Johann Wolfgang von Goethe: Gesammelte Dramen. Johann Wolfgang von Goethe

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Johann Wolfgang von Goethe: Gesammelte Dramen - Johann Wolfgang von Goethe


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Er ist so unternehmend und gewaltsam als klug, so unverschämt als vorsichtig; er spricht so vernünftig als unsinnig; die reinste Wahrheit und die größte Lüge gehn schwesterlich aus seinem Munde hervor. Wenn er aufschneidet, ist es unmöglich zu unterscheiden, ob er dich zum besten hat oder ob er toll ist. – – Und es braucht weit weniger als das, um die Menschen verwirrt zu machen.

      JÄCK hereinspringend. Ihre Nichte fragt, ob sie aufwarten kann? – Sie ist hübsch, Ihre Nichte!

      MARQUISE. Gefällt sie dir? – Laß sie kommen.

      Jäck ab.

      MARQUISE. Ich wollte dich eben fragen, wie dir es gegangen ist, ob du sie glücklich in die Stadt gebracht hast? Wie ist sie geworden? Glaubst du, daß sie ihr Glück machen wird?

      MARQUIS. Sie ist schön, liebenswürdig, sehr angenehm; und gebildeter, als ich glaubte, da sie auf dem Lande erzogen ist.

      MARQUISE. Ihre Mutter war eine kluge Frau, und es fehlte in ihrer Gegend nicht an guter Gesellschaft. – Da ist sie.

      Dritter Auftritt

      Die Vorigen. Die Nichte.

      NICHTE. Wie glücklich bin ich, Sie wiederzusehen, liebste Tante!

      MARQUISE. Liebe Nichte! Sein Sie mir herzlich willkommen.

      MARQUIS. Guten Morgen, Nichtchen! Wie haben Sie geschlafen?

      NICHTE beschämt. Ganz wohl.

      MARQUISE. Wie sie groß geworden ist, seit ich sie nicht gesehen habe!

      NICHTE. Es werden drei Jahre sein.

      MARQUIS. Groß, schön, liebenswürdig! Sie ist alles geworden, was ihre Jugend uns weissagte.

      MARQUISE zum Marquis. Erstaunst du nicht, wie sie unserer Prinzessin gleicht?

      MARQUIS. So obenhin. In der Figur, im Wuchse, in der Größe mag eine allgemeine Ähnlichkeit sein; aber diese Gesichtsbildung gehört ihr allein, und ich denke, sie wird sie nicht vertauschen wollen.

      MARQUISE. Sie haben eine gute Mutter verloren.

      NICHTE. Die ich in Ihnen wiederfinde.

      MARQUISE. Ihr Bruder ist nach den Inseln.

      NICHTE. Ich wünsche, daß er sein Glück mache.

      MARQUIS. Diesen Bruder ersetze ich.

      MARQUISE zum Marquis. Es ist eine gefährliche Stelle, Marquis!

      MARQUIS. Wir haben Mut.

      JÄCK. Der Ritter! – Er ist noch nicht freundlicher geworden.

      MARQUISE. Er ist willkommen!

      Jäck ab.

      MARQUISE zur Nichte. Sie werden einen liebenswürdigen Mann kennenlernen.

      MARQUIS. Ich dächte, sie könnte seinesgleichen schon mehr gesehen haben.

      Vierter Auftritt

      Die Vorigen. Der Ritter.

      MARQUISE. Es scheint, Sie haben sowenig geschlafen als ich.

      RITTER. Gewiß, diesmal hat der Graf unsere Geduld sehr geprüft, besonders die meine. Er ließ uns eine völlige Stunde im Garten stehen, dann befahl er uns, in die Wagen zu sitzen und nach Hause zu fahren; er selbst brachte den Domherrn herein.

      MARQUISE. So sind wir denn glücklich alle wieder in der Stadt zusammen.

      RITTER. Ist dieses Frauenzimmer Ihre Nichte, die Sie uns ankündigten?

      MARQUISE. Sie ist's.

      RITTER. Ich bitte, mich ihr vorzustellen.

      MARQUISE. Dies ist der Ritter Greville, mein werter Freund.

      NICHTE. Ich freue mich, eine so angenehme Bekanntschaft zu machen!

      RITTER nachdem er sie aufmerksam betrachtet. Ihre Tante hat nicht zuviel gesagt; gewiß, Sie werden die schönste Zierde unsers gemeinschaftlichen Kreises sein.

