John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski. John Henry Mackay

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John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski - John Henry Mackay


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nieder, und als ihn der andere von der gegenliegenden Straßenecke so dastehen sah, fiel ihm zum ersten Male auf, dass er ihn seit Jahren nie anders gesehen hatte, als in demselben weiten Anzug von demselben bequemen Schnitt und derselben einfachsten, dunklen Farbe. Genau so schlicht und doch so auffällig war seine äußere Erscheinung gewesen, als er ihn – wie lange war es her: sechs oder sieben Jahre schon? – in Paris kennen gelernt hatte, und genauso unverändert wie damals mit denselben gleichen scharfen und trüben Zügen, die höchstens blasser und grauer geworden waren, stand er heute da drüben, nachlässig und unbekümmert in grübelnden Gedanken inmitten des sich hastenden und freudlosen Treibens des Samstagabends von Soho.

Grafik 80

      Da kam er auf ihn zu: starr geradeaus blickend. Aber er sah ihn nicht und wollte an ihm vorgehen.

      – Auban! rief der andere.

      Der Gerufene fuhr nicht zusammen, aber er wandte sich langsam zur Seite und sah mit einem leeren und abwesenden Blick in das Gesicht des ihn Rufenden, bis der ihn am Arm packte:

      – Auban!

      – Otto?! fragte der Angerufene da, aber ohne Erstaunen. Und dann, fast flüsternd, und in dem belegten, halb noch im Grauen belegten Tone des Erwachenden, der von seinem schweren Traume erzählt, leise, um ihn nicht zur Wirklichkeit zu wecken: „Ich dachte an etwas anderes: – an das Elend, wie groß es ist, wie ungeheuer, und wie langsam das Licht kommt, wie langsam ...“

      Der andere sah ihn erstaunt an. Aber schon lachte Auban jäh erwacht auf, und in seinem gewohnten beherrschten Tone fragte er dann:

      – Aber in aller Welt, wie kommst du aus deinem East End nach Soho?

      – Ich habe mich verlaufen. Wo ist denn eigentlich Oxford Street? Dort, nicht wahr?

      Aber Auban nahm ihn lächelnd an der Schulter und drehte ihn um.

       – Nein, dort. – Pass auf: Vor uns liegt der Norden der Stadt, die ganze Länge von Oxford Street; hinter uns der Strand, den du wohl kennst; dort, wo du herkommst – du kommst doch von Osten? – ist Drury Lane, und das frühere Seven Dials, von dem du gewiss schon gehört hast. Seven Dials, die frühere Hölle der Armut; jetzt „zivilisiert“. Hast du noch nicht die berühmte Vogelhändlerstraße gesehen? – Sieh, fuhr er fort, ohne eine Antwort abzuwarten, und machte mit seiner Hand eine Bewegung nach Osten hin: In diesen Straßen bis Lincolns Inn Fields drängt sich ein großer Teil des Elends von West End. Was glaubst du wohl, was man nicht geben würde, könnte man es ausmisten und nach dem Osten drängen? – Was nützt es, dass sie weite Straßen durchschlagen, genauso wie Haußmann, der Seinepräfekt, es in Paris getan hat, um den Revolutionen so leichter begegnen zu können, was nützt es? Es drängt sich nur dichter aufeinander. Es vergeht kein Samstagabend, an dem ich dieses Viertel zwischen Strand und Regents Street und Lincolns Inn, zwischen Strand und Oxford Street nicht schreite – es ist ein Reich für sich und ich habe hier reichlich so viel gesehen wie im East End. – Bist Du zum ersten Male hier?

      – Doch, wenn ich nicht irre. War denn nicht früher der Klub hier?

      – Ja. Aber näher an Oxford Street. – Übrigens wohnen hier eine Menge Deutsche – nach Regents Street zu in den besseren Straßen.

      – Wo ist denn das Elend am schlimmsten?

      – Am schlimmsten? – Auban dachte einen Augenblick nach.

      – Wenn du in Drury Lane einbiegst – die Courts der Wild Street; dann das schreckliche Gewirr von fast zusammenbrechenden Häusern in der Nähe des Old Curiosity Shop, den Dickens beschrieben hat, mit den schmutzbedeckten Durchgängen; überhaupt die Nebenstraßen von Drury Lane, besonders im Norden, an den Queen Streets; und weiter hierher vor allem die früheren Dials, die Hölle der Höllen –.

      – Kennst Du alle Straßen hier?

      – Alle –.

      – Aber du kannst nicht viel auf ihnen sehen. Die Tragödien der Armut spielen sich hinter den Mauern ab.

