Ausm leben mittenmang. Beate Morgenstern

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Ausm leben mittenmang - Beate Morgenstern


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über die Glieder mehrerer Finger reichte. Der hellblaue Stein wies weiße Schlieren auf. Das Gold der Fassung stumpf. Eine moderne, auffällige Arbeit, doch nicht überladen. Das helle Blau sah auf Ingas gebräuntem Hals und Händen und zu dem Beige der Bluse, des kurzen Rocks und der langen Strickweste sehr gut aus. Überhaupt sah Inga wieder sehr gut aus. Atemberaubend gut. Was Annette schon immer so gefallen hatte.

      Nach einem mäßigen Orgelkonzert schlenderten sie durch die Gassen der Stadt.

      Zuhause erwartete sie der Abschluss des Menüs, eine mit Sekt geschlagene Creme. Den Rest des Sekts tranken sie, kamen auch damit nicht zu Ende, obwohl sie lange und ununterbrochen redeten und etwas hektisch, von Ingas Ehe, sodass Annette in dieser Nacht wenig und schlecht schlief.

      Erinnerte sich Annette später an den Besuch, sah sie Inga vor sich in ihrem blühenden Garten, der wie ein Zimmer war, in beigen kurzem Rock und der langen beigen Weste, am gebräunten Hals in der Mitte eines Goldcolliers ein Aquamarin. Und dann sah sie den Ring. Der Aquamarin leuchte wie ein großes, sehr waches, helles Auge an der Hand, die etwas brauner war, die Finger um weniges länger als die von Annette. Sie wussten es, denn sie hatten ihre Hände verglichen, bevor Inga Annette den Ring aufsetzte. Er würde dir auch stehen, hatte die Cousine nach einem prüfenden Blick gesagt.

      1992

      Ausm Leben mittenmang

      I.

      Der Bahnsteig menschenleer. Vogellärm aus den großen alten Bäumen des nahen Wäldchens. Ich sehe auf die Lindenalleen zu beiden Seiten der S-Bahn, bin sehr rechtzeitig auf dem Bahnsteig, denn ich muss den Anschluss zu einer Regionalbahn bekommen. Ich bin wieder einmal zur Familie meines Bruders unterwegs. Auf der Bank hinter meinem Rücken ein Pärchen. Sag doch mal was, sagt der junge Mann. Saurer Geruch dringt zu mir. Sag was, irgendwas. – Schweigen. – Sag doch was. Wenn du an mir was auszusetzen hast. Sag was! – Schweigen. Du musst doch was zu sagen haben. – Ich habe nichts zu sagen. – Aber irgendwas denkst du doch. – Nein, eigentlich nicht. – Sag was. Sag doch was. Irgendwas. – Schweigen. – Nun schweigt auch er. Zeit vergeht. Die S-Bahn Richtung Stadt kommt. Ich drehe mich nach den beiden um: Die junge Frau steht auf, geht zum Zug. Der junge Mann bleibt sitzen. So konsequent die junge Frau schwieg, so geht sie auch, sieht sich nicht einmal um. Ich stehe auf, will wissen, warum er nicht ruft, warum er sich das gefallen lässt. Zusammengesunken sitzt er da, ist eingeschlafen. Die S-Bahn fährt an. Vielleicht verwendet sie jetzt noch einen Blick? Nein. Die junge Frau fährt, starr im Profil, an ihm vorbei.

      II.

      Mit einem Mal schiebt sich ein alter Mann in meine Gedanken und mein Blickfeld. Sein Platz mir gegenüber auf der langen Bank der U-Bahn. Unrasiert der alte Mann, abgewetztes, glänzendes Jackett, abgewetzte Hosen. Angetrunken ist er nicht. Hat nicht das rote Trinker-Gesicht. Ist er ein Penner oder nur einer, um den sich keine Frau kümmert und der das Kümmern um sich selbst nicht gelernt hat? Auf seinem Knie hält er einen geblümten Nylon-Beutel. Weiter hat er nichts bei sich. Sein Blick stechend, dunkel. Gleich wird er den Mund öffnen und jemanden beschimpfen. Wahrscheinlich das junge Mädchen neben sich. Sein Griff löst sich. Der Beutel rutscht auf sein Knie. In einer Papierumhüllung wird eine Hyazinthe sichtbar. Abgeblüht. Die Blätter fleischig geworden. Der alte Mann sitzt, auf seinem Knie umfasst er die abgeblühte Hyazinthe. Wie ich noch immer schaue, sehe ich: Seine rechte Hand regt sich. Mit sachten Fingern geht er über die Blätter. Habe ich recht gesehen? Da sitzt ein alter Mann, vor sich eine abgeblühte Hyazinthe. Ein bisschen irrsinnig das allein schon. Da: Wieder bewegen sich seine Finger, gleiten über die Blätter, sachte, ganz sachte. Mein Blick bändigt das Lachen des jungen Mädchens.

      III.

