Unwiederbringlich. Thomas Häring

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Unwiederbringlich - Thomas Häring


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erfreute die Passanten mit seiner Kraft, doch in der Vermeidung der Naturgewalten waren die Leute schon immer sehr gut gewesen. Riesige Regenschirme trugen sie über ihren Köpfen spazieren, sobald es zu tröpfeln begann und wenn sie eine Möglichkeit gesehen hätten, das Wetter zu beeinflussen oder gar abzuschaffen, dann hätten sie das sicherlich getan. „Nachhilfe für jedermann - günstig, gut und gelungen“, solche Sprüche konnte man in der Fußgängerzone lesen und wer sich davon angesprochen fühlte, kam mit Senta ins Gespräch, welche da mit einem fröhlichen Grinsen im Gesicht den Menschen entgegentrat, die sich für ihr Angebot in irgendeiner Art und Weise zu interessieren schienen. Sie selbst gehörte zu Weintolligy und da ihr Verein begriffen hatte, daß es die Kinder waren, um deren Gunst man sich am allermeisten bemühen mußte, um langfristig Erfolg zu haben, gab es solche Nachhilfeangebote im ganzen Land. Früher hatten die Sektenjünger versucht, die Erwachsenen von ihren obskuren Gedankengängen zu überzeugen, doch nachdem jenes Experiment mehr oder weniger grandios gescheitert war, hatte man die Strategie geändert und kümmerte sich seitdem verstärkt um den Nachwuchs der Ungläubigen. „Was wir machen, hat Hand und Fuß. Ihr Sohn wird nicht nur wesentlich bessere Schulnoten haben, sondern sich auch in seiner Persönlichkeit weiterentwickeln“, versprach Senta einem Mann, der an ihrem Stand Halt gemacht hatte, um sich über das Nachhilfeangebot zu informieren. „Das interessiert mich nicht. Der soll einfach nicht mehr durchfallen, sonst macht seine Mutter wieder Streß“, ließ er verlauten. „Das ist für uns überhaupt kein Problem, denn wir haben eine Methode entwickelt, mit deren Hilfe es gelingt, daß die Schüler den Lernstoff in ihrem Kopf behalten und jederzeit abrufen können.“ „Hören Sie mal, wenn Sie aus meinem Zappelphilipp einen Roboter oder Zombie machen wollen, dann finde ich das nicht so prickelnd.“ „Nein, das haben Sie ganz falsch verstanden, wir machen nur etwas gegen seinen Gehirndurchfall, damit er nicht mehr durchfällt.“ „Ach so, na gut, dann versuchen wir es halt mal. Einen Augenblick noch, was ist denn dieses andere Blatt hier, auf dem irgendetwas von Klirring und Gauditing steht? Also wenn Sie nicht deutsch reden können und wollen, dann lassen Sie es meinetwegen bleiben, aber belästigen Sie uns nicht mit Ihrer komischen Sprache! Der Starrazzia hat wirklich Recht, überall nur noch Ausländer!“ schimpfte der Mann und zog kopfschüttelnd von dannen. Senta schaute ihm überrascht nach und wurde gleich danach von einer älteren Frau angesprochen: „Also, ich war früher ja Lehrerin und die Kinder waren wirklich auch oft nicht die Hellsten und die Schnellsten, aber bei der Masse an Nachhilfeangeboten heutzutage hat man wirklich das Gefühl, wir hätten nur noch Vollidioten in unseren Schulen, sowohl vor als auch hinter dem Pult.“ Senta stutzte. Was wollte ihr die Frau damit sagen? War das eine Kritikerin, eine Sympathisantin oder einfach nur eine alte Schachtel, die Aufmerksamkeit wollte? Sollte sie mit der Frau ein Gespräch beginnen oder war das Energieverschwendung, da jene vielleicht eher eine Konkurrentin oder eine Gegnerin war? So viele Fragen, die Senta nicht beantworten konnte und die Verwirrung in ihren Gehirnwindungen nahm immer groteskere Formen an. Was würde Al Don Plappert dazu sagen? Manchmal hatte Senta das Gefühl, sie wäre in der Psychiatrie am besten aufgehoben, doch dann fiel ihr jedes Mal wieder ein, daß ihr großer Meister jene verabscheut hatte und abschaffen hatte wollen. Was für ein Dilemma! Sie war schon länger bei Weintolligy, aber mittlerweile glaubte sie nicht mehr alles, was man ihr dort erzählte. Klar, sie war noch lange nicht soweit, sich von der Glaubensgemeinschaft zu lösen, denn alle ihre sozialen Kontakte lebten dort, aber sie spürte, daß sie das, was sie suchte, nicht in der Weintolligy Church finden würde. Deshalb schloß sie ihre Augen, meditierte kurz und versuchte danach zu denken.