       – Aber doch der letzte Akt – wie oft! – auf der Straße. Sie waren langsam weiter gegangen. Auban hatte seinen Arm in den des anderen gelegt und stützte sich müde auf ihn. Trotzdem hinkte er stärker als vorher.

      – Und wo gehst du hin, Otto? fragte er.

      – Zum Klub. Willst Du nicht mit?

      – Ich bin etwas müde. Ich war den ganzen Nachmittag drüben. Dann, da ihm einfiel, dass der andere in diesen Worten nur einen Vorwand für eine Ablehnung sehen möchte, fügte er schneller hinzu: – Aber ich gehe schon mit; es ist eine gute Gelegenheit; sonst komme ich in nächster Zeit doch nicht hin. – Wie lange wir uns überhaupt nicht gesehen haben!

      – Ja, fast drei Wochen schon nicht!

      – Ich lebe immer mehr für mich. Du weißt es ja. Was soll ich in den Klubs? Diese langen Reden, immer dasselbe: Was sollen sie nützen? Das alles ist nur ermüdend.

      Er merkte wohl, wie unangenehm es dem anderen war, was er sagte, und wie sich dieser gleichwohl mit der Richtigkeit seiner Worte abzufinden suchte.

      – Ich bin noch immer, wie früher, jeden Sonntagnachmittag von fünf Uhr an zu Hause. Weshalb kommst du nicht mehr?

      – Weil bei dir alles Mögliche zusammenkommt! Bourgeois, und Sozialdemokraten, und Literaten, und Individualisten –.

      Auban lachte auf.

      – Tant mieux. Die Diskussionen können dadurch nur gewinnen. Die Individualisten sind doch die schrecklichsten, nicht wahr, Otto?

      Sein Gesicht war völlig verändert. Eben noch finster und verschlossen, zeigte es jetzt einen herzlichen Zug von Freundschaft und Freundlichkeit.

      Aber der andere, welcher mit Otto angeredet war und Trupp hieß, schien davon nur unangenehm berührt zu werden, und er nannte einen Namen, der zwar von Aubans Stirn nicht die Ruhe, aber völlig von seinen Lippen das Lächeln scheuchte.

       – Fünfzehn Jahre! Und wegen nichts! sagte der Arbeiter grollend und empört. – Aber warum lieferte er sich auch so unvorsichtig in die Hände seiner Feinde? Er musste sie doch kennen.

      – Er wurde Verraten!

      – Weshalb vertraute er sich anderen an! fragte Auban wieder. – Jeder ist von vornherein verloren, der auf andere baut. Auch das wusste er. Es war ein zweckloses Opfer!

      – Ich glaube, du hast keinen Begriff von der Größe seines Opfers und seiner Hingabe, grollte Trupp.

      – Lieber Otto, du weißt recht gut, dass mir überhaupt das Gefühl des Verständnisses für alle sogenannten Opfer abgeht. Was hat das Unterliegen des Genossen, des besten, des ehrlichsten vielleicht von allen, für einen Nutzen gehabt? Sage mir das!

      – Es hat den Kampf erbitterter gemacht. Es hat die einen aus ihrer Lethargie aufgerüttelt, die anderen – uns – mit neuem Hass erfüllt. Es hat – und seine Augen flammten, während Auban fühlte, wie der Arm, den er hielt, in krampfhaftem Zorn erbebte – es hat in uns den Schwur erneuert, für jeden Gefallenen am Tage der Abrechnung hundertfache Sühne zu fordern!

      – Und dann?

      – Dann, wenn diese verfluchte Ordnung dem Boden gleich gemacht ist, dann wird sich die freie Gesellschaft auf den Trümmern erheben.

      Auban sah wieder auf den heftig Sprechenden nieder, mit dem traurigen, ernsten Blick, mit dem er ihn vorher begrüßt hatte. Er wusste ja, dass in der zerrissenen Brust dieses Mannes nur ein Wunsch und eine Hoffnung noch lebten, die Hoffnung auf den Ausbruch der „großen“, der letzten Revolution!

       So waren sie vor Jahren die Boulevards von Paris gegangen, und hatten sich berauscht an den tönenden Worten der Hoffnung; und während Auban längst allen Glauben verloren hatte, nur den einen nicht: An die langsam, langsam wirkende Macht der Vernunft, welche endlich jeden Menschen dahin führen wird, für sich, statt für Andere zu sorgen, und so mehr und mehr auf sich selbst zurückgekommen war, hatte sich der


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