Schön und ermordet: Zwei Kriminalromane. Alfred Bekker

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Schön und ermordet: Zwei Kriminalromane - Alfred Bekker


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die er sich am frühen Abend von ihm, dem Portier, hatte besorgen lassen.

      Sie pressten sich links und rechts neben der Tür an die Wand. Der Schweiß brannte in Roths Augen, seine Handfläche war feucht, aber es war zu spät, um sie jetzt noch einmal abzuwischen. Hinter der Tür knarrten die ausgeleierten Federn einer Matratze. Unten im Eingang lachte eine der Nutten, die ihre Freier hier hereinschleppten, dann klackten die spitzen Absätze auf den Stufen.

      Gräfe machte ein besorgtes Gesicht. Wieso hatten die Kollegen sie nicht am Betreten des Hauses gehindert?

      Roth atmete flach, weil er fürchtete, seine Atemstöße könnten durch das dünne Holz dringen. Das Türschloss befand sich zu seiner Linken. Nach dem Trainingsprogramm des MEK, an dem sie in regelmäßigen Abständen teilnahmen, fiel ihm die Aufgabe zu, das Schloss einzutreten.

      Mit einer halben Körperdrehung auf dem linken Absatz einen Schritt in den Gang hinein, dabei das rechte Bein anziehen und den Fuß gegen das Türblatt abschießen, genau unterhalb des Schlosses, das sich dann rechts von ihm befinden würde.

      Gräfe nickte ihm zu und packte den Pistolengriff mit beiden Händen.

      Roth löste sich von der Wand. Eine Diele knackte leise unter seinem Fuß. Er hob das Bein, bis es seine Brust berührte, dann stieß er den Fuß gegen die Tür.

      Mit einem berstenden Knall sprang das Schließblech aus dem Rahmen. Die Tür flog in den Raum und krachte gegen die Wand.

      »Polizei! Keine Bewegung!«, schrie Roth und hechtete über die Schwelle.

      Es war dunkel im Zimmer. Nur das hohe Rechteck des einzigen Fensters hob sich schwach gegen die Dunkelheit an.

      Das Bettgestell knackte laut. Vor dem Fenster erschien der Umriss einer Gestalt. Roth fuhr herum, er streckte die Arme. Mit beiden Händen umklammerte er den Pistolengriff. In dem Moment flackerte auf der anderen Straßenseite die Leuchtreklame über dem Pirandello Club auf, eilig kletterte die Schrift an der Fassade hinauf.

      »Polizei!«, brüllte Roth. »Keine Bewegung! - Mach Licht, Volker, Licht!«

      Er gab einen Warnschuss ab, doch die Gestalt vor dem Fenster, vom Neonlicht rot überhaucht wie vom Widerschein lodernder Flammen, bewegte sich mit erschreckender Geschmeidigkeit.

      Roth erkannte den blassen Umriss des Gesichts vor dem roten Hintergrund, er sah den länglichen Gegenstand drohend in der Hand des anderen, bevor er mit dem Umriss der Gestalt verschmolz. Ein Gedanke schoss durch Roths Kopf. Nach unzähligen Verhaftungen, davon allein achtzehn im laufenden Jahr, bei denen er die entsicherte Waffe in der Hand gehalten hatte, freilich ohne sie ein einziges Mal zu benutzen, war jetzt der Moment gekommen. Der Moment, in dem es nur darum ging, wer zuerst schoss und traf.

      Roth drückte ab. Zweimal ruckte die schwere Selbstladepistole in seiner Faust.

      Im selben Moment flammte endlich das Deckenlicht auf.

      Roth hielt die Arme immer noch gestreckt, die Mündung auf den Mann gerichtet, den die Wucht der Einschläge gegen die Wand neben dem Fenster geschleudert hatte. Einen endlos scheinenden Augenblick verharrte er dort, wie von Pfeilen gegen die Wand geheftet, bevor er langsam zu Boden rutschte. Auf der fleckigen, gelben Tapete erschien eine blutige Spur.

      Roth starrte in die brechenden Augen im schmalen dunklen Gesicht.

      Das Gesicht. Es war zu schmal, zu dunkel. Und es wies nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem Gesicht auf dem Polizeifoto auf, das in seiner Tasche steckte.

      Roth spürte eine jähe Schwäche in den Knien, eine aufsteigende Übelkeit. Die Finger des Sterbenden gaben endlich den runden Gegenstand frei, der im Dunkeln so bedrohlich ausgesehen hatte. Die noch halbvolle Mineralwasserflasche kollerte über den Boden, verspritzte ihren Inhalt über Roths Füße.

      Er schrie gellend auf, als Gräfe ihn am Arm berührte.

