John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski. John Henry Mackay

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John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski - John Henry Mackay


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anrücken. In diesem Augenblick fliegt von unbekannter Hand eine Bombe in die Reihen der Angreifer. Die Polizei eröffnet ein mörderisches Feuer...

       Wer hat die Bombe geworfen? – Vielleicht die Hand eines Verzweifelten, der sich so gegen die neue Niedermetzelei verteidigen wollte; vielleicht – es war die in den Arbeiterkreisen Chicagos vorherrschende Meinung – einer der beauftragten Agenten der Polizei selbst: Denn wer kennt nicht die Mittel, zu denen unsere Gegner greifen, um uns zu vernichten? – War es so, dann hat er seine Sache wohl besser gemacht, als man selbst erwartet hatte...

      – Wer hat die Bombe geworfen? – Wir wissen es so wenig, wie jene acht Männer es wissen, die in dem ungeheuren Entsetzen, welches sich nach dieser Stunde Chicago ausbreitete, aufs Geradewohl herausgegriffen wurden, da sie die bekanntesten Namen in der Bewegung trugen, obwohl mehrere von ihnen überhaupt auf der Versammlung nicht zugegen gewesen waren. Aber was tat das? Es hinderte den Gerichtshof ebenso wenig, sie gefangen zu nehmen, wie es ihn hinderte, sie der geheimen Verschwörung für schuldig zu erklären, trotzdem sich einige unter ihnen nie vorher gesehen hatten.

      – Weshalb sind sie verurteilt? schloss sie. – Nicht weil sie ein Verbrechen begangen haben – nein, weil sie die Anwälte der Armen und Unterdrückten gewesen sind! Nicht weil sie Mörder sind – nein, weil sie es gewagt haben, dem Sklaven die Gründe seiner Sklaverei die Augen zu öffnen. Diese Männer, deren tadelloser Charakter sogar nicht von den gehässigsten Angriffen der „Organe der öffentlichen Meinung“ beschmutzt werden konnte, werden gehängt, weil sie selbstlos, wahr und treu ihren Überzeugungen gedient haben in einer Zeit, in welcher unangetastet nur der bleibt, der als Lügner mit den Lügnern geht!

      Sie schwieg. Alles hatte gespannt zugehört. Jetzt klatschten viele.

       Auban verfolgte sie mit seinen durchdringenden Blicken, wie sie die Treppe der Empore in den Saal hinunterstieg und sich, als sie alle Bänke besetzt fand, unbekümmert und gleichgültig auf den Stufen derselben niederließ. Es war, als wollte er durch die Hand, welche sie wie in körperlichen Schmerzen vor die Augen breitete, hindurchsehen in die Tiefe ihrer Seele, um auch hier die Bestätigung seiner tiefsten Überzeugung zu finden, welche die letzte war, die zu erwerben ist: die Selbstsucht alles Seienden. Und auch hier scheute er sich nicht einen Augenblick, sich zu gestehen, dass diese Frau glücklicher sein musste in diesem Leben voll Mühe, Aufopferung und Entsagung, als sie es gewesen wäre, wenn sie jenes weitergelebt hätte, welches sie in Wohlhabenheit und Sorglosigkeit hatte aufwachsen lassen, und welches sie verlassen hatte, um – wie sie und alle anderen glaubten, – der „Sache der Menschheit“ zu dienen, während sie auch dann nur, wenn auch völlig unbewusst, dem Rufe ihres eigenen Glückes gefolgt war.

      Das minutenlange Rauschen und Sprechen im Saale legte sich, und Aubans Blicke und Gedanken wandten sich wieder der Tribüne zu, von welcher die Stimme des Chairman den Namen des nächsten Redners herabrief.

      – Sehen Sie dort, sagte Mr. Marell zu Auban. – Dieser junge Mann kommt von Chicago. Er wird Ihnen einiges von dort erzählen. Er ist erst heute von Liverpool hier eingetroffen.

       Auban hörte gespannt zu: Der Amerikaner erzählte einige der wenig bekannten Details des Prozesses, die das ganze Verfahren gegen die Angeklagten besser kennzeichneten als alles andere. Er beschrieb die Hergänge bei der Zusammensetzung der Jury, indem er die Worte des Bailiff anführte: „Ich habe diesen Fall in Händen und weiß, was ich zu tun habe. Diese Leute werden auf alle Fälle gehängt. Ich lade solche Männer zur Wahl, welche die Verteidiger verwerfen müssen – bis sie bei denen angelangt sind, welche sie wahllos annehmen müssen ...“ Er schilderte die Persönlichkeiten des Staatszeugen, jenen verlogenen Schuft, der von der Polizei Geld erhalten hatte, um alles zu sagen, was diese wollte ... die beiden anderen Belastungszeugen, denen man die Wahl gestellt hatte, entweder mitgehängt zu werden oder frei auszugehen und die „Wahrheit“ zu sagen. „Werden solche Menschen nicht alles sagen, was man von ihnen verlangt, wenn sie Tod oder Freiheit vor Augen haben?“ rief der Redner, und laute Zustimmungsrufe aus allen Teilen des Saales folgten seinen Worten. Als er dann die Worte jenes brutalen und berüchtigten Polizeihauptmanns wiedergab: „– wenn ich nur tausend dieser Sozialisten und Anarchisten gleichzeitig in einem Bündel zusammen hätte, mit ihren verdammten Weibern und ihrer Brut, ich würde kurzen Prozess mit ihnen machen“; und als er von jener ehrlosen „paid and packed jury“, welcher für ihre ‚Dienste’ von den Geldprotzen Chicagos durch den Mund eines ihrer Organe die Belohnung von hunderttausend Dollars angeboten war, sprach, brach ein ungeheurer Sturm von Entrüstung und Verachtung los. Zwischenrufe wurden laut, Drohungen hörbar, und noch wogte die Aufregung zwischen den Reihen der Versammlung, als schon der junge Amerikaner abgetreten war und einem kleinen Mann, gekleidet in langen Gehrock, mit dichtem und langem Vollbart, sich lichtendem Haupthaar und unverkennbar slavischem Typus Platz gemacht hatte; und die Rufe der Entrüstung und des Unwillens verwandelten sich plötzlich in jubelnde Zurufe des Erkennens und der Verehrung, der Begeisterung und der Zuneigung.

