Verblassende Spuren. Ursula Reinhold

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Verblassende Spuren - Ursula Reinhold


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      Auf einem Foto steht, von meinem Vaters geschrieben, auf der Rückseite das Datum der Aufnahme: Weihnachten 1939. Es hält den Augenblick eines Familientreffens in der Neuköllner Altenbraker Straße fest. Es war das erste Jahr des Krieges! Ob über den Krieg gesprochen wurde in der Runde, oder schien er ihnen mit dem schnellen Sieg über Polen schon beendet? War ihnen bewusst, dass es erst richtig losgehen würde? Sicherlich hat mein Vater die weihnachtliche Andacht wieder mit aufstörenden Fragen beeinträchtigt, könnte ich mir vorstellen, bis die Mutter ihm Einhalt geboten hat. Aber es muss nicht so gewesen sein.

      Auf dem Familienbild sitzt Friedchen mitten im Kreise aller anderen, lachend, eine junge Dame. Meine Großeltern sind zu sehen, meine Mutter mit mir als Baby auf dem Arm, mein Vater, daneben mein Bruder, alle sind um den Familientisch herum platziert. An der Wand im Hintergrund hängt ein Kruzifix. Friedchen ganz im Vordergrund der Aufnahme, sie sitzt am Beginn der Tischreihe und schaut unmittelbar in die Linse. Da ist sie zwanzig Jahre alt, rechne ich mir aus. Auch hier wirkt sie damenhaft, trägt schwarzen Tüll an den Oberarmen und über dem Brustausschnitt. Auf manchen Ablichtungen aus der Zeit ihrer jungen Damenhaftigkeit ist das Gesicht voll und rund, und sie lacht über das ganze Antlitz. Ja, sie war recht gut beieinander, sie aß gern und war ziemlich bequem, kommentierte mein Vater die Bilder seiner jüngsten Schwester.

      Auf einem der Fotos, die sie als junge Frau zeigen, ist ebenfalls die Handschrift meines Vaters zu erkennen, da steht: „Meine jüngste Schwester Friedchen, umgekommen in Ravensbrück“. Das muss das letzte Foto vor ihrer Verschickung ins Lager gewesen sein, denke ich mir. Denn auf diesem Bild wirkt sie erwachsener als auf den anderen Ablichtungen. Das Haar ist von der Stirn aus hochgeschlagen, dunkel und gewellt fällt es hinter den Ohren über den Nacken bis auf die Schultern. Auch hier hat sie ein volles Gesicht, die dichten Augenbrauen sind zu hohen Bögen ausrasiert oder gezupft, eine feine Nase über etwas aufgeworfenen Lippen, ein Erbstück der Mutter, das ich auch von meinem Vater her kenne. Sie schaut sehr ernst aus diesem Bild, anders als bei den früheren Fotos, auf denen sie lachend festgehalten ist. Die Augen sind weit offen, sie sieht den Betrachter nicht direkt an, sondern richtet den Blick rechts aus dem Bild heraus. Dieser Blick verrät einen ernsten Trotz, oder bilde ich mir das nur ein, weil von solchem Trotz erzählt wurde? Auf dem Foto trägt sie einen gestreiften Pullover mit einem Schalkragen. Das muss wohl damals in Mode gewesen sein. Das Foto mag 1941 oder 1942 aufgenommen worden sein, wahrscheinlich lagen die kurze Haftzeit im Frauenhaus Moabit und das Amtsgerichtsverfahren schon hinter ihr.

      Wahrscheinlich stammt die Porträtaufnahme mit der ernten Miene aus dem letzten Jahr, in dem sie noch in Freiheit war, bevor sie endgültig im Lager verschwand. So jedenfalls stelle ich es mir vor. In dieser Zeit ging der Krieg schon in sein drittes Jahr, und sie hat sicherlich die Punktkarte gebraucht, um sich ein solches modisches Kleidungsstück anschaffen zu können, wie sie es hier auf der Aufnahme trägt. Sie hielt darauf, stets mit der Mode zu gehen, und wahrscheinlich hat die Mutter ihr dafür auch noch die ihrige gegeben, denn die jüngste Tochter, meine Tante Friedchen, war das ein und alles ihrer Mutter, meiner Großmutter. Mein Vater wurde nicht müde, das bei verschiedenen Gelegenheiten zu betonen. Eine junge Frau wie meine Tante wollte natürlich gut aussehen. Ja, sie hat immer großen Wert auf ihre Kleidung und ihr Aussehen gelegt, hieß es, wenn von ihr die Rede war.

