John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski. John Henry Mackay

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John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski - John Henry Mackay


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mit dir sprechen; unter den Prostituierten sind mehr als die Hälfte Deutsche, die entweder hier untergehen oder sich so viel erwerben, dass sie in ihr Vaterland zurückkehren und dort ‚anständig’ werden können.

      Am Strand liegen die mächtigen Gerichtshöfe, und man weiß nicht, ob man Schauspieler oder Verrückte vor sich hat, wenn man die Richter in ihren langen Mänteln und ihren weißgepuderten Perücken mit den zierlich-albernen Zöpfen – alles äußerliche Würdeabzeichen einer würdelosen Komödie, die jeder vernünftige Mensch innerlich verlacht und verachtet, und die Jeder mitspielt, wird er geladen, – wenn man sie in seine hohen Torbögen hineineilen sieht; der Strand vereinigt eine verwirrende Anzahl von Behörden, von deren Existenz du nie in deinem Leben gehört hast, wenn sie dir genannt werden, in seinem kalten Somerset-Haus; und der Strand hat seine Theater, mehr Theater, als irgend eine Straße der Welt.

      So ist er der erste Gang des Fremden, der am Bahnhof von Charing Cross anlangt, und den seine meist engen und aufeinander gepressten Häuser enttäuschen; so wird er dessen letzter sein, wenn er London verlässt, der, dem er seine letzte Stunde schenkt.

      Auban tauchte unter in das Menschengewoge. Jetzt, wo er an Adelphi vorbeiging und das elektrische Licht die Straße – die Gasflammen weit strahlend – mit seinem hellweißen Licht schimmerte, konnte man sehen, dass er leicht hinkte. Es war fast unbemerkbar, wenn er schnell ging, aber wenn er langsam dahinschlenderte, zog er den linken Fuß nach und stützte sich fester auf seinen Stock.

       Am Bahnhof von Charing Cross hatte sich das Leben gestaut. Auban stand einige Augenblicke an einer der Einfahrten. Der Eingang zu Villiers Street, welche er wenige Minuten vorher unterhalb gekreuzt hatte, war belagert von Blumenverkäuferinnen, welche teils hinter ihren halbgeleerten Körben fröstelnd und müde kauerten, teils die Vorgehenden mit ihrem unaufhörlichen „Penny a bunch!“ zum Kauf ihrer kümmerlichen Blumenbündel zu verlocken suchten. Ein Policeman trieb eine von ihnen roh zurück; sie hatte sich mit einem Schritte auf das Pflaster gewagt, und sie durften keine Linie die Grenze der Seitenstraße hinaus. Das gellende Durcheinanderschreien der Zeitungsjungen, die ihre letzten Spezial-Editions los sein wollten, um noch in „Gattis Hungerford Palace“ Charlie Coborn – den ‚inimitable’ – in seinen „Two lovely black eyes“ bejubeln zu können, wäre unerträglich gewesen, wenn es nicht von dem Wagengerassel auf den Steinen des Vorhofes von Charing Cross, welches der mit Asphalt und Holzpflaster verwöhnte West Ender fast nicht mehr kennt, und dem heiseren Rufen der Omnibus-Kondukteure tönt worden wäre.

Grafik 77

      Trafalgar Square

      Mit jener Sicherheit, die nur ein langes Vertrautsein mit dem Straßenleben der Großstadt verleiht, benutzte Auban die erste Sekunde, in welcher die Wagenreihen einen Durchgang zeigten, um die Straße zu schreiten, und während sich hinter ihm in der nächsten die Fluten schlossen, ging er an der Kirche von St. Martin vorbei, warf einen Blick auf den totenstill daliegenden Trafalgar Square, durchschritt die enge und dunkle Green Street, ohne sich im Geringsten um den Cabby zu kümmern, der ihm von seinem Bock aus mit unterdrückter Stimme zurief, er habe ihm „Etwas zu sagen“ – Etwas von einer „jungen Dame“ – und befand sich nach drei Minuten an den erleuchteten Eingängen der „Alhambra“, von welchen verspätete Besucher sich nicht abweisen lassen wollten, da sie noch einen Stehplatz in dem füllten Hause zu erlangen hofften.

Grafik 78

      Alhambra

      Auban ging gleichgültig vor, ohne einen Blick auf die schillernden Photographien der üppigen Balletteusen – Reklameproben aus dem neuen Monstreballett „Algeria“, dem halb London zuströmte – zu werfen.

      Der Garten in der Mitte von Leicester Square lag in Dunkel gehüllt. Die Statue Shakespeares war nicht mehr erkennbar von den Gittern aus. „There is no darkness but ignorance“ – stand dort. Wer las es? ...

