Johann Wolfgang von Goethe: Gesammelte Dramen. Johann Wolfgang von Goethe

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Johann Wolfgang von Goethe: Gesammelte Dramen - Johann Wolfgang von Goethe


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sie, mit der größten Aufmerksamkeit. Sie scheint einige Worte auszusprechen, sieht wieder auf die Kugel und biegt sich dann erstaunt, wie jemand, der was Unerwartetes sieht, zurück und bleibt in der Stellung stehen. Die Musik hört auf.

      GRAF. Was siehst du, geliebte Tochter? Erschrick nicht, fasse dich! Wir sind bei dir, mein Kind!

      RITTER. Was kann sie sehen? Was wird sie sagen?

      DOMHERR. Still, sie spricht!

      Nichte spricht einige Worte, aber leise, daß man sie nicht verstehen kann.

      GRAF. Laut, meine Tochter, lauter, daß wir es alle verstehen!

      NICHTE. Ich sehe Kerzen, helle brennende Kerzen in einem prächtigen Zimmer. Jetzt unterscheide ich chinesische Tapeten, vergoldetes Schnitzwerk, einen Kronleuchter. Viele Lichter blenden mich.

      GRAF. Gewöhne dein Auge, sieh starr hin; was siehst du weiter? Ist niemand im Zimmer?

      NICHTE. Hier! – Laßt mir Zeit – hier in dem Schimmer beim Kerzenlichte – am Tische sitzend – erblick ich eine Dame; sie schreibt, sie liest.

      DOMHERR. Sag, kannst du sie erkennen? Wie sieht sie aus? Wer ist's? Verschweige nichts!

      NICHTE. Ihr Gesicht kann ich nicht sehen; die ganze Gestalt schwankt vor meinen Augen wie ein Bild auf bewegtem Wasser.

      MARQUISE für sich. Ganz vortrefflich spielt das gute Kind uns ihre Lektion vor.

      MARQUIS für sich. Ich bewundere die Verstellung. Liebe Natur, wozu bist du nicht fähig!

      NICHTE. Jetzt! jetzt! Ihr Kleid kann ich deutlicher sehen; himmelblau fällt es um ihren Sessel, und wie der Himmel ist es mit silbernen Sternen besät.

      DOMHERR zur Marquise. Nun werde ich ganz glücklich! Es ist die geliebte Fürstin. Man sagte mir von diesem Kleide, blau mit silbernen Muschen, die den Augen des Kindes als Sterne erscheinen. Horch!

      NICHTE. Was seh ich! Großer Meister, erhabener Kophta, entlaß mich! Ich sehe fürchterliche Dinge.

      GRAF. Bleibe getrost und sprich: was siehst du?

      NICHTE. Ich sehe zwei Geister hinter dem Stuhle; sie flüstern einer um den andern der Dame zu.

      GRAF. Sind sie häßlich?

      NICHTE. Sie sind nicht häßlich, aber mich schaudert's.

      GRAF zum Domherrn. Diese Geister sprechen zum Vorteil eines Freundes. Kannst du die Dame erkennen? Kennst du den Freund?

      DOMHERR ihm die Hand küssend. Du bist ewig meiner Dankbarkeit versichert!

      NICHTE. Sie wird unruhig; das Flüstern der Geister hindert sie am Lesen, hindert sie am Schreiben; ungeduldig steht sie auf; die Geister sind weg. Sie wendet ihr Gesicht ab. Laßt mich einen Augenblick.

      GRAF. Nur gelassen, meine Tochter! Wenn du wüßtest, unter welchem Schutze du stehst! Er unterstützt sie.

      RITTER für sich. O wie sie liebenswürdig ist! Wie reizend in ihrer Unschuld! Nie hat mich ein Mädchen so gerührt. Nie hab ich eine solche Neigung empfunden! Wie sorge ich für das gute Kind! Gewiß, der Domherr, die Tante – das himmlische Wesen ahnet nicht, in welcher Gefahr sie schwebt! O wie gern möcht ich sie aufmerksam machen, sie retten, wenn ich mich auch ganz dabei vergessen sollte.

      GRAF. Nimm dich zusammen, meine Taube, sieh hin; gewiß, du hast uns noch mehr zu offenbaren!

      NICHTE auf die Kugel blickend. Sie tritt ans Kamin, sie blickt in den Spiegel! Ahi!

      GRAF. Was ist dir?

      NICHTE. Ahi!

      MARQUISE. Was hast du?

      NICHTE. Ach, in dem Spiegel steht der Domherr.

      DOMHERR. Welche Glückseligkeit! Meister – ich – wie soll ich dir danken! Das tust du alles für mich!

      NICHTE. Sie sieht hinein, sie lächelt; weg ist der Domherr, sie sieht sich selbst.

