John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski. John Henry Mackay

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John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski - John Henry Mackay


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mit Beschlag belegt wird? – Geh' die Welt zu Ende und sage mir, wo ich diesen Verpflichtungen entgehen und ich sein kann. Ich will hingehen in diese Freiheit, die ich vergebens gesucht habe, so lange ich lebe.

      – Aber deine Ansichten geben der Bourgeoisie nur neue Waffen in die Hand. –

      – Wenn Ihr die Waffen nicht selbst gebraucht, die einzigen überhaupt, an die ich noch glaube. Nur dann. – Und sicher: Sie, – diese langsam reifenden Ideen des Egoismus (mit Absicht brauche ich dies Wort) – sie sind in gleicher Weise gefährlich den heutigen Zuständen, wie sie es sein werden, wenn wir in den Hafen des alles beglückenden Volksstaates, in den verdichteten Kommunismus, eingelaufen sind – gefährlicher als all' eure Bomben und alle Bajonette und Mitrailleusen der heutigen Machthaber.

      – Du hast dich sehr verändert, sagte Trupp ernst.

      – Nein, Otto. Ich habe mich nur selbst gefunden.

      – Wir müssen darauf zurückkommen. Es muss sich entscheiden. –

      – Ob ich noch zu euch gehöre oder nicht? Das ist doch wohl nur eine Redensart. Denn der Freie – und du willst doch die ganze, unbeschränkte Autonomie des Individuums – kann nur sich selbst gehören.

      Sie waren jetzt in Charlotte Street eingetreten, die in ihrer Länge und trüben Dunkelheit vor ihnen lag.

      Sie bogen in eine der Nebenstraßen ein, in einen der fast menschenleeren und halb hellen Durchgänge, welche sich östlich nach dem Lärm von Tottenham Court Road hinziehen.

      – Wir müssen jetzt deutsch sprechen, sagte Auban in dieser Sprache, die aus seinem Mund ungeübt und fremd klang.

      Sie standen still vor einem schmalen, hellangestrichenen Hause. Über der Tür, auf der durch das dahinter flackernde Licht erhellten Scheibe, stand der Name des Klubs.

      Trupp stieß schnell die Tür auf und sie traten ein.

      * * *

      Zweites Kapitel – Die elfte Stunde

       Zweites Kapitel – Die elfte Stunde

      Am Abend des Freitag in der nächsten Woche fuhr Carrard Auban die endlos lange City Road mit dem Omnibus hinunter. Er saß neben dem Kutscher – einem Gentleman mit Seidenhut und tadellosem Äußeren – und verfolgte ungeduldig die allmähliche Abnahme der Entfernung, welche ihn von seinem Ziele trennte. Er war erregt und missgestimmt. Als der Wagen am Finsbury Square hielt, sprang er schnell ab, eilte das Pavement bis zur nächsten Querstraße hinunter, nachdem er einen orientierenden, prüfenden Blick auf die Lage der Straßen geworfen hatte, und befand sich nach wenigen Minuten an den Treppen von South Place Institute.

      Schon von weitem war eine ungewöhnlich starke Menschenansammlung bemerkbar. In Entfernungen von je einigen Schritten standen Polizisten. Die Türen des dunklen, kirchenartigen Gebäudes waren weit geöffnet; als Auban sich mit dem Strom langsam hineindrängte, wechselte er mit einigen Bekannten, die sich dort aufgestellt hatten und die Zeitungen ihres Vereins oder ihrer Richtung verkauften, flüchtige Worte des Grußes. Aus den Antworten sprach öfters Erstaunen oder Freude, ihn zu sehen.

       Er nahm mit, was er von den feilgebotenen Blättern erlangen konnte: „Commonweal“ das interessante Organ der Socialist League; „Justice“, das Parteiorgan der Socialdemocratic-Federation; und einige Nummern der neuen deutschen Zeitschrift „Londoner Freie Presse“, dem Unternehmen einer Anzahl deutscher Sozialisten verschiedenster Richtung, welches einen Zentralpunkt ihrer Ansichten bilden und der Propaganda unter dem deutschredenden Teil der Londoner Bevölkerung dienen sollte. Auban kehrte nie von diesen Meetings zurück, ohne die Brusttasche mit Zeitschriften und Pamphleten angefüllt zu haben.

      An der inneren Eingangstür wurde die Resolution des Abends verteilt; große, klarbedruckte Quartblätter.

      Der Saal war von ziemlich gleicher Breite und Tiefe; an den Wänden zog sich eine breite Galerie hin, die bereits fast gefüllt war. Im Hintergrund befand sich eine mannshohe Empore, auf der eine Anzahl von Stühlen für die Sprecher aufgestellt war. Sie war noch leer. Der Saal machte den Eindruck einer zu kirchlichen Zwecken bestimmten Halle. Darauf deutete auch die Form der Bänke hin.