      Eine sehr alte Frau legt ihre Handtasche auf den Platz neben mir. Sie geht, sich am Automaten in der Straßenbahn einen Fahrschein zu lösen. Plötzlich neben mir eine andere, auch alte Frau. Aber der Platz war belegt!, sage ich leise. Was?, sagt die alte Frau. So was gibt es nicht. Da hat sie wohl recht, denke ich, schweige. Die sehr alte Frau kommt zurück, sieht, ihr Platz ist besetzt. Das war mein Platz!, sagt die sehr alte Frau. Wo gibt es denn so was, sagt die alte Frau neben mir und hält ihr die Tasche hin, das ihr nicht gehörige Eigentum. – Ich habe meine Tasche auf den Platz gelegt, sagt die sehr alte Frau. Sie haben es doch sehen können, der Platz war besetzt. Ich will aufstehen, um den Streit ein Ende zu machen und ihr meinen Platz in der Straßenbahn anbieten. Doch meine Nachbarin ruckt nicht beiseite. Die sehr alte Frau nimmt ihre Tasche. Ich war zuerst hier. Das haben Sie sehen können. – Ich habe eine Tasche gesehen, ich habe nicht Sie gesehen. Wenn ich Sie gesehen hätte, hätte ich mich nicht hingesetzt. Ich hätte mich Ihnen wohl nicht auf den Schoß gesetzt! So was mache ich nämlich nicht, wie Sie sich vielleicht denken können, sagt meine Nachbarin. – Ich kann mir gar nichts denken, als dass sie eine alte Schachtel sind, die auf meinem Platz sitzt. Ich musste meine Fahrkarte lösen. Ich kann ja wohl nicht gleichzeitig meine Fahrkarte lösen und auf meinem Platz sitzen bleiben. – Sie sind die alte Schachtel!, sagt die alte Frau neben mir. Hören Sie, hören Sie!, mischen sich jetzt Fahrgäste ein. Überall steht man auf, um der sehr alten Frau einen Platz anzubieten. Aber die will ihren Platz und keinen sonst. Sie sind die alte Schachtel und sitzen auf meinem Platz! Gehen Sie da weg. Sehen Sie doch, freundliche Leute bieten Ihnen genug freie Plätze an. – Setzen Sie sich doch. Ich habe meinen Platz!, sagt meine Nachbarin. – Sie haben meinen Platz! Sie blöde alte ... Henne!, sagt die sehr alte Frau, die steht. – Sie sind ja nicht ganz richtig im Kopf. Ich sitze hier. Und setzen Sie sich, wo sie wollen oder setzen Sie sich nicht, sagt meine Nachbarin. – Sie sind nicht ganz richtig im Kopf. Und außerdem bin ich die Ältere, ich habe Anspruch. – Wieso sind Sie die Ältere? Ich bin die Ältere, sagt die alte Frau, meine Nachbarin. – So, wie alt sind Sie denn? sagt die sehr alte Frau, die steht. – Achtundachtzig! schreit meine Nachbarin ihr Alter uns allen in die Ohren. Und ich bin neunundachtzig, schreit triumphierend die alte Frau, die steht. Wollen Sie meinen Personalausweis sehen! Ich, ich bin die Ältere. Die sehr alte Frau will schon ihre Tasche öffnen. Doch meine Nachbarin hat keine Lust auf Beweise. Das ist auch ganz egal! , sagt sie. Das ist überhaupt nicht egal. Überhaupt nicht. Die sehr alte Frau, die steht, schließt ihre Tasche. Schon nimmt sie Schwung, die Tasche saust los, wird von einem aufmerksamen Fahrgast aufgefangen. Setzen Sie sich doch, bitte!, sagt er. Sie will mich schlagen, schreit meine Nachbarin!, nimmt nun ihre Tasche und schleudert sie durch die Luft. Die sehr alte Frau weicht gerade noch aus. Die Straßenbahn hält. Jemand hat den Fahrer benachrichtigt. Die Amtsperson schreitet den Gang entlang auf die beiden Alten zu. Die sind plötzlich still. Wenn Sie nicht Ruhe geben, setze ich Sie an der nächsten Station raus, sagt er. Es war mein Platz!, sagt die Neunundachtzigjährige. Ich war zuerst da. – Plätze besetzen gibt es nicht, sagt die Achtundachtzigjährige. – Meine Damen! Sie können sich von der nächsten Station an draußen weiter unterhalten. Setzen Sie sich!, sagt er zu der, die steht. Die setzt sich auf einen der freien Plätze. Und ich denke: wunderbar, welch eine Energie. Würde ich so alt, dann will ich mich auch um meinen Platz noch schlagen.

      IV.

      Ein Beerdigungswagen fährt an mir vorbei. Die Straßenbahn ist angefahren. Die Ampel rot. Die Straßenbahn stoppt. Das Leben hält einen Augenblick inne.

      V.

      Ich habe in der neuen Arztpraxis meiner alten Dr. Schiffner Platz genommen und richte mich sozusagen häuslich ein.

      Ja, Mausi! Mach das Mausi. Ach weißt du, das musst du schon selbst entscheiden. Gut, wie du meinst … Frau Fröhlich hat gerade einen Ansturm von Patienten bewältigt und telefoniert. Die Patienten sitzen hinter Glas im kleinen Warteraum. Ich zähle nicht, wie viele es sind. Eineinhalb Stunden Warten habe ich eingerechnet. Noch habe ich Zeit. Frau Doktor nimmt sich erfreulich viel Zeit, also muss man auch selbst welche mitbringen. An das noble Etablissement mit Tresen für Frau Fröhlich habe ich mich gewöhnt. Frau Doktor Schiffner auch. Früher wohnte sie in ihren Dienstzeiten in der Poliklinik in der Christburger, einem riesigen roten Klinkerbau mit breiten Fluren. Sie war die vorletzte Ärztin, die ihren Platz räumte, unfreiwillig. Die ehemalige Mädchenschule wurde an irgendwen „rückübertragen“ oder lief unter „ungeklärte Eigentumsverhältnisse“. Noch heute ist mir ihre neue Bestimmung nicht bekannt. Vorbei also die zentrale Poliklinik


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