Verblassende Spuren. Ursula Reinhold
Читать онлайн книгу.gesucht habe, die im Berliner Landesarchiv aufbewahrt sind, erfahre ich, dass es ein Jahr, bevor man sie ins Lager schaffte, ein Verfahren gegen sie gegeben hat. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon nicht mehr darauf gehofft, Spuren ihrer Existenz zu finden. In der Familienüberlieferung war von einem solchen prozessualen Verfahren nie die Rede gewesen. Mein Vater hat darüber offenbar nichts gewusst, sonst hätte er sich dazu irgendwann einmal geäußert. Anders kann ich mir das einfach nicht vorstellen, es würde nicht zu ihm passen, dass er über so etwas wortlos hinwegging. Möglicherweise hat er davon nichts erfahren, weil die Eltern die Sache vor den übrigen Familienmitgliedern verborgen gehalten haben. Die Mutter wird das Gefühl gehabt haben, sich den älteren Kindern gegenüber rechtfertigen zu müssen, weil die ihr immer zum Vorwurf machten, dass sie die Jüngste, den Nachkömmling, so verwöhnte. Vielleicht war der Kontakt zu diesem Zeitpunkt auch so sporadisch, dass dem älteren Bruder nichts gesagt wurde oder es wurde ihm gesagt und er hat es später ganz und gar vergessen.
Unter den Archivalien existiert eine Karteikarte aus dem Frauenhaus Moabit, auf der festgehalten ist, dass Frieda Rangeus, aus dem Polizeipräsidium am Alexanderplatz kommend, am 23. April 1941 um 14 Uhr ins Frauenhaus des Untersuchungsgefängnisses in Moabit eingeliefert worden ist. Der Tatvorwurf gegen sie ist auf der kleinen Karte etwas kryptisch mit „Arbeitsuntr.“ angegeben, was ich als Arbeitsuntreue deute, eine sicherlich zulässige Vermutung, denn das war ein in Gesetzen und Erlassen formulierter Straftatbestand. In der Haftanstalt musste sie einen Monat lang bleiben, so ist es dem Eintrag auf der Karteikarte zu entnehmen. Am 26. Mai 1941 hat man sie wieder in die Wohnung der Eltern in Neukölln in der Altenbraker Straße 24 entlassen. Ob es sich bei dieser Inhaftierung um eine regelrechte Untersuchungshaft handelte oder um eine Maßnahme im Zusammenhang mit der bereits am 14. Dezember 1937 in einem Erlass verfügten „Polizeilichen Vorbeugehaft“, die im Rahmen sogenannter „Vorbeugender Verbrechensbekämpfung“ von der Abteilung V. des Reichssicherheitshauptamtes verfügt werden konnte, bleibt in der Schwebe. Zwar ist auf der Moabiter Karteikarte von U-Haft die Rede, dennoch ist wohl davon auszugehen, dass es sich um eine Polizeiliche Vorbeugehaft handelte, die in dem erwähnten Erlass auf vier Wochen festgesetzt war. Denn solange musste sie in Moabit bleiben.
Offensichtlich rechnete man sie unter die sechs, äußerst willkürlich festgelegten Personengruppen, für die der Erlass eine Polizeiliche Vorbeugehaft vorsah. Menschen, die diesen Personengruppen zugerechnet wurden, konnten jederzeit festgesetzt werden. Solche Verfügungen wurden im Rahmen der Bemühungen um die Erarbeitung eines Gesetzes zur Behandlung „Gemeinschaftsfremder“ erlassen, auf dessen Grundlage eine formaljuristische Begründung zur vollkommenen Verfügungsgewalt über soziale Randgruppen und unangepasste Lebensformen geschaffen wurde. Die sechs bezeichneten Personengruppen waren: I. „Planmäßig Überwachte“, II. „Berufsverbrecher“, III. „Gewohnheitsverbrecher“, IV. „Gemeinschaftsgefährliche“, V. „Asoziale“ und VI. „Vermutliche Rechtsbrecher“. Den Anlass für Friedchens Inhaftierung vermute ich in den Begründungen, die unter Punkt V. für Personen mit asozialem Verhalten in dem Erlass angeführt sind. Meine Tante wurde wahrscheinlich der zweiten, hier angeführten Personengruppe zugerechnet: Menschen, die sich der Pflicht zur Arbeit entzogen haben und als Arbeitsscheue, Arbeitsverweigerer, Arbeitsunlustige stigmatisiert wurden. Bei der ersten Gruppe geht es um „Personen, die durch geringfügige, aber sich immer wiederholende Gesetzesübertretungen sich der in einem nationalsozialistischen Staat selbstverständlichen Ordnung nicht einfügen“. Hierunter summierte der Erlass Bettler, Landstreicher, Dirnen, Trunksüchtige, Menschen mit ansteckenden Geschlechtskrankheiten, die sich den Maßnahmen der Gesundheitsbehörden entziehen. Zu dieser Personengruppe werden sie meine Tante nicht gezählt haben können, weil es in ihrem Lebenswandel dafür keine Anhaltspunkte gab, aber auszuschließen ist auch das nicht, denn das hervorstechende Merkmal aller dieser Unterteilungen und Zuordnungen war die völlige Willkür. Alle Festlegungen dienten dem Zweck, den unbedingten Zugriff des Staates auf Menschen zu begründen und mit einer scheinbaren Legitimation zu versehen.
