Das Buch der Gaben. Micha Rau

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Das Buch der Gaben - Micha Rau


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Ahnung“, gab Tommy zu. „Man kann nie wissen. Ich hab's halt gern dabei. Das Taschenmesser ist genial und hilft fast immer bei irgendwas, wenn man unterwegs ist. Na, und einen Kompass sollte man immer mitnehmen, für alle Fälle.“

      „Ja, ja, das ist schon wichtig“, sagte ich mit gespieltem Ernst. „Wo doch das Grundstück am Ende unserer Straße liegt.“

      „Ja, du kennst dich hier aus, aber wenn wir getrennt werden, was ist dann mit mir?“, fragte Tommy genauso ernst. Und dann mussten wir beide dermaßen lachen, dass unsere Hunde uns ganz verschreckt anschauten.

      Als wir uns einigermaßen erholt hatten, packte Tommy den ganzen Kram wieder ein. Bei der Wasserwaage stockte er.

      „Wie die hier reinkommt, weiß ich selber nicht. Die könnte ich eigentlich hier lassen.“

      Als er noch unschlüssig darüber nachdachte, was man wohl auf einem zugewachsenen Grundstück mit einer Wasserwaage anfangen könnte, klopfte es an der Zimmertür, und gleich darauf steckte Tommys Mutter den Kopf herein.

      „Hallo ihr beiden, Janine und deine Schwester sind da.“

      Das nahm ihm die Entscheidung ab. Mit einem „Warum nicht?“ stopfte er die kleine Waage noch mit in den Rucksack, und wir konnten aufbrechen.

       *

      Wir standen vor dem Grundstück und versuchten, durch eine Lücke im dichten Gebüsch einen Blick auf das Haus zu erhaschen.

      Es war das letzte in unserer Straße, danach begann der Wald. Der Abschnitt hier war eine Sackgasse, in die sich kaum ein Auto verirrte, und hier war nicht einmal asphaltiert worden. Es schien, als hätte man diesen Teil der Straße schlichtweg vergessen.

      Gegenüber von diesem verlassenen Grundstück standen noch zwei, drei Einfamilienhäuser, aber es parkten keine Autos davor und man sah nie jemanden im Garten arbeiten. Ich wusste aber, dass es zumindest in der Richtung, in der unser eigenes Haus lag, einen Nachbarn geben musste, denn von dem waren Andi und ich doch das eine oder andere Mal verjagt worden, wenn wir irgendeinen Überfall zu laut nachgespielt hatten. Nur jetzt sah ich nichts von diesem Nachbarn. Weder sein Haus noch sonst was. Allerdings war unser Abenteuergrundstück ziemlich groß, ja sogar verdammt groß. Mein Vater hätte das wieder in Geld ausgedrückt: „Mein Sohn, so ein Grundstück in dieser Lage bringt zweihundert pro Quadratmeter, das wären bei zweitausend Quadratmetern ... , na?“ Aber das interessierte mich herzlich wenig bei meinem Taschengeld.

      Tommy blickte links und rechts lang, sagte dann: „Wartet“ und schritt gleich darauf den Zaun an der Welfenallee ab, bog am Wald angekommen um die Ecke und verschwand aus unserem Blickfeld.

      „Was macht er denn jetzt?“ fragte Sanne.

      „Er misst aus“, murmelte Janine, die wie angewurzelt dastand und durch den Zaun und das Gestrüpp auf das Haus starrte. Es schien mir, als hätte sie Bedenken, sich auf die Sache heute mit uns Jungs und Sanne eingelassen zu haben. Ich gewann etwas Hoffnung, mich nachher vielleicht noch als starker Begleiter zu etablieren. Doch ehe ich mir das weiter ausmalen konnte, kam Tommy zurück.

      „Etwa dreitausend Quadratmeter. Das ist riesig für unsere Wohngegend.“

      „Und was sagt uns das?“, fragte Sanne herausfordernd.

      „Das sagt uns, dass dieses Haus und dieses Grundstück hier schon sehr lange in diesem Zustand existieren müssen. Denn bei euch in der Gegend gibt es eigentlich nur kleine Grundstücke, vielleicht vierhundert, maximal sechshundert Quadratmeter groß. Allein schon deswegen, weil es hier am Stadtrand am teuersten ist. Man hat bestimmt fast alle diese großen Grundstücke verkauft und in kleinere aufgeteilt.“

      „Aha“, machte Sanne. „Und?“

      „Es gibt eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder der Eigentümer hat genug Geld und Grundstücke und es ist ihm egal, was damit passiert.“

      „Oder?“, drängte Janine, die sich jetzt von dem Haus losriss und Tommy anblickte.

