John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski. John Henry Mackay

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John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski - John Henry Mackay


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fühlte. Es war mehr eine Gewohnheit als eigentliche Ermattung, die ihn Halt machen und die Themse hinunterblicken ließ. Da er trotz seines bereits dreijährigen Aufenthaltes in London nur selten „jenseits der Themse“ gewesen war, so versäumte er nie, bei Überschreitung einer der Brücken den großartigen Anblick, den London von einer jeden unter ihnen bietet, wieder in sich aufzufrischen.

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      London Waterloo Bridge

       Es war noch eben hell genug, dass er bis nach Waterloo Bridge hin zu seiner Rechten die dunklen Massen der Lagerhäuser und auf dem Spiegel der Themse zu seinen Füßen die Reihen der aneinandergekoppelten weitbauchigen Frachtkähne und Flöße erkennen konnte, doch flammten bereits all die Lichter des Abends in das dunkle, gähnende Chaos dieser ungeheuren Stadt hinein. Wie parallele Linien zogen sich die beiden Laternenreihen auf Waterloo Bridge hin und jedes der Lichter warf seinen scharfen, flimmernden Schein tief und lang nieder in die zitternde, dunkle Flut, während zur linken in terrassenförmigem Aufstieg die ungezählten kleinen Flammen, welche die Embankments und den Strand mit seiner Umgebung allabendlich erhellten, aufzuleuchten begannen. Der ruhig Dastehende sah drüben auf der Brücke die vorhuschenden Lichter der Cabs; er hörte hinter sich die Züge der Südostbahn rasselnd und dröhnend in die Halle von Charing Cross hineinrasen und wieder hinaus; sah unter sich die trägen Wellen der Themse mit fast unhörbarem Plätschern an der sich tief herabziehenden dunkelschwarzen Schlammmasse lecken, und indem er sich zum Weitergehen wandte, öffnete sich vor ihm – von weißen Fluten des elektrischen Lichtes taghell durchleuchtet – die Riesenhalle des Bahnhofs von Charing Cross, dieser Mittelpunkt eines Tag und Nacht nicht rastenden Getriebes...

Grafik 75

      Charing Cross

      Er dachte an Paris, seine Heimatstadt, als er langsam weiterschritt. Welcher Unterschied zwischen den breiten, flachen und hellen Ufern der Seine und diesen starren, ragenden Massen, auf welche selbst die Sonne keinen Schimmer von Freude zu zaubern vermochte!

      Er sehnte sich zurück nach der Stadt seiner Jugend. Aber er hatte London lieben gelernt mit der leidenschaftlichen, eifersüchtigen Liebe des Trotzes.

      Denn man liebt London entweder oder man hasst es...

       Wieder blieb der Wanderer stehen. So hell war die riesige Halle erleuchtet, dass er die Uhr an ihrem Ende deutlich erkennen konnte. Die Zeiger standen zwischen der siebenten und der achten Stunde. Das Leben auf dem Fußwege schien sich verstärkt zu haben, als ob eine Menschenwelle von diesseits nach jenseits hin gespült würde. Es war, als ob der Zögernde sich nicht losreißen könne. Er betrachtete einen Augenblick das unablässige Spiel der Signalarme an dem Einfahrtspunkte der Halle; dann versuchte er die Schienen hinweg und durch das Gewirr von Eisenpfosten und Waggons Westminster Abbey mit seinen Blicken zu erreichen; aber er konnte nichts als das schimmernde Zifferblatt am Turm von Parliament House erkennen und die dunklen Umrisse gigantischer Steinmassen, welche sich drüben erhoben. Und all hin gewirrt die tausend und abertausend Lichter...

      Wieder wandte er sich nach der freien Seite, an welcher er vorher gestanden hatte. Unter seinen Füßen rollten dumpf brausend die Züge der Metropolitan Railway hin; die ganze Weite des Victoria Embankment lag bis Waterloo Bridge halb hell erleuchtet unter ihm. Starr und ernst hob sich die Nadel der Kleopatra in die Höhe.

      Zu dem Manne herauf drang das Lachen und Singen der Burschen und Mädchen, welche allabendlich die Bänke der Embankments belegt hatten. „Do not forget me – do not forget me“ war der Refrain. Ihre Stimmen klangen hart und schrill. „Do not forget me“ – all konnte man es im Jubilee Year in London hören... Es war das Lied des Tages.

      Wer das Gesicht des eben den Brückenrand Gebeugten jetzt beobachtet hätte, dem wäre ein seltsamer Ausdruck von Härte nicht entgangen, der es plötzlich beherrschte. Der Fußgänger hörte nichts mehr von dem verhaltenen, hier gedämpften Lärm und dem trivialen Gesang. Ein Gedanke hatte ihn wieder beim Anblick der gewaltigen Kai-Anlage zu seinen Füßen gepackt: Wie viel Menschenleben mochten wohl unter diesen weißen Granitquadern, so sicher und unüberwindlich aufeinandergetürmt, zermalmt sein? Und er dachte wieder jener schweigenden, unbelohnten, vergessenen Arbeit, welche all' das Große, das er um sich sah, geschaffen.