      NICHTE. Ich merke wohl, daß man sich in der großen Welt gewöhnen muß, diese schmeichelhaften Ausdrücke zu hören. Ich fühle meine Unwürdigkeit und bin von Herzen beschämt; noch vor kurzer Zeit würden mich solche Komplimente sehr verlegen gemacht haben.

      RITTER. Wie gut sie spricht!

      MARQUISE setzt sich. Sagt ich Ihnen nicht voraus, daß sie Ihnen gefährlich werden könnte?

      RITTER setzt sich zu ihr. Sie scherzen, Marquise!

      Marquis ersucht pantomimisch die Nichte, ihm an der Hutkokarde, an dem Stockbande etwas zurechtezumachen; sie tut es, indem sie sich an ein Tischchen der Marquise gegenübersetzt. Der Marquis bleibt bei ihr stehen.

      MARQUISE. Wie haben Sie den Domherrn verlassen?

      RITTER. Er schien verdrießlich und verlegen; ich verdenk es ihm nicht. Der Graf überraschte uns, und ich darf wohl sagen: er kam uns allen zur Unzeit.

      MARQUISE. Und Sie wollten sich mit gewaffneter Hand den Geistern widersetzen?

      RITTER. Ich versichere Sie, schon längst war mir die Arroganz des Grafen unerträglich; ich hätte ihm schon einigemal die Spitze geboten, wenn nicht sein Stand, sein Alter, seine Erfahrung, seine übrigen großen Eigenschaften mehr als seine Güte gegen mich mir wiederum die größte Ehrfurcht einflößten. Ich leugne es nicht, oft ist er mir verdächtig: bald erscheint er mir als ein Lügner, als ein Betrüger; und gleich bin ich wieder durch die Gewalt seiner Gegenwart an ihn gebunden und wie an Ketten gelegt.

      MARQUISE. Wem geht es nicht so?

      RITTER. Auch Ihnen?

      MARQUISE. Auch mir.

      RITTER. Und seine Wunder? Seine Geister?

      MARQUISE. Wir haben so große, so sichere Proben von seiner übernatürlichen Kraft, daß ich gerne meinen Verstand gefangennehme, wenn bei seinem Betragen mein Herz widerstrebt.

      RITTER. Ich bin in dem nämlichen Fall, wenn meine Zweifel gleich stärker sind. Nun aber muß sich's bald entscheiden, heute noch! denn ich weiß nicht, wie er ausweichen will. – Als er uns heute gegen Morgen aus dem Garten erlöste – denn ich muß gestehen, wir gehorchten ihm pünktlich, und keiner wagte nur einen Schritt –, trat er endlich zu uns und rief: »Seid mir gesegnet, die ihr die strafende Hand eines Vaters erkennt und gehorcht. Dafür soll euch der schönste Lohn zugesichert werden. Ich habe tief in eure Herzen gesehn. Ich habe euch redlich gefunden. Dafür sollt ihr heute noch den Großkophta erkennen.«

      MARQUISE. Heute noch?

      RITTER. Er versprach's.

      MARQUISE. Hat er sich erklärt, wie er ihn zeigen will? Wo?

      RITTER. In dem Hause des Domherrn, in der ägyptischen Loge, wo er uns eingeweiht hat. Diesen Abend.

      MARQUISE. Ich verstehe es nicht. Sollte der Großkophta schon angelangt sein?

      RITTER. Es ist mir unbegreiflich!

      MARQUISE. Sollte ihn der Domherr schon kennen und es bis hieher geleugnet haben?

      RITTER. Ich weiß nicht, was ich denken soll; aber es werde nun, wie es wolle, ich bin entschlossen, den Betrüger zu entlarven, sobald ich ihn entdecke.

      MARQUISE. Als Freundin kann ich Ihnen ein so heroisches Unternehmen nicht raten; glauben Sie, daß es so ein leichtes sei?

      RITTER. Was hat er denn für Wunder vor unsern Augen getan? Und wenn er fortfährt, uns mit dem Großkophta aufzuziehen – wenn es am Ende auf eine Mummerei hinausläuft, daß er uns einen Landstreicher seinesgleichen als den Urmeister seiner Kunst aufdringen will: wie leicht werden dem Domherrn, wie leicht der ganzen Schule die Augen zu öffnen sein!

      MARQUISE. Glauben Sie es nicht, Ritter! Die Menschen lieben die Dämmerung mehr als den hellen Tag, und eben in der Dämmerung erscheinen die


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