Das Buch der Gaben. Micha Rau

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Das Buch der Gaben - Micha Rau


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fahren. Wir haben hier nur ein kleines Café am Platz und das Jugendhaus. Aber da sind zu viele Hirnis. Da geh’ ich nicht mehr hin.“

      „Hirnis?“, fragte Tommy irritiert.

      „Na Idioten“, erklärte ich und dachte, wieder mal was, was er nicht wusste. Es schien, als hätte er bisher nicht allzu viel Zeit mit Gleichaltrigen verbracht. Ich hatte ihn noch gar nicht gefragt, ob er da, wo er herkam, einen 1a Freund gehabt hatte. Bei dem, was Sanne erzählte, verzog ich das Gesicht. Das war Weiberkram. Im Café sitzen und endlos rumlabern. Ich dachte mir, Tommy wollte was Spannendes machen und überlegte fieberhaft, was ihn wohl reizen konnte. Und dann kam mir ein Einfall.

      „Mit meinem Freund Andi habe ich mal ein Baumhaus im Wald gebaut. Wenn du unsere Straße bis zum Ende gehst, fängt der Wald an. Ach Mensch, das weißt du ja! Da, wo auch das Hundeauslaufgebiet ist. Und wenn wir genug davon hatten, die Leute zu beobachten, sind wir immer auf dieses riesige Grundstück gegangen. Da steht seit Jahren ein Abrisshaus drauf, das keinen Eingang hat. Manchmal haben wir da den ganzen Tag gespielt, bis uns die Nachbarn verjagt haben. Das ist absolut toll da, alles zugewuchert mit Brombeeren und Sträuchern und all so’n Zeug. Wie geschaffen für Indiana Jones.“

      Tommy schaute mich an, und ich wusste, ich hatte einen Treffer gelandet.

      „Seid ihr nie in das Haus gegangen?“

      „Na klar wollten wir. Aber die Fenster sind ziemlich hoch und einschlagen wollten wir keins.“

      „Keine Tür? Sie werden sie zugemauert haben, damit niemand einbricht.“

      „Keine Tür“, bestätigte ich. Ich konnte mich auch nicht entsinnen, dass ich eine Stelle gesehen hatte, die an eine früher dort vorhandene Tür erinnert hätte. Aber merkwürdig, warum zum Teufel hatten wir keine Stelle gesucht, die zugemauert schien? Es musste eine geben. Aber ich konnte mich eigentlich nur daran erinnern, dass der Garten eine magische Anziehungskraft auf uns ausgeübt hatte.

      „Es muss einen Eingang haben“, drängte Tommy. „Was ist mit Kellerfenstern oder Gittern?“

      Ich dachte nach und versuchte, mir das Haus und jede seiner Seiten ins Gedächtnis zu rufen. Aber es gelang mir einfach nicht, das Bild vor meinem inneren Auge entstehen zu lassen.

      „Ich kann mich nicht erinnern, dass es Kellerfenster oder sonst was hat. Vielleicht waren sie aber auch alle zugewachsen von den Brombeeren. Da kommst du ohne dicke Handschuhe und lange Jeans nicht durch.“

      „Dann sollten wir morgen Jeans und Handschuhe mitnehmen“, meinte Tommy völlig ernst. Ich dachte in diesem Moment ein letztes Mal an Andi. Was ich mit meinem alten Freund erlebt hatte, sollte gegenüber den Ereignissen der nächsten Tage verblassen und nur noch als nette Erinnerung an ein altes Leben in meinem Kopf verbleiben.

      „Okay“, sagte ich. „Erkunden wir morgen das Haus. Außerdem wird das Lazy und Jever freuen. Das Gelände ist toll zum Herumstreunen für die beiden.“

      Sanne berührte Tommy am Arm, was ich mit einem gewissen Befremden feststellte.

      „Kann ich mitkommen?“

      „Nein“, sagte ich.

      „Ja“, sagte Tommy gleichzeitig, und wir schauten uns an. Mir blieb wohl nichts anderes übrig, als einzulenken. Tommy hatte also schon die Führung übernommen.

      „Na gut. Aber du wirst mit uns keinen Spaß haben. Triff dich doch lieber mit deiner komischen Freundin“, machte ich einen letzten Versuch.

      „Die nehm ich mit!“, meinte Sanne schnippisch, und ich hatte endgültig verloren.

      Der Bus kam, und für diesen Tag trat das Haus in den Hintergrund. Aber es sollte sich sehr schnell wieder daraus lösen.

