Anna Q und die Suche nach Saphira. Norbert Wibben
Читать онлайн книгу.gegen dich spielen, das würde unserer Spielpraxis guttun. Ich werde Professor Mulham fragen, ob wir uns dazu täglich hier treffen dürfen.«
»Du sagst Professor zu ihr, dann ist sie auch eine unserer Lehrerinnen? Ich dachte, sie wäre die Bibliotheksleiterin. Wie passt das zusammen?«
Robin schaut sich kurz um und zieht Anna wieder auf einen Stuhl herab, als er die Frau nirgends bemerkt. Wohin ist sie denn jetzt verschwunden? Die Eingangstür haben sie nicht gehört, aber umso besser. Dann muss er nicht flüstern.
»Sie heißt Professor Morwenna Mulham und ist schon über dreißig Jahren am CC. Sie übt beide Funktionen aus«, erklärt er. »Wie sie das schafft, ist mir ein Rätsel. Vermutlich liegt das daran, dass ihr Lehrgebiet Strategie und Logik ist, und erst ab dem vierten Jahrgang unterrichtet wird. Ich habe gehört, dass sich kaum Schüler dafür melden. Außerdem kommt ihr entgegen, dass die Bibliothek erst nach dem Regelunterricht, also Fächern wie Mathematik, Sprachen und Naturwissenschaften, am Nachmittag geöffnet wird. Sport, Kunst und andere Neigungsfächer finden dann zwar parallel statt, doch das stört nicht. Geschlossen wird die Bibliothek mit dem ersten Gong fürs Abendessen.«
»Dann war das eine Ausnahme und ein Entgegenkommen von ihr, dass wir hier zu Ende spielen durften? Sie hat dadurch ebenfalls das Abendessen verpasst.« Anna schaut suchend umher. »Warum sie das wohl gemacht hat?«
»Das ist mir auch ein Rätsel. Sie gilt als besonders streng und nimmt es einem sehr krumm, wenn man ihre Anweisungen missachtet. Du hast ja gesehen, wie gebieterisch uns »M hoch Zwei« angesehen hat.«
»Wen meinst du … ach so. Ist das ihr Spitzname?« Bevor Robin sich dazu äußern kann, vernehmen beide ein empörtes Schnauben.
»Du nennst mich »gebieterisch« und sprichst im gleichen Atemzug meinen Geheimnamen aus? Was fällt dir ein und woher kennst du ihn? Weißt du nicht, wie gefährlich …?« Morwenna unterbricht sich plötzlich. Graue Augen schleudern Blitze und die hagere Gestalt wirkt kurzzeitig bedrohlich, bevor sie wieder ihr vorheriges Aussehen annimmt. »Jetzt verschwindet besser schleunigst, bevor ich es mir überlege und ihr eine angemessene Strafe bekommt!« Woher die Professorin so plötzlich gekommen sein mag, ist den Schülern ein Rätsel.
Sie brummen verdattert: »Danke«, erheben sich und stürmen zum Ausgang. Die Tür lässt sich sofort öffnen, obwohl sie nicht gehört haben, wie der Schlüssel erneut gedreht worden ist. Sobald sie ins Schloss fällt, atmen beide erleichtert auf.
»Wow, das war knapp!« Anna ist immer noch über das plötzliche Erscheinen der Professorin erschrocken. Robin fasst sie am Arm.
»Ich habe mein Schachspiel liegenlassen. Was machen wir jetzt?«
»Ich geh da nicht wieder rein!« Der Gesichtsausdruck des Mädchens ist eindeutig. Es weiß zwar nicht, welche mögliche Strafen angedroht wurden, doch sie will es auch lieber nicht wissen. Der Junge grübelt. Soll er es riskieren? Professor Mulham schien reichlich aufgebracht. Warum nannte sie »M hoch Zwei« ihren Geheimnamen? Robin hatte diesen Ausdruck wie Anna für einen Spitznamen gehalten, abgeleitet von den zwei Anfangsbuchstaben ihres Namens.
MM könnte mathematisch ausgedrückt zu M mal M, also M zum Quadrat, oder M hoch Zwei werden! Wofür benötigt man überhaupt einen speziellen Namen und weshalb ist es gefährlich, ihn auszusprechen?
»Ich trau mich auch nicht«, gesteht Robin. »Da Professor Mulham gesehen hat, dass das mein Schachspiel ist, werde ich es morgen Mittag abholen. Ich hoffe nur, dass sie uns trotz dieses Zwischenfalls erneut im Lesesaal spielen lässt!« Beide gehen den langen Flur entlang, in dem ihnen lachende oder diskutierende Mitschüler entgegenkommen. Sie verabreden sich schließlich für den morgigen Nachmittag um Drei, nicken kurz und trennen sich.
Draußen herrscht schon Dämmerung. Anna möchte noch etwas die Nachtluft genießen und wandert durch den Park. Sie muss ihre Gedanken ordnen, bevor sie sich zu dem Nebengebäude begibt, in dem sich die Schlafräume der Schülerinnen befinden.
