Das Buch der Gaben. Micha Rau

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Das Buch der Gaben - Micha Rau


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Ich bekam Hunger. Mutter kam aus der Küche mit zwei Gläsern zurück. Zweimal Mineralwasser!

      „Möchte dein Hund auch ein bisschen Wasser?“

      „Vielen Dank, Frau Seefeld, aber Jever trinkt jeden Abend eine halbe Flasche Bier. Das reicht ihm. Deswegen heißt er übrigens auch Jever.“

      Meine Mutter guckte völlig entgeistert.

      „Was? Bier? Aber ein Hund kann doch nicht ... “ Aber dann bemerkte sie Tommys lachende Augen und musste mitlachen.

      „Das stimmt gar nicht!“

      „Na ja“, meinte Tommy, „Gleich am ersten Tag, als wir ihn bekamen, hat er in der Küche Unsinn gemacht und eine Flasche Bier umgestoßen. Und dann hat er sich leider auch ein wenig betrunken. Seitdem heißt er Jever, und wehe, er sieht eine Flasche Bier! Sie müssen gut aufpassen, Frau Seefeld!“

      „Du nimmst mich auf den Arm!“, lachte Mutter, aber ich konnte sehen, dass sie sich da ganz und gar nicht so sicher war. Dann reichte sie Tommy und mir die beiden Gläser mit dem Mineralwasser und schaute von Jever zu Lazy und wieder zurück.

      „Ihr beiden scheint euch ja schon zu verstehen, und was ist mit euren Hunden?“

      Seit ich Jever wieder abgesetzt hatte, saß der Kleine zu meiner Verblüffung seelenruhig auf den Dielen und sah sein Herrchen mit schiefem Kopf von unten her an. Lazy grummelte immer noch vor meiner Tür vor sich hin, machte aber keine Anstalten, seinen neuen Hundenachbarn zu begrüßen.

      Tommy sagte nur: „Na, geh’ schon!“, und schon sprang Jever auf, raste auf Lazy zu und hüpfte in seiner zwar mir schon, aber Lazy noch nicht bekannten Manier um meinen Hund herum. Dabei stubste und leckte er den armen Lazy, dass der nicht mehr wusste, was er denn tun sollte: kläffen, knurren oder mit rumtollen. Er saß nur da, ließ es mit sich geschehen, und es schien, als sei ihm das Gehabe ein wenig peinlich. Doch endlich bequemte sich mein fauler Hund dann doch, seinen schweren Körper hoch zu hieven und ehe ich mich versah, waren die beiden in eine richtige tolle Rauferei übergegangen.

      „Tja“, sagte ich zu Tommy, „Ich denke, mein Hund wird in nächster Zeit etwas abnehmen müssen!“

      Tommy nickte völlig ernst.

      „Da kann er ja gleich mit anfangen. Jever hilft nämlich unheimlich gern, irgendetwas zu tragen. Er wird deinem Hund, wie heißt er eigentlich ...?“

      „Lazy“, erwiderte ich etwas peinlich berührt, wo ich doch den Unterschied zwischen den beiden so deutlich wahrnahm.

      „Also wird er Lazy beibringen, beim Umzug zu helfen“, bekräftigte Tommy. Während er meiner Mutter sein leeres Glas zurückreichte, besah er sich unsere dekorativen Bilder neben der Garderobe und nickte dann anerkennend.

      „Hm, das Haarlemer Meer von van Goyen und die Rhonebarken von van Gogh. Es sind zwar nur Kunstdrucke, aber Sie haben einen exzellenten Geschmack, Frau Seefeld.“

      Meiner Mutter klappte die Kinnlade runter.

      „Woher weißt du das denn?“, fragte sie verblüfft. „Ich hatte keine Ahnung, von wem die Bilder sind.“

      Tommy wurde rot. „Ich ... ich wollte nicht ... ich weiß ein bisschen über Bilder Bescheid, weil Manfred malt.“

      „Das braucht dir nicht peinlich sein“, beruhigte meine Mutter meinen neuen Freund. „Ich finde es gut, wenn ein Junge in deinem Alter so etwas weiß.“

      Tommy war sichtlich verlegen. Dann wandte er sich an mich.

      „Was ist, Joe, können wir loslegen?“

      Ich nickte begeistert und wusste gar nicht, warum. Noch gestern hätte ich die Idee, bei einem Umzug helfen zu müssen, als völlig abwegig bezeichnet. Tommy schnalzte kurz mit der Zunge, und Jever ließ sofort von Lazy ab und stürmte aus der Tür. Mein Hund guckte genauso verblüfft wie meine Mutter und ich, aber oh Wunder, dieses eine Mal war er schneller als ich, raffte sich auf und rannte, na ja, lief hinterher.

      Ich drückte meiner Mutter, die jetzt unsere Bilder unter ganz neuen Gesichtspunkten betrachtete, mein Glas in die Hand und folgte Tommy, der schon eine halbe Treppe tiefer war.

