Das Buch der Gaben. Micha Rau

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Das Buch der Gaben - Micha Rau


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stellte ich Tommy eine Frage, die mir gleich darauf Leid tun würde.

      „Wieso steht bei euch auf dem Klingelschild eigentlich Garcia-Dressel? Wollte deine Mutter nicht wie dein Vater heißen?“

      Tommy stockte mitten beim Kauen, und sein Blick wandte sich von mir ab und irrte im Zimmer umher. Ich merkte, wie ihm unwohl wurde und ahnte, dass ich eine dumme Frage gestellt hatte.

      „Mein Vater lebt nicht mehr.“

      Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Wie verdammt ungeschickt von mir! Da wollte ich einen richtig schönen Quatsch-Nachmittag mit Tommy veranstalten und versetzte der Stimmung einen absoluten Tiefschlag! Es tat mir unendlich Leid, so daneben getroffen zu haben. Ich mochte mir gar nicht vorstellen, wie ich mich gefühlt hätte, wenn mein eigener Vater nicht mehr am Leben gewesen wäre. Doch als Tommy anfing zu sprechen, wurde mir sofort wieder wohler, denn ich spürte, dass er den Verlust seines Vaters schon lange verarbeitet haben musste.

      „Ich kann mich nicht mehr genau an meinen Vater erinnern. Ich war erst drei, als es passierte. Mein Vater war Tauchlehrer und hatte eine Tauchschule auf Teneriffa. Meine Mutter hat ihn während einer Reise kennen gelernt und bei ihm Tauchen gelernt.“

      Er schwieg für einen Moment und lächelte.

      „Na ja, sie sind wohl nicht nur zusammen getaucht, denn meine Mutter ist nach ihrem Urlaub einfach dageblieben. Sie hat mir erzählt, wie sehr sie sich verliebt haben und wie schön es war, in einem kleinen Bungalow am Strand zu leben. Sie haben fast sofort geheiratet. Und dann bin ich gekommen. Das war zwar nicht geplant, aber sie haben sich doch ganz doll gefreut. Meine Mutter meinte, dann lerne ich halt Spanisch und Deutsch gleichzeitig, und auf Teneriffa gibt es auch deutsche Lehrer.“

      „Deine Mutter ist cool“, rutschte es mir heraus.

      „Ja, das ist sie“, sagte Tommy und starrte aus dem Fenster. „Und mein Vater war es auch. Die beiden lebten von seinen Kursen, und meine Mutter hat dann noch so einen kleinen Kiosk aufgemacht. So was würde ich heute auch gern machen.“

      Er schwieg für ein paar Sekunden und ich wollte nichts sagen, weil ich dachte, es würde sowieso nur wieder was Blödes dabei rauskommen. Aber dann blitzte es in seinen Augen und er blickte entschlossen. Jever spürte die Stimmung seines Herrchens und hob den Kopf.

      „Mein Vater war unglaublich mutig. Er tauchte nicht nur oft allein zu irgendwelchen Schiffswracks hinunter, er konnte auch wahnsinnig gut surfen und traute sich als einziger auch bei ablandigem Wind aufs Meer.“

      Ich wusste nicht, was ablandig bedeutete, aber ich traute mich nicht zu fragen, denn ich wollte Tommy nicht in der Erinnerung an seinen Vater unterbrechen.

      „Und er war Klippenspringer.“

      „Wahnsinn!“, entfuhr es mir.

      Tommy nickte. „Ich glaube, er war der mutigste Mann, den man sich vorstellen kann. Meine Mutter hat mir erzählt, dass er sich vor nichts fürchtete, aber auch niemals unvorsichtig war. Ich war ja noch klein und ich weiß auch nicht mehr, wie er aussah, außer natürlich auf Fotos, aber ich kann mich daran erinnern, dass er mich oft an die Hand nahm und wir am Strand entlang spazierten und Muscheln suchten. Und oft brachte er mir etwas vom Tauchen mit. Ich habe nur noch eines von den Dingen von damals behalten und ich trage es immer bei mir.“

      Während er erzählte, öffnete er ein kleines Goldkettchen, das er um seinen Hals trug und holte einen kleinen Anhänger unter seinem T-Shirt hervor.

      „Hier“, sagte er und reichte mir die Kette herüber. „Das ist eine byzantinische Goldmünze. Mein Vater meinte, das Abbild darauf könnte Anastasios sein, aber es ist nicht mehr viel zu erkennen. Auf jeden Fall ist sie sehr alt, und noch viel mehr ist sie das einzige, was ich von meinem Vater noch habe.“

      Ich betrachtete diese Münze andächtig und drehte sie hin und her. Sie glänzte nicht sonderlich und war längst nicht mehr rund, außerdem konnte man tatsächlich nicht mehr erkennen, was in ihr eingraviert gewesen sein mochte. Aber sie war ganz schön schwer und schien aus purem Gold. Mir kamen sofort Bilder von Piratenschiffen und wilden Seegefechten in den Kopf. Sie musste Hunderte von Jahren auf dem Meeresboden gelegen und darauf gewartet haben, dass irgendjemand sie zufällig aus dem Sand holte. Vorsichtig gab ich sie Tommy zurück.