      Spurensuche

      Friedchen - dass sie eigentlich Frieda hieß, habe ich erst im Laufe meiner Nachforschungen bemerkt, die ich fast 60 Jahre nach ihrem Tod begonnen habe. Leider war dann außer meinem Bruder niemand mehr da, der Näheres über sie wissen konnte und den ich hätte fragen können. Und er hat, als sieben Jahre jüngerer Neffe, nur eine ganz blasse Erinnerung an die junge Frau, unsere Tante. Er war 16 Jahre alt, als sie verschwand, und musste ein Jahr später in den Krieg. Erst 1948 kehrte er aus der Gefangenschaft zurück und wird nur ganz beiläufig zur Kenntnis genommen haben, dass sie nicht mehr lebte. Daher weiß er auch nichts von Erkundigungen der Familie damals, die ihr Schicksal betrafen. Gern wüsste ich jetzt, ob mein Vater nach dem Ende des Krieges irgendwelche Nachforschungen angestellt hat, um Genaueres über Leben und Sterben seiner jüngsten Schwester zu erfahren. Aber er hat nichts erzählt davon, und so ist anzunehmen, dass es solche Erkundigungen nicht gegeben hat. Warum sie unterlassen wurden, kann ich nur vermuten. Auf jeden Fall muss die Bildbeschriftung auf dem Porträtfoto „Meine jüngste Schwester Friedchen, umgekommen in Ravensbrück“ aus dieser Zeit stammen. Darunter standen Worte, die später wieder ausradiert wurden, aber doch deutlich erkennbar sind: „am Prügelblock“ stand noch darunter. Dunkel kann ich mich der Situation erinnern, als er diese Worte wieder ausradierte, nachdem ihn meine Mutter darauf hinwies, dass er nicht wisse, wie sie umgekommen sei. Wahrscheinlich hat er das unter dem Eindruck der damals offenbar werdenden Gräueltaten geschrieben, denen Gefangene in den Lagern ausgesetzt waren. Und sie war eines der zahllosen Opfer. Er wird ihr frühes Ende schwer haben fassen können. Vielleicht auch fühlte er sich durch ihr Schicksal herausgefordert, sich über die eigene Haltung Rechenschaft abzulegen. Denn er war entschiedener Gegner des Naziregimes und hatte dennoch bis zum Ende des Krieges in der Rüstungsindustrie gearbeitet, als Klempner im Flugzeugbau zum Funktionieren des Systems beigetragen, wenn auch mit schlechtem Gewissen und zusammengebissenen Zähnen. Ein Freund von ihm war noch im Januar 1945 hingerichtet worden, er habe sich von einem Gestapo-Spitzel zu Äußerungen im Zusammenhang mit dem misslungenen Hitlerattentat provozieren lassen, erzählte der Vater und gab zu erkennen, dass er selbst vorsichtig war, überleben wollte, Heldentum nicht seine Sache war. Er war ehrlich genug sich selbst gegenüber, um die eigene Haltung realistisch einzuschätzen. Zu mehr als ohnmächtiger Wut und folgenloser Gegnerschaft habe es nicht gereicht bei ihm, meinte er sarkastisch. In der Verweigerungshaltung der Schwester sah er möglicherweise eine Herausforderung für sich selbst, vielleicht hat er sie damals als einen widerständigen und kraftvollen Charakter gesehen oder sehen wollen. Da es zu seinem Wesen nicht recht passte, sich selbst oder anderen etwas über sich vorzumachen, kann solcher Wunsch nur kurze Zeit bestanden haben. Denn es lag ihm auch fern, sich mit fremden Federn zu schmücken. Im Übrigen scheint er sich über die Motive und Verhaltensweisen seiner kleinen Schwester ganz und gar im Unklaren gewesen zu sein. Wenn später auf sie die Rede kam, ließ er durchblicken, dass er in ihrem Falle keine Verhaltensweise für ausgeschlossen hielt. War das der Grund, dass er Nachforschungen unterließ, oder ist ihm so etwas gar nicht in den Sinn gekommen? Und die damals noch lebenden Eltern von Friedchen, haben sie etwas unternommen? Nun die Mutter war bald nach dem Ende des Krieges gestorben, 1947 schon, da war sie gerade 66 Jahre alt. Der Tod der Tochter habe ihr den Rest gegeben, meinte mein Vater, krank und unterernährt war sie ohnehin. Ja, die Urne, die hatte man den Eltern per Nachnahme zugeschickt, im Frühjahr 1945 noch, jedenfalls ist mir eine solche Zeitangabe aus den entsprechenden Erzählungen im Gedächtnis haften geblieben. 25 RM Nachnahmegebühr musste für die Asche der Tochter bezahlt werden. Auf welchem Friedhof mag sie wohl liegen?

      Zu ihren Hinterlassenschaften gehört nur noch der eine Brief, den sie aus dem Konzentrationslager für Frauen, aus Ravensbrück, geschrieben hat. Mein Cousin hat ihn im Nachlass seiner Mutter gefunden, das war Lucie, die ältere Schwester unserer Tante. Auf mich ist dieses Zeugnis ganz zufällig gekommen, er erzählte mir davon. Als ich mein Interesse bekundete, war er froh, ihn nicht in den Mülleimer befördert zu haben. Er brachte ihn mir und deutete an, dass es noch einen weiteren Brief geben könne, von dem er aber nicht wisse, wo er abgeblieben sei, nachdem er den Haushalt seiner Eltern aufgelöst habe. Er versprach danach zu suchen, aber er fand ihn nicht mehr. Seit Herbst 1989 liegt dieser eine Brief bei mir, davor sah ich meinen Cousin nur ganz selten, uns trennte mehr als die Mauer, aber immerhin wohnen wir nur einen Kilometer Luftlinie voneinander entfernt, was wir beide heute gar nicht ungünstig finden.

      1990 erkundigte ich mich in der Gedenkstätte Ravensbrück nach der Absenderin des Briefes. Ohne Ergebnis! Ihr Name war beim damaligen Stand der Aufarbeitung in den Annalen des Lagers nicht zu finden. Jahre später las ich in einem Interview der Gedenkstättenleiterin Sigrid Jacobeit das erste Mal vom Jugendlager Uckermark, das es unweit des Frauenkonzentrationslagers gegeben hat und in dem die Nazibehörden Mädchen unterbrachten, die als asozial oder kriminell galten. Erst zu diesem Zeitpunkt sind die noch vorhandenen räumlichen Überreste dieses Lagers und die Schicksale der jugendlichen Insassen in den Blickwinkel einer an den Hinterlassenschaften


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