Vom gehorsamen Kirchenschaf zum selbstbestimmten Katholiken. Alfons Wiebe

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Vom gehorsamen Kirchenschaf zum selbstbestimmten Katholiken - Alfons Wiebe


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das Gefühl, schwer gesündigt zu haben. Von dieser Last musste ich mich befreien. Das konnte ich bei P. Grenz, einem uralten Geistlichen. Der war bereit, noch schnell vor der Messe am Morgen einem reuigen Sünder die Beichte abzunehmen. Wie oft bin ich in meiner Skrupelhaftigkeit vor dem Betreten der Kapelle in sein Zimmer geschlüpft, um mich von meiner „schweren Sünde“ zu befreien.

      Um die „bösen“ sexuellen Gedanken zu bekämpfen, wollte ich mich körperlich abhärten. Mit meinen Klassenkameraden rannte ich abends im Winter barfuß im Schnee um den Herz-Jesu-Hügel. Für meine Klassenkameraden wird das eine reine Mutprobe gewesen sein, für mich jedoch bedeutete es darüber hinaus eine Ertüchtigung im Kampf um die Keuschheit. Willentlich habe ich nie onaniert. Denn Selbstbefriedigung galt damals als schwere Sünde. Ich war überzeugt, wenn ich in diesem Zustand sterben würde, für immer der Hölle verfallen zu sein. Das wollte ich nicht riskieren.

      Die Feier der Liturgie zu den verschiedenen Jahreszeiten mit ihren Festen hat meine Religiosität sicher sehr geprägt. Ostern wurde mit der Gründonnerstagsliturgie eingeleitet, in der der Altar entkleidet wurde und die Anbetung des Allerheiligsten während der Nacht stattfand. Der Karfreitag war für mich ein sehr unangenehmer, finsterer Tag. Wir fasteten, schwiegen und hörten Vorträge. Die Karfreitagsliturgie wurde sehr lange ausgedehnt. Wenn dann am Samstag in der Kirche das weiße Laken von den Kreuzbalken herabhing, dann war endlich Ruhe mit der Trauerfeierei, die ich eigentlich nicht nachvollziehen konnte, und es konnte Ostern werden. Anfangs mussten wir die Oster- und Weihnachtstage noch im Missionshaus verbringen. So war die liturgische Freudenfeier gespeist von der Freude: Morgen geht es endlich nach Hause. Die Liturgie an Feiertagen war sehr aufwendig. Die Priester am Altar feierten das Hochamt mit viel Weihrauch und in kostbaren goldenen Gewändern. Der Choralchor, in dem ich als Jugendlicher später mitsang, intonierte die lateinischen gregorianischen Choräle. Der Kirchenchor sang eine mehrstimmige Messe von berühmten Komponisten. Die Orgel brauste mit den ungewöhnlichsten Registern. Es war feierlich!

      Nach Ostern gab es dann bald die Bittprozessionen, bei denen die ganze Schülerschaft morgens in langer Prozession durch das Gartengelände zog und die Fürbittlitaneien sang. Oft war es noch so kalt, dass ich in meinen kurzen Hosen bitterlich fror.

      Für die Gestaltung des Fronleichnamsfestes schwärmten wir in den Tagen vor dem Fest klassenweise in die Wiesen in der Umgebung des Misssionshauses aus und sammelten eimerweise Blüten. Jede Klasse bekam einen Wegabschnitt im Garten zugeteilt, den sie für die Prozession eigenverantwortlich mit Blumenteppichen schmücken musste. Es herrschte ein kleiner Wettbewerb unter den Schülern, welche Klasse ihren Abschnitt am dekorativsten gestaltete. Sehr beliebt war die Gestaltung des Abschnittes mit religiösen Motiven wie Herz Jesu, Auge Gottes, Kelch mit Hostie, Marien- und Jesusinitialen. In den höheren Klassen hatten wir die Aufgabe, die Altäre nach frei gewählten Motiven zu gestalten. Da ich malerisch begabt war, bekam ich die Aufgabe, dreimal den Entwurf für einen Altar zu gestalten. Ein Altar war ein Heilig-Geist-Altar. Er stellte in den Farben gelb und rot eine Taube, die vom Himmel zu Erde flog dar. Wir fragten unseren Geschichtslehrer, wie er den Altar fand. Er lobte ihn und hob die Symbolik des Falls hervor, was mich mächtig stolz machte. Ein anderer Altar war zu Ehren der Eucharistie entworfen.

      graphics7Nach meiner Vorlage hatten meine Mitschüler den Scherenschnitt der zwei Hände, die einen Kelch heben, aus schwarzem Karton ausgeschnitten und auf die Hintergrundleinwand geheftet.

      Der dritte Altar bestand aus zwei mit Marmorpapier dekorierten Stelen. Welches Motiv da im Vordergrund stand habe ich leider vergessen.

      Die Marienmonate Mai und Oktober wurden durch besondere Andachten hervorgehoben, in denen wir den Rosenkranz beteten. Oft feierten wir sie an der Lourdes-Grotte im Garten. Gerne erinnere ich mich an die schmachtende Melodie des „Über die Berge schallt“, die wir dann sangen.