In der Nacht
In dem Nebengebäude geht sie durch mehrere Gänge und über steile Treppen bis ganz nach oben. Die Schülerinnen des ersten Jahrgangs schlafen in Zimmern mit vier Betten unter dem Dach. Auf dem Weg dorthin denkt Anna kurz an ihre Ankunft im Internat.
Alle Schüler mussten am Vorabend des ersten Tages zum Abendessen im Speisesaal eintreffen, wo der Schulleiter Iain Raven die neuen Kinder mit einer kurzen Ansprache empfing. Er wies auf die Schulregeln hin, die unbedingt zu beachten seien und deshalb in jedem Schlafraum ausliegen würden.
»Verstöße führen im Wiederholungsfall zum sofortigen Schulverweis!« Diesen Satz unterstrich er mit einem ausgestreckten Arm in Richtung Tür. Anna weiß noch, dass sie meinte, die Augen unter den buschigen, weißen Augenbrauen würden speziell sie betrachten. Unwillkürlich versuchte sie, sich kleiner zu machen, als sie ohnehin schon ist, um sich hinter ihrem Nachbarn zu verstecken.
Nach dem Essen, von dem sie wegen des Knotens im Bauch fast nichts zu sich nahm, wurden die Kinder einzeln aufgerufen und der Obhut älterer Schüler übergeben. Diese Vertrauensschüler führten die Neuankömmlinge zu ihren Schlafräumen in den rechts und links vom Haupthaus liegenden Nebengebäude. Die Mädchen hatten mehr Glück als die Jungen, da die eigentlich für vier Kinder gedachten Zimmer mehr Schlafplätze boten, als benötigt wurden. Nur wenige Schülerinnen kannten sich untereinander, die deshalb gemeinsam einen Raum belegten. Die schmächtige Anna wurde von den kräftigeren Mädchen an die Seite gedrängt, so dass sie schließlich mit ihrem Koffer allein im Flur stand. »Du hast aber Glück«, wurde sie von der Vertrauensschülerin angesprochen. »Das Zimmer neben dem Treppenaufgang wurde offenbar von den anderen übersehen, dabei ist es das mit dem schönsten Blick in den Park.« Anna blickte fragend in ein freundlich lächelndes, mit Sommersprossen übersätes Gesicht. Die langen und dichten, roten Locken reichen weit über die Schultern hinab. »Ich bin Caitlin Neville«, stellte sie sich vor. Erst da raffte sich die Angesprochene zusammen.
»Entschuldigung. Ich war in Gedanken … Ich bin Anna Q. Warum meinst du, dass ich Glück habe, nur wegen der Aussicht?«
»Nein, obwohl sie wirklich schön ist. Aber es gibt einen weiteren Grund. Die anderen belegen zu dritt ein Zimmer. Na ja, manche auch nur zu zweit, aber du hast ein Einzelzimmer.« Anna erinnert sich, dass sie nicht sicher war, ob das ein Vorteil ist, doch inzwischen stimmt sie Caitlin zu. Der Raum ist kleiner als die Viererzimmer und eigentlich für zwei Bewohner ausgelegt. Es erinnert das Mädchen mittlerweile an sein Zimmer zuhause. Die Fotografien ihrer Mutter und Großmutter, aber besonders die ihres Vaters, tragen erheblich dazu bei. Sie hängen über ihrem Schreibtisch, so dass ihr Blick oft darauf haften bleibt.
Anna hat sich mittlerweile an die vielen Treppenstufen gewöhnt und ist kaum merklich außer Atem, als sie in ihr kleines Reich tritt. Das verpasste Abendessen lässt ihren Magen vernehmlich knurren. Ihr Blick schweift sofort zum Bild des Vaters und von dort zu einer Schale auf dem Schreibtisch. Darin liegen zwei Äpfel und eine Banane. Beim Frühstück ist es den Schülern erlaubt, sich Obst für den Tag mitzunehmen, was Anna gerne nutzt. Zu den Hauptessenszeiten verspürt sie noch oft einen Knoten im Magen, der vermutlich von der Trennung vom Vater herrührt. Doch es wird langsam und von Tag zu Tag besser. Sie fühlt sich manchmal wie beim letzten Ausflug ihrer Grundschulzeit, als sie für fünf Tage in einer Jugendherberge einquartiert waren.
Anna schnappt sich die gelbe Frucht, öffnet die Schale und beißt hungrig ein Stück ab. Kauend wirft sie einen Blick nach draußen in den Park. Ein Schauer läuft über ihren Rücken, als sie ein lautes Kreischen vernimmt. Was ist das? Sie legt die angebissene Banane auf die Schreibunterlage, öffnet einen Fensterflügel und beugt sich etwas hinaus. Sie horcht angestrengt. Von wo mag das gekommen sein, und vor allem, was war die Ursache?
Lauert innerhalb des mit Mauern und Toren umgrenzten Gebiet des Internats eine Gefahr auf die Schüler? Anna verspürt einen stechenden Schmerz im Kopf. Es fühlt sich an, als ob ein glühendes Messer zu einem Auge hinein, quer durch ihren Schädel stoßen würde.
»Hoffentlich