      „Er hat sie beim Tauchen gefunden?“

      „Ja. Wohl nicht bei Teneriffa, aber wenn nicht so viel los war, reiste er in der Welt umher und tauchte in allen Meeren. Er war verrückt auf die Unterwasserwelt. Meine Mutter weiß nicht mehr, wo er diese Münze gefunden hat, und wenn er’s mir gesagt hat, dann kann ich mich natürlich nicht mehr erinnern. Nur eins ist klar. Sie war seine Wertvollste, und er hat sie mir geschenkt. Ich werde sie nie wieder abnehmen. Sie gibt mir irgendwie Kraft, und ich hab doch sonst nichts mehr von ihm.“

      Als ich jetzt in seine Augen sah, dachte ich für einen Moment zu erkennen, wie sein Vater ausgesehen haben musste. Ich konnte sehen, wie Tommy einmal als Erwachsener sein würde und wusste, dass auch Tommy eines Tages tauchen würde.

      „Es geschah beim Klippenspringen. Sie veranstalteten jeden Sonntag einen kleinen Wettbewerb an immer derselben Stelle. Sie kannten das Meer und die Felsen in ihm dort auswendig, und mein Vater hätte blind springen können. Doch ... “ Tommy stockte und holte tief Luft.

      Jever stand langsam auf, trottete zu seinem Herrchen und legte ihm seinen Kopf auf das Knie. Tommy streichelte gedankenverloren seinen Hund, doch dann durchfuhr ihn deutlich sichtbar ein eiserner Wille, so deutlich, dass ich einen Schreck bekam, denn ich hatte gedacht, dass er es vielleicht nicht fertig bringen würde, darüber zu reden.

      „Irgendjemand hatte genau an dieser Stelle über Nacht heimlich von den Felsen aus Schrott ins Meer gekippt. Es war von oben nicht zu sehen. Und mein Vater war der erste, der mit Springen dran war.“

      Ich vermied es, ihn anzusehen und fühlte mich schrecklich. Ich dachte daran, wie schlimm das für Tommy und seine Mutter gewesen sein musste.

      „Warst du ... ?“

      „Dabei? Nein, ich durfte nie mit auf die Klippen. Es war eben so, mein Vater kam nicht mehr nach Hause, und ich habe es nicht verstanden. Meine Mutter hat mir auch erst viel später erzählt, was geschehen war. Wir konnten nicht mehr sehr lange auf Teneriffa bleiben, allein konnte meine Mutter nicht für mich sorgen, und wir sind dann noch im selben Jahr zurück nach Deutschland gekommen. Na ja, und jetzt bin ich hier bei euch gelandet.“

      „Dein Vater hieß also Garcia“, sagte ich. So weit hatte ich inzwischen gedacht, und wenn ich jetzt darüber nachdachte, so gab es wahrlich nicht allzu viele Ähnlichkeiten im Aussehen zwischen Jessie und Tommy. Tommys borstige, widerspenstige und pechschwarze Haare waren nun wirklich das genaue Gegenteil von Jessies glatten dunkelblonden. Aber wenn man meint, das ist der Sohn von jemandem, dann ist es eben so, und man macht sich keine weiteren Gedanken darum.

      „Ja, er hieß Garcia“, bestätigte Tommy und griff in Gedanken in seine Chipstüte, was mich wieder ein wenig wohler fühlen ließ, denn damit schien er das schwere Thema hinter sich zu lassen.

      „Ist ja schließlich ein spanischer Name. Der ist in Spanien so häufig wie Müller, aber hier in Deutschland klingt das toll und geheimnisvoll. Meine Mutter wollte diesen Namen nie hergeben. Das würde sie wohl auch nicht, wenn sie Manfred ... “ er lachte, „nein, Jessie, irgendwann einmal heiraten sollte. Die beiden sind übrigens nicht verheiratet. Auf dem Schild stehen Garcia und Dressel nebeneinander.“

      „Kommst du mit ihm klar?“, fragte ich und bereute schon wieder, eine solche Frage gestellt zu haben. Irgendwie trat ich heute von einem Fettnäpfchen ins andere. Aber Tommy hatte kein Problem damit.

      „Ja, er ist voll in Ordnung. Ich kann mit ihm über alles reden. Aber er ist ein bisschen lahm. Er ist Maler. Du hast ja seine Staffelei und die vielen Bilder gesehen. Ich mag ihn sehr, aber tauchen und von einer Klippe springen, das würde er, glaube ich, nie.“

      Jever spürte, dass sein Herrchen nicht mehr traurig war und sprang auf. Dann hopste er zur Tür und blickte sich fordernd zu uns um. Mein Hund schloss die Augen.


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