      Zu Allerseelen konnten wir den Portiunkula-Ablass gewinnen. Wenn man zur Beichte und zur Kommunion gegangen war, konnte man bei jedem neuen Eintritt in die Kirche mit einem bestimmten Gebet für einen Verstorbenen einen vollkommenen Ablass erbitten. Davon habe ich sehr unkritisch als Kind eifrig Gebrauch gemacht.

      Jede Klasse hatte einmal in der Oberstufe die Nikolausfeier zu gestalten. Unsere Klasse hatte sich dazu eine kleine Szene ausgedacht, in der aus irgendeinem Grunde eine Rakete abgefeuert werden sollte, bei der der Start dann aber fehl lief. Der Bischof Nikolaus in Gestalt meines Freundes Hartmut erschien zuerst in schwarzem Talar mit roten Biesen, und kleidete sich dann in den üblichen Ornat mit Chormantel, Mitra und Stab. Ich spielte einen Teufel im Gefolge des Bischofs, der mit seinen Kameraden durch die Bankreihen fegte und die Schüler fürchterlich verdrosch. Es war für uns eine Riesengaudi!

      Besonders eindrucksvoll wurde die Weihnachtszeit gefeiert.

       graphics8 In der Adventszeit stellten die Klasse großformatige Transparentbilder aus schwarzem Tonpapier und farbigem Transparentpapier her

       graphics9 Die Transparentbilder wurden elektrisch beleuchtet in den Gängen aufgehängt. Sehr heimelig sah der Gang zur Kapelle aus, an dessen Seiten leuchtende Glaslampen hingen, die ein begabter Schüler farbig bemalt hatte.

      So habe ich jahrelang die religiöse Welt des Klosterlebens mit erlebt. Ich war bestrebt, in dem von Kindheit an erworbenen Denk- und Verhaltensmuster ein guter Mensch zu sein. Ich hatte keinen Bedarf nach einer anderen Sichtweise und war damit zufrieden. Nur manchmal, wenn ich die Menschen hinter den Klostermauern vorbeigehen sah, da spürte ich, dass ich in einer anderen Welt lebte als die da draußen. Dann kam eine leise Sehnsucht auf nach der Freiheit der anderen, die gehen konnten, wohin sie wollten und sich verhalten konnten, wie es ihnen passte. Solche Regungen könnten der Grund dafür gewesen sein, dass ich ab einem bestimmten Alter, vielleicht 17,18 Jahre, die Anordnungen der Präfekten nicht mehr so ungefragt aufnahm und sie kritisierte. Mir ist noch eine Mahnung des Präfekten im Ohr, in der er uns vor dem Geist der Kritik warnte. Besonders unzufrieden war ich, dass wir keinen Umgang mit Mädchen haben durften. Ich hatte das Gebot bis zur Pubertät fraglos befolgt. Eine Situation hat sich mir eingeprägt, in der ich in Versuchung war, es zu brechen. Ich fuhr meinen Bruder mir einem Handwagen, auf dem sein Koffer lag, zum Bahnhof. Nach seiner Abfahrt begegnete mir auf der Rückfahrt ein Mädchen, das einen schweren Koffer trug. Mir kam der Gedanke: Du könntest ihr doch mit dem Wagen den Koffer zum Bahnhof fahren. Aber das Verbot im Kopf, mit Mädchen keinen Umgang zu haben, setzte sich durch und ich fuhr an ihr vorbei.

      Jetzt jedoch lernte ich in den Ferien Bärbel Xaver kennen, die beste Freundin meiner Schwester. Ich verliebte mich in sie. Von Driburg aus schrieb ich ihr Briefe. Einmal legte ich ihr ein Geschicklichkeits­spiel aus Draht in den Brief. Die Dicke des Briefes muss dem Präfekten, bei dem die Briefe abgegeben werden mussten und der sie zensierte, wohl aufgefallen sein und er las den Brief. Da war ihm klar: Alfons hat Kontakt zu einem Mädchen. Er bestellte mich zu einem Gespräch, in dem er mich aufforderte, den Kontakt aufzugeben. Ich hab mich nicht daran gehalten und ihr in einem Brief, den ich aus dem Kloster schmuggelte, ein selbstgemaltes Hummelbild zugeschickt. Meine Beziehung zu ihr hielt dann aber nicht lange. Denn als ich das nächste Mal in Ferien kam, erfuhr ich, dass sie einen Freund hatte.

      Je älter ich wurde, desto mehr zweifelte ich an meiner Berufung zum Priestertum. Wollte ich das wirklich, was von mir erwartet wurde? War ich im Missionshaus am richtigen Platze? Nach allen großen Ferien mussten wir über unsere Einstellung zum Beruf in einem Gespräch mit dem Präfekten Rechenschaft ablegen. Als ich etwa 17 oder 18 Jahre alt war, äußerte ich P. Herbertz gegenüber, der damals Präfekt war, meine Zweifel, ob ich zum Priester berufen sei. Seine Antwort war: „Alfons, sei gewiss, solange der Vorgesetzte dich für berufen hält, solange bist du berufen.“ Das war für mich auf der einen Seite eine Entlastung. Denn so konnte ich mich ohne Gewissens­bisse im Missionshaus auf mein Abitur vorbereiten. Wer nämlich als unberufen angesehen wurde, verlor das Recht im Internat die Schule zu besuchen. Er musste sich außerhalb ein Zimmer suchen. Das war meinem Klassenkameraden Lissek passiert. Auf der anderen Seite waren meine Berufs­probleme


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