      »Nein! Nein!«

      »Reiß dich zusammen!«, brüllte Gräfe.

      Gräfe schüttelte ihn, bis seine Zähne klirrten. Mit der freien Hand riss er das Handfunkgerät aus der Tasche und schaltete es ein.

      »Sigma drei, kommen!«, sagte er drängend. »Kommen, Sigma drei! Wir brauchen einen Arzt hier!«

      Der Lautsprecher blieb stumm.

      »Die haben ihre Geräte noch abgeschaltet! Rühr dich hier nicht weg!«

      Roth nickte benommen. Gräfe lief aus dem engen Hotelzimmer.

      Roth, der den Anblick der brechenden Augen nicht ertragen konnte, wich in den Flur zurück. Gräfe stand an der Treppe und beugte sich über das Geländer.

      »Hermann! Rainer! Hört denn niemand? Verdammt ...«

      Das Quietschen des Türschlosses hinter Jürgen Roth klang verstohlen, heimlich. Er drehte sich um.

      Die Zimmertür auf der anderen Gangseite öffnete sich. Im Rahmen erschien eine gedrungene Gestalt mit dichten blonden Haaren auf dem breiten Schädel. Augen, dunkelbraun unter struppigen Brauen, weit aufgerissen, starrten ihn an.

      Nelles!

      Roth war unfähig, sich zu bewegen, die Pistole, die schwer an seiner herabhängenden Hand zog, hochzureißen. Der Schock dauerte an.

      Auch Nelles hielt eine Waffe in der Faust, einen Revolver, aber er benutzte ihn nicht. Noch nicht. Das Fenster des Zimmers, aus dem er kam, ging in den Hof hinaus. Der Instinkt des Gejagten hatte ihm verraten, dass er dort nicht hinauskonnte. Dort hätten ihn die Fahnder des Sonderkommandos in Empfang genommen.

      Er hechtete in den Flur, rammte Roth mit der gewölbten Schulter und rannte auf die Gangbiegung zu.

      Roth prallte gegen den Türrahmen. Ein scharfer Schmerz schoss durch seinen Arm.

      Gräfes Kopf ruckte herum. Auch er erkannte Nelles sofort. Sein Arm flog in die Höhe.

      Aber Roth stand genau in der Schusslinie.

      »Runter!«, brüllte Gräfe mit sich überschlagender Stimme. »Runter!«

      Nur noch drei, vier lange Sätze trennten Nelles von der Gangbiegung. Roth starrte hinter dem fliehenden Killer her, bis Gräfe einen Warnschuss in die Decke jagte und Nelles sich im Lauf herumwarf und aus der Bewegung heraus feuerte.

      Roths Instinkte erwachten, verdrängten den lähmenden Schock. Er warf sich lang auf den Boden. Roth hörte das Pfeifen der Kugeln, als Gräfe über ihn hinweg feuerte.

      Nelles verschwand hinter der Ecke. Gräfe rannte durch den Flur, sprang über Roths Beine. Hinter dem Knick klirrte Glas, als Nelles durch das geschlossene Fenster am Ende des kürzeren Flurstücks sprang.

      Gräfes Gesicht war kalkweiß, als er den Portier an der Jacke heraufschleifte, ihn vor sich her durch den Flur trieb und ihn dann in das Zimmer schleuderte, in dem noch der Pulverdampf waberte.

      Der alte Mann begann zu zittern, als er den Toten erblickte, der wie eine Puppe am Boden hockte. Der Kopf war ihm auf die Schulter gefallen.

      Gräfe deutete auf den Toten, während von draußen das Wimmern der ersterbenden Sirenen hereindrang und Schritte die Treppe heraufpolterten.

      »Wer ist das?«, schrie Gräfe nah am Ohr des Alten.

      Im Seesack, der am Kopfende des Bettes stand, fand Roth das Heuerbuch. Er schlug es auf.

      »Jadallah al Ahmal«, las er mit kratzender Stimme. Das Blut pochte hinter seiner Stirn. »Seemann aus Tunis ...« Er ließ das Heuerbuch fallen. »Warum stand er nicht still? Warum hat er sich bewegt?«

      »Er sprach kein Wort deutsch«, stammelte der Alte.

      »Seine Reederei hat ihn geschickt. Sie bezahlt das Zimmer, bis ...«

      »Wie kommt er hier rein?«, brüllte Gräfe. »Wie kommt er in dieses verdammte Zimmer? Was haben Sie uns erzählt?« Gräfe stieß den alten Mann gegen die Wand und zerrte das Polizeifoto von Nelles aus der Tasche. Er hielt es dem Alten vor die Augen. »Sie


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