      Schweiß und Blut werden abgewaschen und der Einzelne erhebt sich lebend und bewundert auf den Leichen von Millionen Ungenannt-Vergessenen...

Grafik 76

      Hungerford Suspension Bridge

       Als stachele ihn dieser Gedanke auf, schritt Carrard Auban weiter. Indem er die Steinbögen am Ende der Brücke durchmaß, die Überreste der alten Hungerford Suspension Bridge, sah er zu Boden und ging schneller. Wieder, wie immer, lebte er in den Gedanken, denen auch er die Jugend seines Lebens gewidmet hatte, und wieder packte ihn die grenzenlose Größe dieser Bewegung, welche die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die „soziale“ genannt hat: dorthin Licht zu tragen, wo noch das Dunkel herrscht – in die duldenden, unterdrückten Massen, deren Leiden und langsames Sterben „den Anderen“ das Leben gibt...

      * * *

      Aber als Auban die Brückentreppe niedergestiegen war und sich in Villiers Street, jener merkwürdigen kleinen Straße, die vom Strand nach dem Stadtbahnhof von Charing Cross hinabführt, befand, wurde er wieder von dem ihn umrauschenden Leben gefesselt. Unaufhörlich drängte es sich an ihm vorbei: Dieser wollte noch den Zug erreichen, der eben jene, welche so eilig dem Strand zueilten – verspätete Theaterbesucher, die sich vielleicht wieder in den Entfernungen Londons geirrt – ausgespien hatte; hier redete eine Prostituierte auf einen Herrn im Seidenhut ein, den sie mit einem Wort und einem Blick ihrer müden Augen hierher gelockt hatte, um mit ihm den ‚Preis’ handelseinig zu werden; und dort drängte eine Schar hungriger Gassenkinder ihre schmutzigen Gesichter an die Scheiben eines italienischen Waffelbäckers, gierig jede Bewegung des unermüdlich Arbeitenden verfolgend – Auban sah Alles: Er hatte dieselbe Aufmerksamkeit eines im Beobachten geübten Auges für den zehnjährigen Jungen, welcher den Voreilenden einen Penny abzubetteln suchte, indem er vor ihnen her auf dem feuchten Straßenpflaster Rad schlug, und für die verkommenen Züge jenes Burschen, welcher sofort, als er stehen geblieben war, sich an ihn drängte und ihm die neueste Nummer der „Matrimonial News“ – „für Alle unentbehrlich, welche zu heiraten wünschen“ ,– aufzuschwatzen suchte, aber sich sofort dem Nächsten zuwandte, als er sah, dass er keine Antwort erhielt.

       Auban ging langsam weiter. Er kannte dieses Leben zu gut, als dass es ihn noch verwirrt und betäubt hätte; und doch packte und fesselte es ihn immer wieder aufs Neue mit seiner ganzen Gewalt. Er hatte während dieser Jahre Stunden und Tage seinem Studium gewidmet, und immer und all fand er es neu und interessant. Und je mehr er ihre Strömungen, ihre Abgründe und ihre Untiefen kennen lernte, desto mehr bewunderte er diese einzige Stadt... Seit einiger Zeit war diese Zuneigung, welche mehr war als Anhänglichkeit und weniger eigentlich als Liebe, zu einer leidenschaftlich erregten geworden. London hatte ihm zu viel – weit mehr als dem Bewohner und dem Besucher – gezeigt; und nun wollte er alles sehen. Die Unruhe dieses Wunsches hatte ihn denn auch an dem heutigen Nachmittag hingestoßen auf das jenseitige Themse-Ufer, zu stundenlangen Wanderungen in Kennington und Lambeth – jenen Vierteln eines entsetzlichen Elends –, um ihn müde und zugleich entmutigt und erbittert zurückkehren zu lassen und ihm jetzt am Strand den Widerschein wie die Kehrseiten jenes Lebens zu zeigen.

      Er stand nun an dem Eingang des dunklen und öden Tunnels, welcher unter Charing Cross durch auf Nortumberland Avenue zuläuft. Die schrillen und zitternden Töne eines Banjo schlugen an sein Ohr; eine Gruppe von Vorgehenden hatte sich zusammengeschart: in ihrer Mitte schlug ein Knabe in zerrissenem Karikatur-Kostüm und mit verrußtem Gesicht – wer hat die bizarren Gestalten dieser „Neger-Komödianten“ nicht schon an den Straßenecken Londons ihre lärmenden Singtänze aufführen sehen? – sein Instrument, während zu den Tönen desselben ein Mädchen mit jener mechanischen Gleichgültigkeit tanzte, die keine Ermüdung zu kennen scheint. Auban warf, indem er sich vorbeidrängte, auch in das Gesicht


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