Die Gregoriuslegende Arnolds von Lübeck. Karoline Harthun

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Die Gregoriuslegende Arnolds von Lübeck - Karoline Harthun


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Schwerpunkt. Die ältere, erste Gruppe interessierte sich vornehmlich dafür, wie der Übersetzer das Formalisierungsgefälle zwischen der völlig verschriftlichten Zielsprache Latein und der noch immer dialektal geprägten, grammatisch freieren und semantisch ärmeren, mithin auch ambivalenteren Ausgangssprache Deutsch bewältigt hat.

      Die zweite Gruppe der Interpreten richtete ihr Augenmerk auf die unterschiedliche soziale Herkunft der beiden Autoren. Zwar war auch Hartmann als Ritter überdurchschnittlich gebildet,103 doch ist seine Sichtweise, wie noch zu erläutern sein wird, zweifellos viel weltlicher als die des Abtes Arnold. Die übereinstimmende Meinung der bisherigen Publikationen geht dahin, daß Arnold Hartmanns säkularisierte Auffassung eines ursprünglich rein religiösen Themas entweder in Nuancen oder aber radikal „rechristianisiert“ hat.

      Die vorliegende Arbeit nun hat sich zum Ziel gesetzt, einen dritten Interpretationsansatz ins Gespräch zu bringen, um die beiden bisher benutzten in einen Zusammenhang zu setzen, der im Falle des Gregorius noch nicht explizit gesucht wurde. Indem man die Texte sowohl unter ausgewählten sprachlichen Kriterien als auch unter inhaltlichen untersucht, läßt sich die Dichotomie zwischen Philologie und Literaturwissenschaft überwinden. Ausgehend von der grammatischen und rhetorischen Beschaffenheit eines Textes, kann man, über ein allgemein historisches Interesse an sprachlichen Ausdrucksformen hinaus, die idiosynkratische Vorgehensweise eines Autors konstruieren, nach der er mit dem Duktus des Textes auch seine Interpretation bestimmt. Eine Übersetzung eignet sich für eine Analyse im Sinne einer narrativen Theorie hervorragend, weil sich im Vergleich zum Original die Eingriffe des Übersetzers in den Text eindeutig abzeichnen.104 Und diese Eingriffe manifestieren sich in erster Linie in der Struktur der Erzählung, sind doch die erzählerischen Mittel das wichtigste Handwerkszeug eines Autors.

      Freilich ist das Feld der Narrativik weiter und weniger systematisiert als beispielsweise das der Rhetorik, nicht zuletzt weil es in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Literatur ein vergleichsweise junges Territorium ist. Hier verläßliche Untersuchungskriterien aufzustellen, ist keine leichte Aufgabe. An einem festen Kanon der analytischen Methodik muß es schon deswegen mangeln, weil offenbar jeder Text seine ureigene Vorgehensweise in der Analyse erfordert. Der Kern der Problematik liegt in der nach wie vor offenen Genrediskussion der Mediävistik. In der Neueren Literaturwissenschaft wird niemand versuchen, die Struktur eines Roman mit den Mitteln einer Gedichtanalyse beschreiben zu wollen. Mögen die interpretatorischen Grenzen auf dem Gebiet mittelalterlicher Lyrik noch einigermaßen deutlich abgesteckt sein, so verschwimmen sie schon in der Unterscheidung zwischen Epos und Roman. Noch vager müssen sie bei einem Werk wie dem Gregorius verlaufen, dessen Genre kaum bestimmt werden kann und das seine Ausdrucksformen aus so gegensätzlichen Erzählgattungen wie der Legende, der Novelle und dem Roman bezieht.105

      Aus diesem Grunde will sich die vorliegende Studie auf ein empirisches Vorgehen konzentrieren, bei dem induktiv Untersuchungskriterien entwickelt werden, um die eigentümlichen Differenzen zwischen der Erzählstruktur der beiden thematisierten Fassungen der Gregoriuslegende zu beschreiben.106

      V.2 Die Kategorien des Vergleichs

      V.2.1 Rhetorische Änderungen (A)

      Rhetorische Vergleiche zwischen den beiden Gregorius-Fassungen lassen sich nur bedingt anstellen, da jede Übersetzung mit rhetorischen Veränderungen einhergeht. Sie sollen hier deshalb nur dann aufgeführt werden, wenn Arnold entweder auffällige rhetorische Eigenleistungen erbringt oder aber auf prominente Stilfiguren Hartmanns verzichtet, ohne auch nur annähernd lateinische Entsprechungen zu bilden. In antiker Terminologie gehört dazu der Vorgang des Incrementums, der Steigerung von Stilfiguren.107

      V.2.2 Die „topischen“ Zugaben (B)