      RITTER. Welche Wunderkraft! Welche Gaben!

      NICHTE mit einem gefühlvollen freudigen Ausdruck. Ja nun! – Ich sehe alles nun deutlich, ich sehe die herrliche Schönheit, das liebenswürdige Gesicht. Wie ihm die Traurigkeit so schön steht, die sich über alle Züge verbreitet.

      DOMHERR der bisher die Hände des Grafen gehalten und sie öfters geküßt. Unaussprechlich, unbeschreiblich beglückst du deinen Knecht!

      NICHTE. Sie wird unruhig, das Zimmer scheint ihr zu enge, sie geht nach der Glastüre, sie will hinaus. Ach! Ach! –

      GRAF. Ermanne dich! Nur noch einen Augenblick! Sieh noch einmal hin!

      NICHTE verwirrt. Die Geister stehn ihr zur Seite. Sie öffnen die Türe, draußen ist's dunkel.

      MARQUISE zum Domherrn. Sie geht dir entgegen.

      DOMHERR. Ist's möglich!

      MARQUISE. Du wirst's erfahren.

      NICHTE. Ach! Sie fällt in Ohnmacht.

      RITTER. O Gott! Helft ihr! Schont sie! Es ist unverzeihlich, daß Ihr sie nicht eher entlassen habt!

      MARQUISE. Hier ist Salz.

      Die Hauptpersonen drängen sich zu ihr, die Jünglinge treten aus dem Proscenio ins Theater, die Kinder furchtsam zu ihnen. Es macht alles eine schöne, aber wilde Gruppe.

      GRAF. Überlaßt sie mir! Nur durch himmlischen Balsam kann sie erquickt werden.

      Der Vorhang fällt.

      Vierter Aufzug

      Erster Auftritt

      Zimmer der Nichte.

      Die Nichte. Ein Mädchen.

      NICHTE bei der Toilette. Ein Mädchen hilft ihr sich ankleiden und geht sodann in die Garderobe; sie kommt mit einem Bündel zurück und geht über das Theater. Was trägst du da? Was ist in dem Bündel?

      MÄDCHEN. Es ist das Kleid, das Sie mir befahlen zum Schneider zu schaffen.

      NICHTE. Gut. Daß ich es, wo möglich, morgen oder übermorgen wiederhabe.

      Mädchen geht ab.

      NICHTE. Nun bin ich angezogen, wie es meine Tante befohlen hat. – Was mag diese neue Mummerei bedeuten? – Wenn ich bedenke, was mir heute begegnet ist, so habe ich alles zu befürchten. Kaum erhole ich mich von jener schauderhaften Szene, so mutet man mir zu, mich umzukleiden, und wenn ich mich recht ansehe, so ist daß ungefähr, wie ich die Prinzessin beschrieben habe. Der Domherr liebt die Fürstin, und ich soll sie wohl gar vorstellen? In welche Hände bin ich geraten! Was hab ich zu erwarten? Welchen grausamen Gebrauch macht meine Tante von dem Vertrauen, das ich ihr zu voreilig hingab! Wehe mir! Ich sehe niemanden, an den ich mich wenden könnte. Die Gesinnungen des Marquis werden mir nun deutlicher. Es ist ein eitler, frecher, leichtsinniger Mann, der mich unglücklich gemacht hat und bald in mein Verderben willigen wird, um mich nur loszuwerden. Der Domherr ist ebenso gefährlich. Der Graf ein Betrüger. – – Ach, nur der Ritter wäre der Mann, an den ich mich wenden könnte. Seine Gestalt, sein Betragen, seine Gesinnungen zeichneten mir ihn im ersten Augenblicke als einen rechtschaffenen, einen zuverlässigen tätigen Jüngling; und wenn ich mich nicht irre, war ich ihm nicht gleichgültig. – Aber ach! betrogen durch die unverschämte Mummerei der Geisterszene, hält er mich für ein Geschöpf, das der größten Verehrung wert ist. Was soll ich ihm bekennen? Was soll ich ihm vertrauen? – – Es komme, wie es wolle, ich will es wagen! Was hab ich zu verlieren? Und bin ich nicht schon in diesen wenigen Stunden der Verzweiflung nahe gebracht? – Es entstehe, was wolle, ich muß ihm schreiben. Ich werde ihn sehen, mich ihm vertrauen; der edle Mann kann mich verdammen, aber nicht verstoßen! Er wird einen Schutzort für mich finden. Jedes Kloster, jede Pension soll mir ein angenehmer Aufenthalt werden. Sie spricht und schreibt.

      »Ein unglückliches Mädchen, das Ihrer Hülfe bedarf und von dem Sie nicht


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