Bereits 1938 hatte es auf der Grundlage eines Erlasses vom Dezember 1937 die Aktion „Arbeitsscheu Reich“ gegeben, in deren Folge viele unangepasste Menschen aus fürsorgerischer Obhut in polizeilichen Gewahrsam und von dort in geschlossene „Besserungsanstalten“ oder in Arbeitslager kamen. Solche Maßnahmen wurden mit jedem Kriegsjahr forcierter, weil es der nationalsozialistischen Staatsführung darum ging, für die Erfordernisse des eskalierenden Krieges die Verfügungsgewalt über das Arbeitskräftepotential zu erweitern. Menschen, die als Arbeitsscheue, Arbeitsbummelanten, Arbeitssaboteure stigmatisiert wurden, galten seit 1939, seit dem Beginn des Krieges, in der Öffentlichkeit als stille Agenten der Feindmächte. Mangelnde Arbeitsleistung wurde zum hochverräterischen Akt stilisiert und zur zivilen Desertion an der Heimatfront erklärt.
Eben zu dieser Zeit gab es auch die Bemühungen zur Fassung eines Gesetzes gegen sogenannte Gemeinschaftsfremde, durch das jede Form sozialer Unangepasstheit kriminalisiert werden sollte. Die Arbeit an diesem Vorhaben kam allerdings im Kompetenzgerangel zwischen Justizministerium, Kriminalpolizei und den Gestapo-Abteilungen des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) nicht zum Abschluss, vor allem aber war sie durch die bereits herrschende Praxis überholt und gegenstandslos geworden. Denn zwischen 1941/42 hatte die Gestapo immer mehr derartige Vorgänge an sich gezogen, die zunächst die Justizbehörden als ihr Feld betrachteten. Auf solchen Kompetenzentzug reagierten diese, indem sie dazu übergingen, mit Einweisungen in Arbeitslager der Gestapo zuvorzukommen, um die eigene Existenzberechtigung unter Beweis zu stellen. In der Zeit, als meine Tante in polizeilicher Vorbeugehaft saß, spielten sich solche Vorgänge hinter den Kulissen ab.
Aber davon hat meine Tante mit Sicherheit nichts geahnt. Sie wird erleichtert gewesen sein, als sie am 26. Mai, einem möglicherweise milden Frühlingstag, von Alt-Moabit kommend, wieder die Altenbraker Straße entlanglaufen konnte, auf die Wohnung der Eltern zu, die sich im Seitenflügel der Hauses Nummer 24 befand. Ob die auf ihr Kommen vorbereitet waren? Hatten sie von der Inhaftierung der Tochter Kenntnis? Wahrscheinlich wird sie nur die Mutter angetroffen haben, als sie am Vormittag ankam, denn üblicherweise erfolgen Entlassungen aus Krankenhäusern und Haftanstalten vormittags. Und zu dieser Tageszeit war der Vater auf seiner Arbeitsstelle in der Gasanstalt, aber die Mutter wird ihren Liebling freudig erregt in die Arme geschlossen haben, glücklich, dass die widerborstige Tochter wieder zu Hause war. Die junge Frau und auch die Mutter werden kaum geahnt haben, vor welchen Hintergründen Festnahme und Freilassung passiert waren, sie wird einfach erleichtert gewesen sein, wieder zu Hause zu sein. Das Amtsgerichtsverfahren wegen des Tatvorwurfs der Arbeitsverweigerung hat ihr sicherlich den Schreck in die Glieder fahren lassen.
Das entscheidende Verfahren lief unter dem Aktenzeichen 604 Ds 1065/41 vor dem Amtsgericht Berlin. Dieser Vermerk ist der Moabiter Karteikarte zu entnehmen, näheres ließ sich in den Hinterlassenschaften jener Jahre im Landesarchiv bisher nicht auffinden. Der Vorgang existiert in den Unterlagen nur noch als dieses Aktenzeichen, und es ist nicht mehr auszumachen, ob dieses Verfahren während der Vorbeugehaft oder erst später stattgefunden hat. Unbekannt bleibt auch, wie es ausging, welche Strafe sie bekam, welche Auflagen das Verfahren festlegte. Es kann durchaus sein, dass sie sich in den nächsten Tagen melden musste und in ein Arbeitslager gekommen ist. Das alles bleibt im Ungewissen. Dementsprechend ist auch schwer vorstellbar, wie sie sich der Mutter gegenüber geäußert hat, wie ihre Empfindungen und Gefühle waren, mit denen sie nach Hause zurückkehrte. Hat das gerichtliche Verfahren sie eingeschüchtert, nahm sie sich vor, zukünftig ihrer Arbeitspflicht gewissenhafter nachzukommen oder hat es ihren Trotz gestärkt, fasste sie den bewussten Entschluss, sich der Mobilmachung für den Krieg zu entziehen oder war sie einfach nur leichtsinnig, ahnungslos, von fahrlässiger Sorglosigkeit und Naivität gegenüber der weitreichenden Verfügungsmacht des Staates? Wahrscheinlich war es ein Gemisch aus alledem. Sicherlich blieb sie trotzig und widerständig in Bezug auf ihre eigenen Interessen, und wahrscheinlich hat sie die Gefahr, in der sie sich befand, unterschätzt, weil sie das Funktionieren der faschistischen Staatsmaschinerie nicht überblickte.
Innerhalb dieser auf den totalen Krieg ausgerichteten Maschinerie war auch das Moabiter Kriminalgericht um ein effektives Funktionieren seines Apparates bemüht. Darauf deutet ein Presseartikel vom 10. April 1942, der in fast allen Berliner Zeitungen publiziert wurde. Unter der Überschrift „Moabit vor und hinter den Schranken“ wird über die effiziente Umsetzung der Kriegsgesetzgebung berichtet.