Villa am Griebnitzsee. Beate Morgenstern

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Villa am Griebnitzsee - Beate Morgenstern


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Klagelaute gesteht sich die Bürgermeisterin nicht zu. Denn jeder junge Mensch hat das Recht zu versuchen, alles aus seinem Leben zu machen. Vielleicht hat die Bürgermeisterin selbst noch Träume und ist erst am Anfang einer Karriere. Susanne bekommt im Frühsommer weitere Zulassungen: von der Leipziger Karl-Marx-Universität und der Berliner Humboldt-Universität. Die Entscheidung klar: Filmhochschule!

      Zum Abschied sitzt sie bei Oberlehrer Schulzens in der weiß gestrichenen Glasveranda, Korbsessel darin, ein kleiner Tisch. Oberlehrer Schulz todunglücklich, während Susanne noch ein letztes Mal bewirtet wird. Ach, Mutter, Mutter, jammert er. Nun wird sie die letzten Nerven verlieren! Ob Sie das durchhalten!

      Die Gersdorfer bereiten ihr einen großartigen Abschied im Klubhaus. Viel Schnaps wird getrunken. Doch Susanne hält sich fern, spielt noch einmal auf: Rosamunde! Einen riesigen Strauß Gladiolen überreicht man ihr. Und man winkt, winkt, als die Straßenbahn nach Hohenstein mit ihr abfährt.

       Mario auf der Rückfahrt von den Ölfeldern. Im Siegestaumel des Todes nicht mehr achtend, rast, tanzt er mit seinem LKW die Bergstraßen entlang. Der LKW gerät aus einer Kurve, stürzt in die Tiefe, fängt Feuer. Verletzt der schöne Kopf Montands. Sirenen wie im Krieg. In seinen blutig geschnittenen Händen unversehrt eine gelochte Pariser U-Bahn-Karte. Die Sirenen werden dunkler, flauen ab.

      Susanne hat den Fahrschein in ihr Glück und benutzt ihn. Zweimal besucht Susanne Oberlehrer Schulzens noch. Nach dem ersten Studienjahr und nach dem zweiten. Wieder sitzen sie in den Korbmöbeln der weiß gestrichenen Glasveranda. Susanne nun schlank, mehr, als es ihr guttut, die schwarzbraunen Haare modern geschnitten, bleiche Gesichtsfarbe, dicker schwarzer Lidstrich, Lippen geschminkt. Die Wangenknochen treten hervor, die lange, leicht gebogene Nase betont ihre Besonderheit, das Gesicht zum Kinn hin schmal. Susanne ist zufrieden mit ihrer Erscheinung. Oberlehrer Schulzens hingegen nicht: Mutter, hab ich's damals nicht gesagt!, sagt der Mann. Nun hat sie keine Nerven mehr. Und rauchen tut sie noch mehr! Und trinken? Nein, sagt Susanne, überhaupt nicht. Und was ist mit dem Kaffee? Susanne lacht. Da muss der Löffel drin stehen! - Ich hab's doch gesehen, sagt Oberlehrer Schulz. Vorhin der Kaffee, das war Ihnen nicht das Rechte! Oberlehrer Schulz schüttelt sorgenvoll den Kopf und kann sich an Susannes Bericht nicht freuen. Aber junge Menschen sind nicht aufzuhalten. Wie oft wird er das in seinem Leben schon erfahren haben.

      IV

      Der erste Dienstag im neuen Jahr. Georg kam, wünschte Susanne ein gutes neues Jahr und ein gesundes vor allem! Bald kehrte Georg von seinen Wegen zurück, ließ sich gesprächswillig auf dem Stuhl nieder, wartete, was Susanne sagte. Wie waren die Feiertage? Erkundigte sich Susanne.

      Ach, ruhig, sagte Georg. Hab ausgeschlafen. Schlaf soll ja gesund sein.

      Was ist mit den jungen Männern seiner Band? Dachte Susanne erstaunt. Sind es nicht seine Freunde?

      Bin ganz froh, dass ich meine Ruhe gehabt habe, sagte Georg.

      Nein, das glaube ich nicht, dachte Susanne. Ich bin als Studentin nach Weihnachten von zu Hause weggefahren ins Internat, sagte sie. Obwohl, da war ich ja auch allein.

      Nach Babelsberg. Georg nickte, gab ihr zu verstehen, sie könne weiterreden.

      Es war eine großartige Zeit an der Schule, sagte Susanne. Die beste in meinem Leben. Susanne begann zu erzählen von ihrem Babelsberg. Von dieser Stadt am Berg und auf dem Berg. Die Straßen, sich gemächlich vom Griebnitzsee hinaufwindend wie die von Mauern umgebenen des Turms von Babylon auf einem alten Gemälde, Grundstück an Grundstück. Die Grundstücke weitläufig. Mal ein steiler Durchgang entlang der Villen. Die liegen an der Straße groß und größer, sich rückwärts der Hanglage anpassend, herrlich anzuschauen, im florentinischen Landhausstil oder Fachwerk mit Erkern und Türmen. Offene Balkone im oberen Stockwerk oder einen Umgang im obersten. Schönsten Stuck kann man betrachten und efeubewachsene Mauern.