      „Oder der letzte Besitzer ist tot.“

      „Tot?“, fragten die beiden Mädchen fast gleichzeitig und guckten Tommy entgeistert an. „Du meinst, da drinnen könnte ein Toter liegen? Vielleicht schon völlig verfault? Und da willst du rein?“

      Tommy wandte sich an mich.

      „Wie lange kennst du dieses Haus schon in dem Zustand?“

      Ich überlegte.

      „So lange, wie ich hier wohne. Es war nie anders. Wir sind hier rausgezogen, da war ich sechs. Also vor sechs Jahren.“

      „Tja, Leute“, machte Tommy, „dann ist er nicht nur verfault, dann liegen höchstens noch ein paar Knochen rum. Aber ich denke eigentlich nicht, dass eine Leiche da drin liegt. Selbst wenn jemand keine Verwandten mehr hat, kommt doch irgendein Amt nach so langer Zeit dahinter, dass derjenige nicht mehr lebt und lässt Nachforschungen anstellen. Fast jeder hat doch ein Auto, Rechnungen, die er nicht mehr bezahlt und so weiter.“

      „Vielleicht ist es auch ein Erbstreit. So was zieht sich manchmal über Jahre“, grübelte Janine.

      „Das wäre dann die dritte Möglichkeit“, sagte Sanne und schaute mich triumphierend an. „Siehst du, Tommy weiß doch nicht alles!“

      Tommy lachte. „Hat er das gesagt? Na, da kann ich euch beruhigen. Ich merk’ mir nur viel von dem, was ich mal gehört oder gelesen habe. So was wie ein fotografisches Gedächtnis. Aber ... “ sagte er und tippte sich dabei an den Kopf, „ ... ein bisschen Denken gehört immer noch dazu! Janine hat Recht. Das mit dem Erbstreit ist nicht schlecht. Aber wollen wir nun rein oder nicht? Joe war doch mit seinem Freund hier schon oft und es ist nie was passiert.“

      Das leuchtete den Mädchen ein, und ihre Bedenken schwanden erst einmal. Endlich konnte auch ich mal was beitragen.

      „Andi und ich sind immer vom Wald aus reingekommen. Da gibt es ein Loch im Zaun. Ich glaube, da sind auch ab und zu mal Wildschweine durch.“

      „Na, dann man los“, sagte Tommy entschlossen, und ich ging voraus, um unserer Bande den Weg zu zeigen.

      Ich fand das Loch auf Anhieb wieder und es war wider Erwarten nicht sonderlich schwer, die wild wuchernde Buchsbaum-Hecke zu durchdringen und ehe wir groß über die Konsequenzen nachdenken konnten, waren wir durch und fanden uns inmitten dieses unglaublich wilden und abenteuerlich anmutenden Gartens wieder.

      Natürlich hatten unsere beiden Hunde längst nicht so viele Bedenken wie ihre zweibeinigen Besitzer. Jever tobte über die Wiese und Lazy erschnüffelte sich diese wilde Welt mit der ihm eigenen erhabenen Übersicht, sprich: Langsamkeit. Die beiden schienen sich richtig wohl zu fühlen, und so fiel das mulmige Gefühl, das uns vielleicht noch kurz vorher bei dem Gedanken an eine faulige Leiche überkommen war, recht schnell von uns ab.

      Langsam gingen wir um das Haus herum. Ab und zu schlug Tommy uns den Weg mit der Machete frei. Aber im großen und ganzen schien es mir, als wären die Bereiche rund um das Haus weit weniger mit stacheligen Brombeerhecken oder sonstigem Unkraut zugewuchert, als ich das von früher her in Erinnerung hatte.

      „Achtet auf einen Eingang!“, rief ich über die Schulter zurück zu den Mädchen. Ich war zwar sicher, dass es keinen gab, aber ich wollte, dass sie sich fühlten, als ob sie zu uns gehörten an diesem spannenden Nachmittag. Und ich fand, das taten sie bereits.

      Das Haus war graubraun verputzt, so wie viele in der Gegend. Soweit ich von meinem Vater wusste, mussten diese Häuser in den dreißiger Jahren erbaut worden sein, kurz vor dem zweiten Weltkrieg. Es waren stabile Bauten mit Kellern, die man noch Keller nennen konnte. Allerdings, so mein Vater, waren sie nicht isoliert und wenn man so eins kaufte, musste man erst gegen den Schimmel und die Mäuse ankämpfen.

      Eigentlich war es ein recht kleines Haus, es bestand nur aus dem Erdgeschoss und einer ersten Etage, die gleich auch das Dach trug. Die Fenster waren etwa anderthalb Meter über dem Erdboden, und die Dachfenster in den Gauben waren für uns sowieso unerreichbar. Stellenweise wuchs Wein und Efeu


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