Die Gregoriuslegende Arnolds von Lübeck. Karoline Harthun
Читать онлайн книгу.quia usum legendi talia non habemus et modum locucionis incognitum formidamus.“12 Sicherlich liegt in der Formulierung „modum locucionis13 incognitum“ eine Übertreibung im Sinne topischer affektierter Bescheidenheit,14 mit der sich Arnold dagegen absichern möchte, daß ihm etwaige Übersetzungsfehler zur Last gelegt würden. Insgesamt ist aber von einer topischen Einleitung wenig zu spüren; im Prologus ante rem15 vermeidet Arnold affektierte Bescheidenheit oder Captatio benevolentiae.16
II.2 Überlieferung
Die Überlieferung der Hartmannschen Version des Gregorius ist um ein Vielfaches reicher als die von Arnolds Text. Wir kennen insgesamt elf Handschriften und Fragmente des 13., 14. und 15. Jahrhunderts.17 Die wichtigste Handschrift ist die Leithandschrift A (Vat. regin. lat. 1354) von der Hand eines ostoberdeutschen Schreibers aus dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts, in der nur der Prolog und der Schluß des Epilogs fehlen. Auf sie stützt sich fast ausschließlich die heutige Edition des Hartmannschen Textes, denn sie ist nicht nur die älteste, sondern auch die beste Überlieferung des Werks.
Arnolds Arbeit scheint dagegen niemals eine nennenswerte Rezeption erfahren zu haben. Sie ist nur durch eine Handschrift P und ein Fragment B in die Neuzeit gelangt, die mittlerweile beide verloren sind. Der Codex unicus18 stammt aus dem westfälischen Augustinerchorherrenstift Böddeken19 und befand sich noch unlängst in der Erzbischöflichen Akademischen Bibliothek in Paderborn (P a 54),20 wo er 1981 gestohlen wurde. Er wurde in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts geschrieben. Daß der Codex über zweihundert Jahre nach der Niederschrift der Gesta Gregorii Peccatoris nur unweit von Lübeck entstand, weist darauf hin, daß Arnolds Werk geographisch nur wenig Verbreitung fand. Schilling nennt die Qualität der Handschrift zwar mäßig, nimmt jedoch nicht an, daß sie den Wortlaut des Archetyps entstelle.21 Die Überlieferungskette dürfte nur kurz sein; möglicherweise lag dem Schreiber von P sogar das Original vor.
Das Fragment B von 38 Versen war Teil einer Handschrift des 13. Jahrhunderts. Es verschwand im 19. Jahrhundert aus der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Schilling schätzt die Qualität der Mutterhandschrift von B geringer ein als die der Handschrift P, obwohl erstere deutlich älter war.22
II.3 Vorlagen
Hartmanns Vorlage war die altfranzösische Verslegende La Vie de Saint Grégoire aus dem zwölften oder noch elften Jahrhundert.23 Zwar sind zwei Fassungen dieses Textes überliefert, doch sind alle vorhandenen Handschriften jünger als Hartmanns Übersetzung. Fassung A ist in einer Handschrift aus der Mitte des 13. Jahrhunderts in Tours und in einer von 1469 in der Bibliothèque Nationale von Paris vorhanden. Fassung B liegt in drei Handschriften vor, nämlich vom Anfang des 13. Jahrhunderts im British Museum London, aus dem 14. Jahrhundert in der Pariser Arsenalbibliothek, aus dem frühen 15. Jahrhundert in Cambrai, und in einem Fragment vom Ende des 13. Jahrhunderts im British Museum. Fassung B steht dem Archetyp näher und gehört dem gleichen Überlieferungsstrang an wie Hartmanns Vorlage. Gleichwohl unterscheiden sich beide Fassungen so deutlich von Hartmanns Übersetzung, daß es sich verbietet, sie für einen Textvergleich als Stellvertreter der verlorenen Vorlage heranzuziehen.24
Die Handschrift von Hartmanns Gregorius, die Arnold für seine Übersetzung benutzte, ist ebenfalls nicht erhalten. Schilling bezeichnet sie im Anschluß an die belegte Gregorius-Überlieferung als Handschrift N. Sie ist enger mit dem Archetyp verwandt als alle uns bekannten Handschriften, wurde sie doch schon vor dem Jahre 1209 und möglicherweise in Hartmanns unmittelbarer Umgebung angefertigt.25 Von allen Handschriften stimmt die Leithandschrift A am ehesten mit ihr überein, doch zeigt die Kapiteleinteilung, die Arnold aus seiner Vorlage übernommen hat, einige Abweichungen.26
II.4 Rezeptionsästhetischer Kontext
Die Frage nach dem Lesepublikum der Gesta Gregorii Peccatoris kann hier zunächst nur angerissen werden. Um sich ihr anzunähern, muß man ohnehin zwischen verschiedenen denkbaren Publika differenzieren. Schon einen konkreten Adressaten zu benennen, stellt sich als schwierig heraus; richtet er sich doch einmal nach der Intention des Auftraggebers, einmal nach der des Übersetzers Arnold von Lübeck. Beide weichen unter Umständen voneinander ab. Dies soll in den Anmerkungen zur möglichen Motivation beider Urheber (Kapitel IX) geklärt werden. Aus Arnolds Bemerkungen im Prolog und im zweiten Epilog können wir schließen, daß er zumindest kein elitäres Publikum ansprechen wollte, sondern auch „einfache, unwissende“ Leser, also Laienbrüder oder gar Adlige.27
Als Rezipient interessiert vor allem das zeitgenössische Lesepublikum des frühen 13. Jahrhunderts. Die Rezeption späterer Jahrhunderte, besonders nach der Entstehung des Codex unicus, kann vernachlässigt werden, weil man angesichts der spärlichen Überlieferung der Gesta Gregorii Peccatoris davon ausgehen kann, daß die Neuzeit vor der wissenschaftlichen Beschäftigung kein Interesse an dem Werk hatte.