      Susanne sah das Haus vor sich, in dem sie am liebsten gewohnt hatte: ein Ziegelbau, schiefergedeckt, der rund ausgeformte Erker im Dachgeschoss von Säulen gestützt, so dass das Gebäude wie ein kleiner Tempel anmutet. Zur Straßenseite schirmt das Grundstück eine Buchenhecke ab. Glasüberdacht der Gang zwischen hoher Nachbarmauer und Haus, noch ein Stück in den Garten hineinragend. Man kann bei Regen dort sitzen und schauen oder die Wäsche aufhängen. Und daneben die Glasveranda, in der Susanne wohnte, den Blick den langen Garten hinab mit seinen alten Bäumen. Der Garten beliebt. Da sonnten sich die Studenten. Babelsberg: der Klang des Namens verbunden mit Film, mit Ufa-Stars. Bei einigen Villen weiß man noch, wer sie erbauen ließ. Tauber-Villa, Urbig-Villa, die von Harry Piel, von Heinrich George. In der Villa auf der breiten Straße unten am Berg residierte Stalin während der Verhandlungen 45 mit den Alliierten. Ein großer Kasten, zwei Geschosse. Säulen tragen das breite Balkonoval. Der rückwärtige Blick zum Griebnitzsee hinunter, hier nun nur wenige Meter noch entfernt.

      Babelsberg wie Babylon, Sünden-Babel, Film-Babylon. Der Mensch, der immer noch wie Gott sein will und sich seine Welten illusionistisch und beliebig schafft. Die Zeit, die bekanntlich nicht aufzuhalten ist, lässt sich vorwärts und rückwärts spulen. Eine Kunst gibt es nur. Aber sie lebt von der Vielfalt der Sprachen.

      Die Filmhochschule war in verschiedenen Villen untergebracht, erklärte Susanne Georg. Die Stalin-Villa die berühmteste. In dem Haus traf man sich zu Festlichkeiten, zu Prüfungen. Oder weil man sich in der Bibliothek im Erdgeschoss Bücher auslieh.

      Ich hab was darüber gesehen, sagte Georg.

      Na, dann wissen Sie ja. Ich hab die Sendung aufgezeichnet, sagte Susanne. Von der Stalin-Villa überblickte man den ganzen Griebnitzsee.

      Auf der anderen Seite das Jagdschloss, sagte Georg.

      Susanne gab es einen Stich tief in ihr Inneres. Wie selbstverständlich war Georg dieses Wissen! Die Mauer war gefallen. Aber sie hatte an der Neu-Erkundung nicht teil. Ihr blieb ewig der sehnsuchtsvolle Blick auf die andere Seite. Das Gelände von Neu-Babelsberg ist von der Ufa auch als Filmkulisse benutzt worden, sagte sie. Im Park, vom Fürsten Muskau geschaffen, tanzte Marika Rökk. Vor der Tauber-Villa fuhr sie mit einer Kutsche vor. Nicht weit entfernt von der Stalin-Villa das Hauptgebäude. Zwei Häuser, durch einen Flachbau miteinander verbunden. Direkt am See gelegen, sehr großzügig angelegt das Gästehaus der Akademie für Staat und Recht. Wir nahmen diese Studenten üblicherweise gar nicht wahr. Aber man aß dort sehr gut. Allerdings musste man eingeführt werden. Für zwei Mark bekam man ein Steak, ein Schnitzel, Cordon bleu, Filet Stroganoff.

      Das lässt man sich gefallen, sagte Georg. Und wie viel Studenten waren in einem Zimmer? Endlich einmal stellte Georg von sich aus eine Frage!

      Im letzten Studienjahr war ich allein, antwortete Susanne. Eine Berlinerin hatte noch eine Schlafstelle bei mir. Die benutzte sie kaum. In der Regel wohnte man zu zweit, in Ausnahmefällen zu dritt. Zwei Mädchenhäuser hatten wir, fünf Jungenhäuser, wenn ich mich richtig erinnere. Die Zimmer unverschlossen. Es ging zu wie im Taubenschlag. Man kam, verschwand wieder. Alles sehr frei. Susanne lachte. Auf dem Flur konnte man unversehens einem Mädchen nackt begegnen. Oder jemand kam nackt ins Zimmer, wollte eben mal was wissen oder haben. Als die Schauspielmädchen und die von der Dramaturgie und Produktion noch im selben Haus wohnten, war es für uns kaum auszuhalten. Die Schauspielmädchen, von sich aus laut und mit ihren Sprechübungen: Mimimimimimi-mimimä-mimimo-mimima-mimimau-mimimu ...

      Susanne schaute zu Georg, prüfte, ob ihre Erzählung Erfolg hatte. Sie hatte. Georg griente vor sich hin.

      Und wir waren mit geistiger Arbeit beschäftigt. Das nervte. Geschlafen hat man wenig. Ich hab mir früh starken Kaffee gemacht, damit ich wieder auf die Beine kam. Geraucht wurde den ganzen Tag über, während der Vorlesungen, während der Seminare.

      Während der Vorlesungen?, fragte Georg.

      Wir waren ja zum Schluss nur noch vier und ein Dozent. Wir saßen im Geviert, ein Tisch blieb frei. Warum sollte man nicht rauchen. Mit Rauchen, starkem Kaffee, Tee, grünem chinesischen in fast tödlicher Dosis, hielt ich mich tagsüber aufrecht.

      Und wie viel Stunden hatten Sie pro Woche? Das studentische Leben schien Georg zu interessieren.


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