Johann Wolfgang von Goethe: Gesammelte Dramen. Johann Wolfgang von Goethe
Читать онлайн книгу.Seid ruhig, meine Fürstin! Die Gefahren und der üble Humor scheinen sich beide vor ihm zu fürchten.
FERIA. Er will mich nur einen Augenblick sprechen und dann gleich wieder fort.
Lato tritt auf.
LATO. Der König kommt.
FERIA. Wohl! sehr wohl!
LATO. Ich sah hinüber in das Tal und erblickte ihn eben, als er über den Bach schritt.
FERIA. Laßt uns ihm entgegengehen.
SORA. Da ist er.
Andrason kommt.
FERIA. Sei uns willkommen! herzlich willkommen!
ALLE. Willkommen!
ANDRASON. Ich umarme dich, meine Schwester! Ich grüße euch, meine Kinder! Eure Freude macht mich glücklich, eure Liebe tröstet mich.
FERIA. Mein Bruder, bedarfst du noch Trostes? Hat das Orakel dir keinen gegeben? Möchtest du doch immer vergnügt sein! Möchte dir doch immer wohl sein! Wir waren, seit du uns ehegestern verließest, voller Hoffnung für dich und dein Anliegen.
MANA. Majestät! –
ANDRASON. Schönheit!
SORA. Herr!
ANDRASON. Gebieterin!
LATO. Wie soll man Euch denn nennen?
ANDRASON. Ihr wißt, daß ihr keine Umstände mit mir machen sollt.
MANA für sich. Nur damit er auch keine mit uns zu machen braucht.
LATO. Wir möchten von dem Orakel hören.
SORA. Hat das Orakel nichts Gutes gesagt?
MELA. Habt Ihr das Orakel nicht unsertwegen gefragt?
ANDRASON. Liebe Kinder, das Orakel ist eben ein Orakel.
LATO. Sonderbar!
ANDRASON. Daß ein zartes Herz, voller Gefühle, Hoffnungen und Ahnungen, das einer ungewissen Zukunft sehnsuchtsvoll entgegenlebt, nach Würfeln hascht, den Becher schüttelt, Wurf über Wurf versucht und in dem Glückstäfelchen sorgfältig forscht, was ihm die Würfe bedeuten, und dann fröhlich oder traurig einen halben Tag verlebt, das mag hingehn, mag recht gut sein.
LATO für sich. Woher er alles weiß? Damit habe ich mich erst heute beschäftigt.
ANDRASON. Daß ein schönes Kind Punkte über Punkte tüpfelt, nachschlägt und sucht, was ihr für ein Gatte werden möchte? ob der Liebhaber treu ist? und so weiter, das find ich wohlgetan.
MELA für sich. Er ist ein Hexenmeister! Wenn wir allein sind, wissen wir nichts Bessers.
ANDRASON. Aber wer ein positives Übel, Zahnweh oder Unfrieden, im Hause hat, der frage keinen Arzt und kein Orakel! Ihr Wissen und ihre Kunst fällt zu kurz; dies und jenes Mittelchen und vorzüglich Geduld ist, was sie euch empfehlen.
FERIA. Kannst du, darfst du uns sagen? Hat's dir eine Antwort gegeben? Darfst du sie entdecken?
ANDRASON. Ich will sie in vier Sprachen übersetzen und an allen Landstraßen aufhängen lassen, es weiß doch kein Mensch, was es soll.
FERIA. Wie?
ANDRASON. Da ich ankomme und eingeführt werde –
SORA. Wie sieht's im Tempel aus?
MANA. Ist der recht prächtig?
FERIA. Ruhe, ihr Mädchen!
ANDRASON. Wie mich die Priester zur heiligen Höhle bringen –
MELA. Die ist wohl schwarz und dunkel?