Das Interesse des Schreibers der Handschrift P aus dem 15. Jahrhundert kann man am Kontext ablesen, in den die Gesta Gregorii Peccatoris innerhalb des Codex gestellt werden. Es handelt sich um eine historiographische Handschrift mit hagiographischem Schwerpunkt. Außer den Gesta Gregorii Peccatoris findet man darin eine Chronik mit dem Titel Flores temporum, den Liber quadrupertiti apologetici, eine Schrift von Pseudo-Seneca über die vier Kardinaltugenden und die Viten Papst Leos IX. und des Hl. Robert.
III. Forschungsbericht
Die Forschung über die Gesta Gregorii Peccatoris stand immer im Schatten des Interesses an ihrer deutschen Vorlage, die der Literaturgeschichtsschreibung als so viel bedeutender galt. So richten sich die meisten Fragen zu den Gesta Gregorii Peccatoris an ihr Verhältnis zum Ausgangstext. Als eigenständiges literarisches Werk wurden sie bisher nur peripher wahrgenommen.28
Nachdem die Gesta Gregorii Peccatoris im Jahre 1877 wiederentdeckt worden waren,29 stießen sie auf reges Interesse und provozierten mehrere Dissertationen. Nach dem Ersten Weltkrieg erlahmte die Beschäftigung und wurde erst wieder in den siebziger Jahren aufgenommen. In den späten achtziger Jahren erlebte das Werk Arnolds von Lübeck eine noch immer anhaltende Renaissance. In den vergangenen zehn Jahren wurde über die Gesta Gregorii Peccatoris annähernd so viel publiziert wurde wie in den hundert Jahren zuvor.
Die Editio princeps legte Gustav von Buchwald vor. Er gab ihr den Titel „Gregorius Peccator“. Mehrere Rezensenten kritisierten die Edition und boten Textverbesserungen an.30 Generell konzentrieren sich die meisten der frühen wissenschaftlichen Arbeiten über die Gesta Gregorii Peccatoris auf deren Sprache.
Hermann Seegers verglich als erster Arnolds Übersetzung mit Hartmanns Gregorius. Sein Augenmerk galt dabei vor allem der Entstehung der Übersetzung, indem er zu klären versuchte, welche Handschrift Arnold benutzt haben könnte. Er stellte bereits die Nähe der Handschrift P der Gesta Gregorii Peccatoris zur Handschrift A des Gregorius fest und neigte irrigerweise dazu, diese für die Vorlage zu halten.31 Das Fehlen des Prologs in der Handschrift A versuchte er damit zu erklären, daß Arnold der eigentliche Autor des Gregorius-Prologs sei und Hartmann den Prolog erst aus Arnolds Übersetzung übernommen habe.
Die Dissertation Johannes Meys ist der Chronik Arnolds von Lübeck gewidmet. Doch geht Mey in einem Exkurs auch auf die Gesta Gregorii Peccatoris ein. Darin registriert er, nun auf gesicherterer Textgrundlage stehend als seine Vorgänger, strukturelle und inhaltliche Unterschiede zu Hartmann. Er betont vor allem, daß Arnold die Erzählung stark christlich eingefärbt habe.32
Ernst Schuppes Dissertation befaßt sich erneut mit Problemen der Textkritik. Auf der Grundlage einer ausführlichen metrischen und rhythmischen Analyse des Werks äußert er zahlreiche Korrekturvorschläge zu Buchwalds Ausgabe. Methodisch folgt er seinem Lehrer Eduard Sievers. Dabei fügt er in den nur aus einer Handschrift bekannten Text so viele ihm metrisch notwendig scheinende Wörter ein, daß er sich damit radikal gegen die Autorität der Überlieferung stellt.
Nach