      Dies war der erste Tag mit Tommy, der erste Tag der Sommerferien und der Beginn einer Reihe von unglaublichen Erlebnissen.

      Ich hatte in diesem Moment begonnen, gefährlich zu leben. Aber noch wusste ich es nicht.

      Mut und andere Angewohnheiten

      Ich hatte eigentlich nicht vor, meine neue Bekanntschaft mit irgendjemandem zu teilen. Ich glaubte, mit Tommy wäre jeder gern zusammen gewesen, und ich hatte eben das Glück gehabt, ihn zuerst kennen zu lernen. Also freute ich mich unbändig darauf, mit diesem mir schon nach wenigen Stunden so vertrauten neuen Freund die Sommerferien zu verbringen. Doch dann machte mir meine Schwester einen Strich durch die Rechnung.

      Tommy und seine Eltern waren an einem Donnerstag eingezogen, eben dem ersten Ferientag. Diesen und den darauf folgenden Freitag half ich mit, diverse Kartons auszupacken, Hunderte von Büchern in Regale einzusortieren, Geschirr aus Zeitungspapier zu wickeln und was man sonst so alles tun muss, wenn man sich bereit erklärt hat, beim Ausräumen zu helfen. In diesen beiden Tagen verstanden wir uns schon so gut, dass ich bald gar nicht mehr an Andi dachte. Ich hatte deswegen ganz kurz ein schlechtes Gewissen. Aber nur ganz kurz.

      Auch Tommys Eltern verhielten sich so, als würden sie mich schon Ewigkeiten kennen. Seine Mutter machte einen Wahnsinns-Kartoffelsalat, den wir beide nach unserer anstrengenden Arbeit gierig verputzten, und Jessie ließ den ganzen Tag über die Musikanlage laufen und spielte die Jayhawks rauf und runter. Eigentlich ein bisschen Alte-Leute-Musik, aber nach dem zweiten Tag ertappte ich mich dabei, die Songs mitzusummen. Jessie hieß übrigens Manfred, und das passte überhaupt nicht zu ihm, so dass ich ihn einfach fragte, ob er was gegen Jessie hätte, und natürlich hatte er nichts dagegen. Solche Eltern sind einfach cool.

      Dann hatten wir es endlich geschafft. Alles war eingeräumt und an seinem Platz und so vereinbarte ich mit Tommy, dass er am Samstag zu uns kommen sollte und wir uns gemütlich bei Chips und Cola, nein, Mineralwasser, einen Plan machen wollten, wie wir die Ferien angehen könnten. Eine Sache schweißte uns sowieso sofort zusammen, und das waren unsere Hunde. Wir wohnen nicht weit entfernt von einem Hundeauslaufgebiet, und so verschwanden wir immer mal zwischendurch mit Lazy und Jever im Wald und ließen die beiden herumtollen. Sie waren schon ein lustiges Pärchen. Lazy hatte im Vergleich zu Jever überhaupt keine Kondition, und wenn es ihm zuviel wurde, ließ er sich an der Stelle, wo er gerade stand, einfach fallen, plumpste zu Boden und ließ sich alles Stupsen und Rumhopsen von Jever in seiner Bierruhe gefallen. Doch ich hatte so meine Ahnung, dass er am Ende dieser Ferien wohl weitaus besser mithalten würde und seine Jagdhund-Gene vielleicht doch noch durchkommen würden.

      Für den ersten Samstag nach Tommys Einzug hatten wir uns bei mir zu Hause verabredet. Ich hatte am Freitag jede Menge Chips eingekauft, natürlich nur die ohne irgendwelche Spielereien. Schöne dünne, nur gesalzene. Für mich einen Vorrat an ungesunder Cola. Für Tommy brauchte ich nichts zu trinken besorgen, denn meine Eltern hatten immer genügend Wasser zu Hause. Wir wollten es uns in meinem Zimmer gemütlich machen und in aller Ruhe miteinander quatschen.

      Ich legte eine CD ein und Tommy nickte anerkennend. Auch in der Hinsicht verstanden wir uns. Lazy lag wie immer platt auf dem Teppich, die Ohren rechts und links ausgebreitet, und Jever kuschelte sich an ihn, wobei er seinen Kopf auf den Rücken meines faulen Hundes bettete und es sich so richtig bequem machte. Die beiden waren seit ihrer ersten Begegnung unzertrennlich und hatten in unserem Haus und natürlich auch in unserer Straße für einiges Aufsehen gesorgt. Tommy und ich sahen unsere Hunde an, wie sie da so lagen, und mussten beide gleichzeitig lachen.

      „Stellt sich die Frage“, sagte ich, „wer von den beiden sich durchsetzen wird. Entweder wird mein Hund irgendwann zum Hopser oder deiner gewöhnt sich das Faulenzen an.“

      „Tja“, meinte Tommy, „das sind Kumpels, die ergänzen sich.“


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