       *

      Als wir im Einkaufszentrum ankamen, standen bereits eine Menge Leute rund um die Absperrungen, die man vorsichtshalber weiträumig um den Platz gezogen hatte, auf dem der Kran stand. Schon von weitem winkte uns ein Mädchen zu, das mir irgendwie bekannt vorkam. Und als Sanne zurück winkte, fiel mir auch wieder ein, dass ich sie schon zwei, drei Mal bei uns zu Hause gesehen hatte, als sie zum Hausaufgaben machen zu meiner Schwester kam. Die beiden waren jedoch immer sofort in Sannes Zimmer verschwunden, ganz so, als würde es völlig unter ihrer Würde sein, mit einem ein Jahr älteren Jungen auch nur ein Wort zu wechseln. Auf der anderen Seite, wenn ich so darüber nachdenke, habe ich Andi auch nie meiner Schwester vorgestellt. Das wäre schließlich peinlich.

      Also, dieses Mädchen winkte wie verrückt, und Tommy und mir blieb nichts anderes übrig, als uns von Sanne in ihre Richtung ziehen zu lassen. Lazy und Jever hatten wir an die Leine genommen, und das nahmen uns beide ziemlich übel. Lazy trabte im Tempo einer Schildkröte nebenher, was unser eigenes Vorankommen ziemlich einschränkte, und Jever würdigte uns keines Blickes, da es ihm an der Leine unmöglich war, ausgiebig rumzuhopsen und wiederum er der Meinung war, dass sein Vorankommen ziemlich eingeschränkt war.

      Als wir an den Gittern, die die Absperrungen bildeten, angekommen waren, ging gerade ein Raunen durch die Zuschauer. Es machte sich soeben jemand bereit, in die Tiefe zu springen. Es war nicht gerade sehr einfallsreich, einen Kran aufzustellen, an dem oben eine Plattform angebracht war, von der man sich dann auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums hinunter stürzen sollte. Ich dachte bei Bungee-Jumping immer an andere Orte, wie zum Beispiel eine Hängebrücke über einem reißenden Urwaldfluss oder an den Eiffelturm.

      Wenn ich jetzt so nach oben starrte, dann war mir schon recht komisch zumute, obwohl ich es doch gar nicht selbst war, der da mit einem dünnen Seil an den Füßen ins Nichts springen sollte. Ich entdeckte ein Schild am Fuße des Aufbaus, das die technischen Daten des Spektakels festhielt: Absprunghöhe achtzig Meter, TÜV-geprüft im Juni - das war erst letzten Monat - und maximal mögliche Sprungfrequenz zwölf Springer pro Stunde.

      Ich dachte, wo ist denn die Statistik, wie viele Springer in der letzten Zeit zermatscht wurden? Ich suchte sozusagen nach den Kerben, die anzeigten, wie viele der Kran schon auf dem Gewissen hatte, aber darüber schwiegen sich die Veranstalter aus. Im nächsten Augenblick hörte ich schon einen langgezogenen Schrei, den der Springer da oben ausstieß, als er sich todesmutig fallen ließ, und gleich darauf kreischte die Meute um mich herum ebenfalls um die Wette. Mich überfiel ein seltsames, übles Gefühl, und ich duckte mich unwillkürlich, als ob ich dadurch den armen Kerl aufhalten könnte!

      Mit angehaltenem Atem verfolgten wir, wie der Springer von dem Seil abgefangen wurde und etwa fünf Meter über dem Betonboden wieder nach oben schnellte. Was dann folgte, war naturgemäß weniger aufregend. Beim Auspendeln bestand keine weitere Gefahr mehr.

      „Hallo, ich bin Janine“, sagte Sannes Freundin und streckte mir ihre Hand hin. Ich dachte, oh Mann, noch so eine, gab ihr dann aber doch die Hand und grinste.

      „Ich bin Joe, und ich habe gehört, dass du als Nächste springen willst?“

      Sie zuckte regelrecht zurück und schaute mich richtig entsetzt an.

      „Wer hat dir denn das erzählt? Niemals würde ich da freiwillig raufgehen!“

      Sanne boxte mich in die Seite und lachte.

      „Lass dir nichts erzählen! Das ist mein Bruder, den brauchst du nicht ernst nehmen. Und das hier ... “, sie zeigte auf Tommy, „ ... ist Tommy. Er ist gerade bei uns eingezogen, und wir dachten, wir nehmen ihn mit, ein wenig von der großen Stadt zeigen.“

      Tommy und ich schauten uns an. Wir verstanden uns blind. Toll, wie meine Schwester das so ausdrückte, wir nehmen ihn mit! Dabei war es ja wohl eher so, dass wir Sanne mitgenommen hatten. Aber so sind Frauen nun mal. Ich betrachtete Janine verstohlen, und ich muss zugeben, so ganz und gar unsympathisch war sie mir nicht. Ihre Haare gingen ihr bis auf die Schulter, sie hatte eine süße Nase und trug Delfin-Ohrringe.

      „Und, was machen wir jetzt?“, fragte Sanne. „Erst ins Kino oder erst ein Eis?“

      „Kino wär nicht schlecht“, sagte Tommy. „Doch zuerst will ich springen.“

      Wir


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