Trauergäste erfolgt unter dem scharfen Auge des Oberhofmar-schalls genau nach der Hofrangordnung: Zunächst der großen Prunktür, die in das Schlafgemach hineinführt, haben der Herzog Philipp von Orleans, die beiden legiti-mierten Söhne des Königs - Maine und Toulouse - und der fünfjährige Dauphin Ludwig Aufstellung nehmen dürfen, der Knabe freilich noch in der Obhut seiner Gouvernante, der würdigen Madame de Ventadour, die, hinter ihm stehend, ihn an seinen schwachen Schultern festhält und ihn beruhigend an sich drückt.
In gemessener Eile, begibt sich der Erste Kammerdiener durch den Spalt der Bettvorhänge zum König. Voller Neid denkt der Oberhofmarschall, dass einem Ersten Kammerdiener - und dabei einem bürgerlichen Subjekt! - doch noch wichtigere Förmlichkeiten obliegen als einem Hofmarschall, aber freilich: der Kammerdiener hat jederzeit einem schäbigen Klingelzeichen zu gehorchen, wenn es zweimal klingelt, muss er einen neuen Befehl entgegennehmen, nur, wenn es bloß einmal klingelt, darf der Fortgang der Zeremonie wie festgelegt folgen. Warum übrigens der Erste Kammerdiener diesmal ein wenig länger hinter dem Bettvorhang verweilt? Nun, der Oberhofmarschall vermutet wohl richtig: er muss seinem Herrn nach dem Abschied von dessen vielgeliebter Maintenon noch einmal das gebührende einwandfreie Aussehen verschaffen... jetzt verlässt der Erste Kammerdiener rückwärts wieder das Prunklager, gibt dem Zweiten Kammerdiener einen kleinen Wink, und beide schreiten langsam und feierlich mit streng beherrschten Gesichtern auf die Schranke zu. Dort fordern sie durch eine untertänige Verbeugung den kleinen Dauphin Ludwig auf, vor dem König zu erscheinen.
Madame de Ventadour, die Gouvernante des schüchternen Fünfjährigen, weiß sofort, dass sie nun für die weitere Durchführung zu sorgen hat. Im Gefühl ihrer Wichtigkeit schreitet sie pomphaft und sicher, das schutzbedürftige Kind um die Schultern gefasst, zu dem von Vorhängen umschlossenen Prunklager. Die Hofgesellschaft findet es groß und richtig vom König, dass er seinen Nachfolger in der Königswürde zuerst und allein an seinem Sterbebett wissen will. Aber wird er auch zu dem Kind sprechen? Wird er es überhaupt an sein Bett herantreten lassen?
Gouvernante und Kind haben vor den geschlossenen Bettvorhängen zu warten. Nochmals holt der Erste Kammerdiener zunächst den Befehl des Königs ein. Dann erst darf Madame de Ventadour, während der Kammerdiener den Vorhang ein wenig lüftet, das Kind an das Bett des Königs hinschieben. Durch einen Wink wird ihr bedeutet, das Kind auf das Bett und in die Ärmel des Königs zu legen. Nachdem sie dies getan hat, zieht sie sich sofort zurück. Der Kammerdiener lässt den Vorhang herabfallen, und Urgroßvater und Urenkel befinden sich allein hinter den geschlossenen Vorhängen.
Die Gouvernante aber tritt so dicht, wie es möglich ist, an den Bettvorhang heran - in dieser Situation ist ihr das Ungehörige erlaubt -, denn ihr liegt es ja ob, jedes Wort zu erlauschen, dass der König zu seinem Urenkel spricht, damit es als hohes Geschehen in die Geschichtsschreibung eingehen kann. Sie muss sich genauestens die Worte einprägen, um sie dem Kind, dass jetzt noch nichts damit anzufangen weiß, später zu erklären und für seine künftige Königslaufbahn aufzubewahren. Hinter dem Vorhang hält der König - aller Anstrengung, die es ihn kostet, zum Trotz - seinen Urenkel und Nachfolger fest in seinen Armen und drückt ihn an sein Herz. Anfänglich dringen nur unverständliche Flüsterlaute an das Ohr der Gouvernante. Schließlich aber vernimmt sie immer deutlicher: „... denn bald, Mein Kind ... bald werden Sie der König eines großen Königreiches sein... Versuchen Sie, Frieden mit Ihren Nachbarn zu halten! Ich habe den Krieg zu sehr geliebt... Eifern Sie mir hierin nicht nach ... und auch darin nicht, dass Sie einen zu großen Aufwand treiben, wie Ich es getan habe... Versuchen Sie, das Los Ihrer Untertanen zu erleichtern... Ich selbst habe das Unglück gehabt, es nicht tun zu können... Mein Liebling, Ihr werdet ein großer König werden, aber Euer ganzes Glück wird davon abhängen, dass Ihr Euch Gott unterwerft und dass Ihr stets bemüht seid, Euer Volk zu entlasten. Seid ein friedliebender Fürst und seht Eure Hauptaufgabe darin, Eure Untertanen von Lasten zu befreien. Profitiert von der guten Erziehung, die Euch die Herzogin von Ventadour zuteilwerden lässt, seid ihr gehorsam und befolgt auch, um Gott gut zu dienen, die Ratschläge des Paters Le Tellier, den ich Euch als Beichtvater gebe.“
Und dann erlauscht Madame de Ventadour noch, was sie mit ungemeiner Genugtuung erfüllt: dass der große König mit schwachen Flüsterworten dem Kind Dankbarkeit gegen seine Gouvernante empfiehlt.
Danach wandte sich der König an die Gouvernante und sagte zu ihr: „Ihnen, Madame, habe ich sehr zu danken für die Mühe, die Ihr Euch gebt, um dieses Kind zu erziehen, und für die zärtliche Zuneigung, die Ihr für es empfindet;