Anna Q und die Suche nach Saphira. Norbert Wibben

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Anna Q und die Suche nach Saphira - Norbert Wibben


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Plötzlich ist der Schmerz wieder vorbei. Sie atmet erleichtert auf. Als erneut ein schrilles Kreischen erklingt, richten sich ihre Nackenhärchen auf. Sie holt mehrmals kontrolliert Luft, um nicht in Panik zu fallen. Obwohl das Schreien lauter als bei geschlossenem Fenster gewesen ist, kann Anna das Geräusch nicht zuordnen. Trotzdem ist sie sicher, das klingt nach einem verängstigten Tier. Sollte ein nächtlicher Greifvogel eine Maus gefangen haben? Doch für eine Maus war das Kreischen zu laut, zumal eine Eule ein Opfer schnell tötet. Das Mädchen versucht, mit weit geöffneten Augen draußen etwas zu erkennen. Die Dämmerung ist mittlerweile in eine stockfinstere Nacht übergegangen, auch Sterne sind nicht mehr am Himmel zu sehen. Nach der Hitze des Tages zogen am Nachmittag erste Wolken auf. Auf ihrem Weg durch den Park bemerkte Anna die Schwüle, die ein heraufziehendes Gewitter ankündigt. Aber das Geräusch eben war kein entfernter Donner, es klang wie ein Schrei in höchster Not. Soll sie ihre Taschenlampe aus dem Schreibtisch nehmen und draußen nach der Ursache forschen? Etwas in ihr drängt sie, also gibt sie nach kurzem Zögern nach. Sie will zumindest in der näheren Umgebung um das Gebäude nach der Ursache suchen. Den gesamten Park wird sie nicht durchstöbern können, der ist zu weitläufig.

      Auf dem Weg die Treppenstufen hinab, beruhigt sich das Mädchen. Gefährliche Raubtiere gibt es in der Region nicht. In den Nachrichten wird zwar von einer wachsenden Zahl von Wolfsrudeln im Land berichtet, aber so weit im Westen sind bisher keine gesehen worden. Außerdem müssten diese Räuber erst Mauern und Tore überwinden, was ihnen sicher unmöglich ist.

      Einige Schülerinnen wundern sich, wohin Anna so spät am Abend will. In einer Viertelstunde müssen besonders die Erstklässler im Gebäude sein, wenn sie nicht Gefahr laufen wollen, eine Strafarbeit aufgebrummt zu bekommen. Anna lässt sich nicht beirren, lächelt und nickt ihnen zu. Dann schließt sie die Außentür hinter sich. Mit klopfendem Herzen steht Anna lauschend davor. Sie orientiert sich kurz und begibt sich dann zu der Giebelseite, in der sich ihr Zimmerfenster befindet. Erneut erklingt ein Kreischen. Es kommt von der Seite, ist sie sicher. Sie lässt die Taschenlampe aufleuchten und sucht mit dem hellen Lichtkegel nach der Ursache. Das Geräusch klang so, als ob es aus der Nähe, aber irgendwie gleichzeitig von unten, fast wie aus der Tiefe kam. Erneut läuft ein Schauer über ihren Rücken. Am Rande des Lichtkegels bemerkt sie eine plötzliche Bewegung. Sie erschrickt derart, dass ihr die Taschenlampe aus der Hand fällt. Sie landet auf dem Weg und sendet den Lichtstrahl in ein Gebüsch. Anna atmet aufgeregt. Was ist das dort? Nach wenigen Augenblicken meint sie, zu träumen. Unter einem Haselbusch wurde eine Durchlauffalle aufgestellt. Das können der Gärtner oder der Hausmeister gewesen sein. Aber anders als beabsichtigt, wurde darin keine Ratte oder ähnliches Getier gefangen, sondern ein großer, schwarzer Vogel. Das Mädchen hält den Atem an, greift sich die Taschenlampe und leuchtet mit ihr nicht direkt auf das verängstigte Tier. Das kreischt laut und versucht mit den Flügeln zu schlagen, was wegen der Enge der Falle jedoch unmöglich ist.

      »Schsch!« Anna will mit leiser Stimme den aufgeregten Vogel beruhigen. »Ich lasse dich sofort frei, du musst nur ruhig sein.« Sie bückt sich und kriecht vorsichtig in das Gebüsch. »Hoffentlich wurde das arme Tier nicht verletzt, möglicherweise an einem Flügel«, denkt sie bekümmert. Sie schirmt den Lichtkegel etwas mit der Hand ab, um den Mechanismus der Falle zu erkunden, ohne den darin Gefangenen zu blenden. Sie versucht dabei immer wieder, den Vogel mit »Schsch« zu beruhigen, was offenbar erfolgreich ist. Er hat aufgehört mit den Flügeln zu schlagen, kollert mit tiefer Stimme und klappert mit den Augendeckeln. Sollte er verstehen, was Anna versucht? Endlich gelingt es ihr, die Sicherung der Eingangsklappe zu entriegeln. Sie schiebt das Gitter nach oben. »Komm heraus, mein Freund. Aber sei mit den Flügeln vorsichtig, der Ausgang in die Freiheit ist reichlich eng.«