       An der Nordseite des Square herrschte lautes Leben. Auban musste sich durch Scharen französischer Prostituierten, deren lautes Lachen, Schreien, Schelten alles tönte, durchdrängen. Ihre überladenen und geschmacklosen Toiletten, ihre schamlosen Anerbietungen, ihre unaufhörlichen Bitten: – „ Chéri, chéri –“, mit denen sie sich an jeden Voreilenden drängten und ihn verfolgten, erinnerten an die Mitternachtsstunden der Außen-Boulevards von Paris.

      Überall schien ihm seine Zeit die entstellteste Seite ihres Gesichtes zu zeigen.

      Vor ihm gingen zwei junge Engländerinnen. Sie waren kaum älter als sechszehn Jahre. Ihre aufgelösten und von der Nässe feuchten blonden Haare hingen lang den Nacken hinab. Als sie sich umwandten, zeigte ihm ein Blick in ihre müden, blassen Züge, dass sie schon lange so gewandert waren – immer dieselbe kurze Strecke, Abend für Abend –; an einer Straßenecke erzählte eine Deutsche im Kölner Dialekt einer anderen mit weitschallender Stimme – alle Deutschen schreien in London – sie habe seit drei Tagen nichts Warmes und seit einem überhaupt nichts gegessen: Die Geschäfte würden immer schlechter; und an der nächsten entstand ein Zusammenlauf von Menschen, in welchen Auban hineingestoßen wurde, so dass er die Szene mit ansehen musste, die sich nun abspielte: Eine Alte, welche Streichholzschachteln verkaufte, war mit einem der Frauenzimmer in Streit geraten. Sie schrien einander an. „Da“ – brüllte die Alte und spie in das Gesicht der vor ihr Stehenden, aber in derselben Sekunde hatte sie die Beschimpfung zurück empfangen. Einen Augenblick standen beide sprachlos vor Wut. Die Alte steckte zitternd ihre Schachteln in die Tasche. Dann schlugen sie sich gegenseitig unter dem Beifallsgebrüll der Umstehenden die Nägel in die Augen und wälzten sich schimpfend auf dem Boden umher, bis einer der Zuschauer sie auseinander riss, worauf sie ihre Sachen – die eine ihren zerbrochenen Schirm, und die andere ihren Fetzen von Hut – auflasen und der Haufe sich lachend nach allen Seiten zerstreute.

      Auban ging weiter, dem Piccadilly Circus zu. Diese Szene – eine unter unzähligen – was war sie weiter, als ein neuer Beweis dafür, dass die Methode, das Volk in Rohheit zu erhalten, um dann von dem ‚Mob’ und seiner Verkommenheit zu sprechen, noch immer vortrefflich anschlug?

       Musikhallen und Boxereien – sie füllen die paar freien Stunden der ärmeren Klassen Englands aus, an den Sonntagen Gebete und Predigten –: vortreffliche Mittel gegen das „gefährlichste Übel der Zeit“ – das Erwachen des Volkes zu geistiger Selbsttätigkeit.

      Auban stieß unwillkürlich heftig mit dem Stock, dessen Griff er fest umspannt hielt, auf den Boden.

      Der Square, den er eben verlassen, Piccadilly und Regents Street – sie sind allabendlich und allnächtlich die belebtesten und frequentiertesten Märkte lebendigen Fleisches für London. Hierhin wirft die Not der Weltstadt, unterstützt von den „zivilisierten“ Staaten des Festlandes, ein Angebot, das sogar eine unersättliche Nachfrage steigt. Von dem Anbruch der Dämmerung bis hinunter zum Aufflimmern des neuen Tages beherrscht die Prostitution das Leben dieser Zentralpunkte des Verkehrs und scheint die Achse zu sein, um welche es sich ausschließlich dreht.

      Wie wundervoll bequem – dachte Auban – machen es sich doch die Herren Leiter unseres öffentlichen Lebens! Wo ihre Vernunft vor dem Scheunentor steht und sie nicht weiter können, gleich heißt es: ein notwendiges Übel. Die Armut – ein notwendiges Übel; die Prostitution – ein notwendiges Übel. Und doch gibt es kein weniger notwendiges und kein größeres Übel, als sie selbst! Sie sind es, die alles ordnen wollen und alles in Unordnung bringen; alles leiten wollen und alles von den natürlichen Wegen ablenken; alles fördern wollen, und alle Entwicklung hemmen... Sie lassen dicke Bücher schreiben, das sei immer so gewesen und müsse immer so sein, und um doch etwas zu tun, wenigstens scheinbar, begeben sie sich an die „Reformarbeit“. Und je mehr sie reformieren, desto schlimmer wird es ringsumher. Sie sehen es, aber sie wollen es nicht sehen; sie wissen es, aber sie dürfen es nicht wissen! Weshalb? Sie würden sonst unnütz – und heutzutage muss sich doch jedermann nützlich machen. Mit dem „materiellen Dahinleben“ ist es nicht mehr getan. „Betrogene Betrüger! vom Ersten bis zum Letzten“, sagte Auban lachend vor sich hm; und es lag fast keine Bitterkeit mehr in seinem Lachen.

       Aber dieser


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