ANDRASON. Wie deine Augen. – Ich trete vor die Tiefe und sage klar und vernehmlich: »Geheimnisvolle Weisheit! hier tritt ein Mann auf, der sich bisher für den Glücklichsten hielt; denn es geht ihm nichts ab; alles, was die Götter einem Menschen Gutes zueignen können, schenkten sie mir, selbst das köstlichste aller Besitztümer versagten sie mir nicht: ein treffliches Weib. Aber – ach! daß Aber und Aber sich immer zu dem Danke gesellen, den wir den Göttern zu bringen haben! – Diese Frau, dieses Muster der Liebe und Treue, nimmt seit kurzem unglücklicherweise an einem Menschen teil, der sich ihr aufdringt und der mir verhaßt ist. Dir, hohe Weisheit, der alles bekannt ist, sag ich nichts weiter und bitte: enthülle mir mein Schicksal! gib mir Rat und, was mehr ist, Hülfe!« – Ich dächte, das hieße sich deutlich erklären?
LATO. Wir verstehn es wohl.
FERIA. Und die Antwort?
ANDRASON. Wer sagen könnte: ich verstehe sie!
SORA. Ich bin höchst neugierig – Haben wir doch manches Rätsel erraten!
MELA. Geschwinde!
ANDRASON. Ich steh und horche, und es fängt von unten auf an – erst leise – dann vernehmlich – dann vernehmlicher:
»Wenn wird ein greiflich Gespenst von schönen Händen entgeistert« –
ALLE. Oh!
ANDRASON. Gebt mir ein Licht. Das greifliche Gespenst soll entgeistert werden.
LATO. Von schönen Händen.
ANDRASON. Die fänden sich allenfalls. Ein greiflich Gespenst, das ist etwas aus der neuen Poesie, die mir immer unbegreiflich gewesen ist.
FERIA. Es ist arg.
ANDRASON. Wartet nur und merkt; es kommt noch besser:
»Wenn wird ein greiflich Gespenst von schönen Händen entgeistert
Und der leinene Sack seine Geweide verleiht« –
ALLE. Oh! oh! Ei! Oh! ah! ha! ha!
ANDRASON. Seht! Ein leinen Gespenst und ein greiflicher Sack und Eingeweide von schönen Händen! Nein, was zuviel ist, bleibt zuviel! Was so ein Orakel nicht alles sagen darf!
MANA. Wiederholt es uns!
ANDRASON. Nicht wahr, ihr hört gar zu gerne, was erhaben klingt, wenn ihr's gleich nicht versteht?
»Wenn wird ein greiflich Gespenst von schönen Händen entgeistert
Und der leinene Sack seine Geweide verleiht« –
Seid ihr nun klüger, meine Lieben? Nun aber merkt auf:
»Wird die geflickte Braut mit dem Verliebten vereinet:
Dann kommt Ruhe und Glück, Fragender, über dein Haus.«
SORA. Nein, das ist nicht möglich!
ANDRASON. O ja; die Götter haben sich diesmal sehr ihrer poetischen Freiheit bedient.
LATO. Habt Ihr es nicht aufgeschrieben?
ANDRASON. Freilich! Hier ist die Rolle, wie ich sie aus den Händen der Priester erhielt.
LATO. Laßt es uns lesen, vielleicht wird es uns klärer.
Andrason bringt eine Rolle aus dem Gürtel und wickelt sie auf. Die Frauenzimmer drängen sich wechselsweise zu, lesen, lachen und machen ihre Anmerkungen. Es kommt auf den guten Humor der Schauspielerinnen an, dieses munter und angenehm vorzustellen; deswegen ihnen überlassen bleibt; hier
zu extemporieren. Die Hauptabsicht dieser Wiederholung ist, daß das Publikum mit dem Orakelspruch recht bekannt werde.
FERIA. Das ist höchst sonderbar und unbegreiflich! Wie ist es dir weiter ergangen? Hast du nicht irgendeine Aufklärung gefunden?
ANDRASON. Nicht Aufklärung, aber Hoffnung. Verwundert über die unverschämte Dunkelheit der Antwort, aber nicht außer Fassung gebracht, trat ich aus der Höhle. Ich sah den ältesten Priester auf einem goldenen Sessel sitzen. Ich nahte mich ihm, und indem ich einige Edelsteine in seinen Schoß legte, rief ich aus: »O welche Fülle der Weisheit kommt uns von den Göttern! Wie erleuchtet werden wir, die wir auf dunkeln Wegen irren,