      V.2.2.1 Exkurs: Der Toposbegriff

      Unter der Kategorie der „topischen“ Zugaben soll eine ganze Gruppe von textuellen Eingriffen Arnolds verstanden werden, die sowohl sprachlicher als auch inhaltlicher als auch struktureller Natur sein können. Der Begriff des Topos in der Literaturwissenschaft ist indifferent genug, um keinen dieser Aspekte auszuschließen.108 Die Interpretation dieses Terminus und seine Verwendung schwanken in dem Maße, in dem Curtius’ Maßstäbe setzendes Kompendium zur Topik seit seinem Erscheinen im Jahre 1948 die heftigsten und unterschiedlichsten Reaktionen hervorgerufen hat. Die gewaltige Kontroverse innerhalb der Toposforschung hat dazu geführt, „daß (...) jeder Autor, der den Begriff Topos verwendet – der nun einmal von Curtius in die literaturwissenschaftliche Terminologie eingeführt wurde –, diesen definieren muß.“109

      Denn während sich vor allem in den ersten Nachkriegsjahren viele Forscher Curtius vorbehaltlos anschlossen, übte die Literaturwissenschaft der sechziger und siebziger Jahre deutliche Kritik an seinem Toposbegriff: „Der Curtiussche Topos in seiner ersten Fassung 1938 (und in den folgenden Jahren) wie in seiner modifizierten Form von 1948 ff. ist ein Proteus, dessen Identität nicht Wahrheit ist, sondern das falsche Ergebnis ahistorischer Gleichsetzungen von verschiedenen Termini der rhetorischen Topik. So ist es möglich, daß der Curtiussche Topos schließlich fast jeden Inhalt annehmen kann und sich nur noch mit dem Sammelbegriff eines ‘konstanten’ oder ‘traditionellen’ Textelementes fassen läßt.“110 So hart diese Worte klingen, so ist es doch richtig, daß sich Curtius vom antiken Verständnis eines Topos im Sinne von Aristoteles gelöst hat, nach dem der Topos „eine Methode, eine Technik oder Norm, ein Instrument zur Auffindung einer Sache, niemals aber die Sache selbst“111 sein kann beziehungsweise immer ein Stilmittel ist, aber kein Motiv. Ein entliehenes Motiv müßte man danach streng logisch als Gemeinplatz bezeichnen, nicht als Topos.

      Die streng funktionale Deutung des Aristotelischen Toposbegriffs bei Mertner ist nicht unumstritten. Freyr R. Varwig machte deutlich, daß Aristoteles einer metaphorischen und auf den Redeinhalt bezogenen Verwendung rhetorischer Begriffe grundsätzlich auswich.112 Otto Pöggeler fragte im Gegensatz zu Mertner nach der Platonischen Vorstellung vom Topos und sieht in ihm primär eine Symbolisierung philosophischen Gedankenguts.113 Den Autoritäten Platons und Aristoteles’ muß man die Ciceros und Quintilians gegenüberstellen, insbesondere im Hinblick auf ihre gewichtigere mittelalterliche Rezeption. Beide öffnen den Toposbegriff seiner inhaltlichen Dimension; denn: „licet definire locum esse argumenti sedem“.114 Diese Formulierung läßt offen, ob sie die Struktur oder den Inhalt des Sedes argumenti oder beide meint.115 Entscheidend, wie auch schon bei Aristoteles selbst, ist die Funktion des Locus innerhalb der Rede als eines Elementes, das zur Überzeugung und Gewinnung des Hörers eingeflochten wird.

      Der von Jehn abschätzig gebrauchte Ausdruck „Sammelbegriff eines ‘konstanten’ oder ‘traditionellen’ Textelementes“ ist zwar vage, trifft aber die Eigenart von Curtius’ Terminus. Für eine moderne, nicht aristotelische Topos-Definition reicht er freilich nicht aus. Diese ist aber vonnöten, will man nicht einfach Curtius’ theoretisch unsicheren, aber in der literaturwissenschaftlichen Praxis fruchtbaren komparatistischen Ansatz aus rein logischen Überlegungen zu einer zu eingeschränkten Stilkritik degradieren. Zu eingeschränkt deshalb, weil das von Curtius Topos genannte Phänomen in der literarischen Realität der nachantiken, insbesondere der nicht wissenschaftlichen Literatur - Aristoteles’ Äußerungen über die Topik sind ja von den Gattungen der Gerichtsrede und des philosophischen Beweises inspiriert - damit in seiner Bedeutung nicht erkannt würde.

      Wie vielfältig die topische Verwendung eines narrativen Elementes in der Literatur des Mittelalters auftreten kann, hat zuletzt Peter von Moos am Beispiel des Exempels vorgeführt.116 Er betrachtet das Exempel nicht mehr losgelöst von seinem Erzählkontext und berücksichtigt besonders historische Texte, die nicht zum Vortrag gedacht waren. Dadurch wird der metaphorische Gebrauch des Exempels deutlich, das formal dem Exempel in Oratio und Sermo entlehnt ist. Für andere Textelemente liegen derart umfangreiche Untersuchungen nicht vor.

      Die Einsicht, daß ein Topos seine volle Gültigkeit erst durch seinen Erzählkontext erlangt und kein „funktionsloses Requisit“117 ist, verdankt die neuere Literaturwissenschaft der Topostheorie Bornscheuers. Von Moos’ Schüler führt den Begriff der Kombinatorik in die Diskussion ein. Nach seiner Auffassung spiegelt der


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