      Das Tier legt den Kopf schräg, klappert zweimal mit den Augendeckeln und kommt langsam auf Anna zu. Sie versucht nicht, ihm durch die schmale Öffnung zu helfen. Das könnte ihn ängstigen oder zurückscheuchen. Außerdem weiß sie nicht, wo sie das Tier anfassen sollte, also wartet sie ab und redet ihm gut zu. Tatsächlich schafft es der große Vogel allein, hinauszukommen. Er krächzt einmal leise, fast so, als ob er sich bedanken wolle. Dann huscht er tiefer unters Gebüsch und Anna lässt die Falle wieder zufallen. Sie will verhindern, dass erneut ein Tier darin gefangen wird. Seufzend richtet sie sich auf und fährt erschrocken zusammen. Ein heftiger Donnerschlag zeugt von dem beginnenden Gewitter. Die ersten, dicken Regentropfen fallen, ein Blitz zuckt grell über den Himmel und erneut droht ein tiefes Grollen. Anna hastet zurück ins Haus. Sie ist froh, den Vogel aus seinem Gefängnis befreit zu haben. Bei dem Gewitter wäre er in der engen Falle vermutlich vor Schreck gestorben. Dass Kolkraben einerseits, dieser aber im Besonderen, keineswegs so zart besaitet sind, weiß sie nicht. Trotzdem ist eine Nacht in Freiheit einer in Gefangenschaft immer vorzuziehen, egal von welcher Kreatur!

      Anna liegt noch längere Zeit wach in ihrem Bett. Das ängstliche Kreischen des Vogels taucht immer wieder in ihrem Kopf auf, während die Regentropfen gegen das Fenster trommeln und Blitze in unregelmäßigen Abständen den Raum erhellen. Bei jedem einzelnen Donner zuckt das Mädchen zusammen. Sein Vater Aedan hat ihm einmal erklärt, was bei einem Gewitter passiert. Besonders im Sommer, wenn die Hitze warme Luft aufsteigen lässt, wird auch Feuchtigkeit aus dem Boden oder Gewässern mitgerissen. Diese kühlt ab, je höher sie steigt. Es entstehen Wolken, die sich zu hohen Gebilden auftürmen. Im Inneren und gegenüber zum Erdboden bilden sich dadurch elektrische Spannungen, die schließlich über die Blitze entladen werden. Diese Lichterscheinungen entstehen durch den Ladungskurzschluss, bei dem ein riesiger elektrischer Strom fließt, der dabei die Luft explosionsartig erhitzt. Die dehnt sich aus und zieht sich beim Abkühlen wieder zusammen, was zu einer Druckwelle führt, die als lautes Grollen und Knallen zu hören ist. Anna erinnert sich, dass ihr Vater ihr einschärfte, dass das Gefährliche beim Gewitter also nicht der Donner, sondern die vorher auftretenden Blitze seien. Sie weiß von ihm, dass diese von hohen Punkten im Gelände angezogen werden. Das können Gebäude oder Bäume sein, aber auch Tiere und Menschen, wenn sie auf einer freien Ebene von einem Gewitter überrascht werden. In dem Fall hilft nur, sich so klein wie möglich hinzuhocken und die Füße eng nebeneinanderzustellen. Am besten hält man sich bei dieser Naturerscheinung in einem Gebäude auf, dass mit einem Blitzableiter versehen ist. Strom wird von vielen Metallen sehr gut geleitet. Deshalb wird das für die Erstellung dieser Schutzeinrichtungen genutzt, um die gefahrbringenden Blitze sozusagen einzufangen und unschädlich in den Boden zu leiten. Derartige Blitzableiter gibt es auf allen Gebäuden des Internats. Das hatte ein Professor in einer der ersten Physikstunden erläutert. Obwohl Anna dies gerne glauben will, fürchtet sie bei jedem neuen Blitz um die Wirksamkeit dieser technischen Einrichtung. Die lauten Donnerschläge lassen sie ängstlich zusammenfahren.

      Schließlich wandern ihre Gedanken zu ihrem Vater Aedan und ihrem bisherigen Leben. An ihre Mutter erinnert sie sich nicht, da diese kurz nach Annas Geburt gestorben ist. Sie kennt sie natürlich von Bildern und aus Erzählungen, aber das ist nicht das Gleiche. Aus Gesprächen mit ihrer Großmutter weiß sie, wie sehr ihr Vater nach Mutters Tod gelitten hat. Er vernachlässigte die Arbeit, um rund um die Uhr für seine Tochter da zu sein. Die beiden zogen Anna trotz dieser widrigen Umstände gemeinsam und sehr liebevoll auf. Als Aedan schließlich wieder regelmäßig seiner Arbeit als Wissenschaftler an einer angesehenen Universität nachging, versuchte er trotzdem, so viel Freizeit wie möglich mit ihr zu verbringen. Als sie vier Jahre alt war, begann er mit ihr Schach zu spielen, da sie kein Interesse für Puppen zeigte. Als sich die Grundschulzeit dem Ende neigte, starb die Großmutter. Zu der Zeit wurde Annas Vater die Leitung einer Forschungsreise an den Südpol angeboten, weshalb sie gemeinsam nach einem geeigneten Internat suchten. Obwohl sich das Mädchen in den ersten Wochen nicht sicher war, eine gute Wahl getroffen zu haben, ist sie an diesem Abend bereit, das anders zu sehen. Während des Schachspiels zögerte sie vor manchen Zügen nicht deshalb, weil sie unsicher war, sondern, weil sie sich vorstellte, ihrem Vater gegenüberzusitzen. Sie freut sich auf die morgige Revanche gegen Robin und gleitet langsam in den Schlaf.

      Zuckende Blitze werfen ihren hellen Lichtschein auf das Bild ihres Vaters und das ihrer Mutter. Auf ihnen ist ein feines, blaues Leuchten zu sehen, das schnell größer wird und in den Raum strahlt. Anna


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