      An diesem Abend jedoch war nichts bemerkbar von dem gleichgültigen, mechanisch-stillen Treiben einer religiösen Versammlung. Eine aufgeregte, lebhaft bewegte, ihre Gedanken laut austauschende Menge nahm die Bänke ein. Auban sah sie schnell. Er sah zahlreiche bekannte Gesichter. An der Ecke des Saales, in der Nähe der Plattform, standen einige der Redner des Abends. Auban durchschritt die Reihen der sich stetig füllenden Bänke und ging auf die Gruppe zu. Mit Einzelnen wechselte er einen stillen Händedruck; anderen nickte er zu.

      – Nun, Sie werden doch auch sprechen, Mr. Auban? wurde er gefragt.

      Er schüttelte abwehrend den Kopf.

      – Ich mag nicht englisch reden, überhaupt nicht reden. Das ist vorbei. Und was sollte ich sagen? Was man sagen möchte, darf man nicht aussprechen. – Es ist ein gemischtes Meeting? – fragte er dann leiser einen neben ihm Stehenden, den bekannten Agitator eines deutschrevolutionären Klubs.

      – Jawohl, Radikale, Freidenkerische, Liberale – alles Mögliche. Sie werden sehen, die meisten Redner werden sich dagegen verwahren, Sympathie mit dem Anarchismus zu hegen.

      – Haben Sie Trupp nicht bemerkt?

       – Nein, der wird wohl nicht kommen. Ich habe ihn noch nie auf einer dieser Versammlungen gesehen. Auban sah sich um. Der Saal war bereits zum Ersticken gefüllt; die Gänge zwischen den Bänken dicht besetzt; um die große Gruppenphotographie der Chicagoer Verurteilten, welche im breiten Goldrahmen unter dem Rednertische hing, drängte sich eine Anzahl von Arbeitern. An dem Tische daneben machten sich mehrere Zeitungsreporter ihre Papierpausen zurecht.

      An den Eingängen wurde das Gedränge immer lebhafter. Die Türen waren weit geöffnet. An dem Schieben und Stoßen konnte man sehen, dass große Massen noch Einlass begehrten. Einzelne drängten sich glücklich bis zu den vordersten Sitzen vor, wo noch Raum war, wenn man zusammenrückte. Als Auban dies sah, sicherte auch er sich schnell einen Platz, denn sein lahmes Bein erlaubte ihm kein stundenlanges Stehen.

      Er stemmte seinen Stock auf und kreuzte die Füße. So blieb er den ganzen Abend sitzen. Er konnte den ganzen Saal sehen, da er auf einer der seitlichen Bänke saß; die Rednerbühne lag dicht vor ihm.

      Er zog die Resolution aus der Tasche und las sie aufmerksam und langsam durch, wie auch die Namenliste der Sprecher: „mehrere der hervorragendsten Radikalen und Sozialisten.“ Er kannte die Namen und ihre Träger, obwohl er kaum einen von ihnen im letzten Jahre wiedergesehen hatte.

      * * *

      „Das Recht der freien Rede“ stand auf der Tagesordnung. „Sieben Männer wegen Abhaltung einer öffentlichen Versammlung zum Tode verurteilt.“ Die Resolution lautete: „– Dass die englischen Arbeiter in dieser Versammlung eindringlich ihre Mitarbeiter in Amerika auf die große Gefahr für die öffentliche Freiheit aufmerksam zu machen wünschen, welche entsteht, wenn sie zugeben, dass Bürger für den Versuch des Widerstandes gegen die Unterdrückung des Rechtes auf öffentliche Versammlungen und der freien Rede bestraft werden, da ein Recht, für dessen Erzwingung das Volk bestraft wird, dadurch offenbar zu keinem Recht, sondern zu einem Unrecht wird.

       Dass das Schicksal der sieben Männer, welche das Todesurteil für Abhaltung einer öffentlichen Versammlung in Chicago, auf der mehrere Polizisten bei dem Versuch der gewaltsamen Vertreibung des Volkes und der Unterdrückung der Sprecher getötet wurden, verhängt ist, von größter Wichtigkeit für uns als englische Arbeiter ist, da ihr Fall heute der Fall unserer Kameraden in Irland und vielleicht morgen der unsere ist, wenn nicht die Arbeiter auf beiden Seiten des Atlantiks einstimmig erklären, dass alle, welche sich in die Rechte der Abhaltung öffentlicher Versammlungen und der freien Rede mischen, ungesetzlich und auf ihre eigene Gefahr hin handeln. Wir können nicht zugeben, dass die politischen Ansichten der sieben verurteilten Männer mit dem hineingezogenen Prinzip irgendetwas zu tun haben, und wir protestieren gegen ihre Verurteilung,


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