      Gewiss waren unter den Tausenden nicht viele, welche diesen Mann nicht kannten, der vertrauter begrüßt wurde, als irgendeiner der englischen Leader; die nicht schon vernommen hatten von seinen merkwürdigen Schicksalen, seiner wunderbaren Flucht aus den Festungen Petersburgs, die ihn nach Frankreich und dort von Neuem in das Gefängnis führen sollte, um ihn endlich hier in England eine letzte Zufluchtsstätte finden zu lassen – vernommen in jener sich widersprechenden, sich durchkreuzenden Weise, welche eine Person in den ferner stehenden Kreisen von selbst mit dem Schimmer des Fremden und Ungewöhnlichen umgibt; welche nicht wussten, was dieser Mann für die „Sache“ getan hatte und noch Tat. Seine Schriften, verstreut in den revolutionären Organen des „anarchistischen Kommunismus“ aller Sprachen, waren es, die seit einer Reihe von Jahren für die kommunistischen Anarchisten die unerschöpfliche und oft einzige Quelle ihrer Propaganda bildeten. Jeder kannte sie; jeder las sie wieder. Seine Kraft, die er einst der geheimen inneren Bewegung in Russland gewidmet hatte, gehörte nun der internationalen an; und gewiss hatte diese ebenso viel an ihm gewonnen, als jene an ihm verlieren musste. Diese Kraft war unersetzlich, und weil jeder dies wusste, dankte es ihm jeder, der ihn sah.

       Er war Kommunist. Das Blatt, welches in Paris in französischer Sprache erschien und welches er, dem der Aufenthalt dort unmöglich gemacht worden war, von London aus leitete, nannte sich „kommunistisch-anarchistisch“. Er hatte es versucht in geistvollen Aufsätzen, welche in einer der bedeutendsten Monatsschriften Englands erschienen, die „wissenschaftlichen Grundlagen“ seines Ideals zu geben, das er glaubte Anarchie nennen zu dürfen. Aber auch aus diesen Arbeiten, welche einen ungefähren Begriff von dem Umfange der Kenntnisse ihres Verfassers in Bezug auf alle Fragen des Sozialismus und von seiner enormen Belesenheit gaben, war es Auban nicht gelungen, sich ein Bild von der Möglichkeit dieser Theorien in der Wirklichkeit zu machen. Und er sah auch aus dem Wahnglauben an diese neue und doch so alte Religion nichts sprießen als eine neue Missernte von Unfreiheit, Unordnung und innerlichstem Elend ...

      Währenddessen hatte der, dem diese Gedanken galten, in nervöser Erregung – wie unzählige Male mochte er schon so an dem Ufer des brausenden Menschenmeeres gestanden haben! – darauf gewartet, dass sich der Beifallssturm legen möchte, der zu ihm hinaufbrauste. Nun begann er in jenem harten, klaren Englisch des Russen, der die Sprachen aller Länder spricht, in denen er lebt. Man glaubte ihn erst nicht verstehen zu können; nach drei Minuten war es unmöglich, ein Wort seines lebendigen und hinreißenden Vortrages zu verlieren. „Als was erscheinen die Vorgänge in Chicago?“ fragte er. Und er gab die Antwort: „Als eine Rache an Gefangenen, die gemacht sind in dem Kampf zwischen den beiden großen Klassen. Wir protestieren dagegen als gegen eine Grausamkeit und eine Ungerechtigkeit. Es ist die Schuld unserer Gegner“, rief er, „wenn solche Verbrechen den Kampf immer furchtbarer, immer erbitterter, immer unpersönlicher machen. Es ist das keine Angelegenheit, welche nur das amerikanische Volk angeht: Das Unrecht, an den besitzlosen Arbeitern jenes Landes verübt, trifft uns mit gleicher Wucht. Die Arbeiterbewegung ist ihrem ganzen Wesen nach international; und die Arbeiter jedes Landes haben die Pflicht, ihre Mitarbeiter in einem anderen aufzurufen und zu unterstützen im Widerstande gegen solche Verbrechen, welche an ihnen selbst begangen werden!“

       Er sprach nicht sehr lange; aber was er sagte, erregte ihn wie die Hörer gleichmäßig stark. Der unentrinnbare Ernst seiner Worte, sein blitzendes


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