      Der Philosoph hatte wieder einmal die ganze Nacht durchgedacht und war zu der für ihn Bahn brechenden Erkenntnis gelangt, daß die Erde keine Scheide war. Geistige Höhenflüge gehörten zu seinem täglichen Geschäft, er liebte nicht das Leben und er lebte auch nicht das Lieben, doch wenn es darum ging, den Gedanken der Weisheit auf die Schliche zu kommen, dann war er ein Meister darin, Unverständliches in Allgemeinplätzen derart geschickt zu verpacken, daß die, mit denen er kommunizierte, das Gefühl hatten, sie verstünden was er meinte, obwohl er selber meistens überhaupt nicht wußte, was er da eigentlich laberte. Seine Vergangenheit hatte keine Zukunft mehr, früher war er mal Werkzeugmacher gewesen, doch irgendwie hatte ihn jene Tätigkeit nicht ausgefüllt, so daß er an der unvermeidbaren Sinnleere der Arbeit beinahe zugrunde gegangen wäre. Die Welt meinte es nicht gut mit Menschen seines Schlages, denn sie stellte ihn tagtäglich vor neue Rätsel und wenn er sich wieder einmal in das Schneckenhaus seines Elfenbeinturms zurückgezogen hatte, dann verlor er jede Bindung an die Synchronizität der Ereignisse. Grundsätzlich war der Philosoph relativ menschenscheu, lediglich seine polnische Putzfrau traf ihn zweimal pro Woche in seiner Wohnung an und wenn sie wieder einmal laut darüber schimpfte, daß er ein Messi sei, dann fühlte er sich einerseits sehr geschmeichelt, mit dem argentinischen Fußballstar verglichen zu werden, doch da er andererseits wußte, daß er im Sport immer ein Versager gewesen war, war ihm zugleich klar, daß sie damit wohl etwas Anderes meinte. In seinen jungen Jahren hatte der Mann für einiges Aufsehen und mächtig Wirbel gesorgt, als er seinerzeit die These aufgestellt hatte, die Menschheit müsse, um sich weiterzuentwickeln und als Gesamtheit zu wachsen, die Spreu vom Weizen trennen und das Unkraut radikal entfernen, damit die Leistung in der Gruppe nicht länger durch das schwächste Mitglied nach unten gezogen werden konnte. Damals hatte es einen großen Aufschrei gegeben, er war über Nacht berühmt geworden, doch das war nicht unbedingt eine angenehme Erfahrung gewesen, denn man unterstellte ihm nationalsozialistisches Gedankengut und hielt ihn für einen Menschenfeind. Dabei hatte er nur das zum Ausdruck gebracht, was eigentlich viele Leute dachten, vielleicht war genau das der Grund dafür gewesen, warum die Empörung gar so extrem war. Klar, in Deutschland gab es noch einige Tabuthemen, über die man nicht reden durfte. Wer zum Beispiel den Holocaust leugnete oder die Euthanasie ins Gespräch brachte, wurde sofort in die Zange genommen, beschimpft und ausgegrenzt. Dabei ging es oft nicht nur um die Lust an der Provokation als solcher, sondern auch um eine paradoxe Intervention mit dem Ziel, die Menschen im Land einfach nur zum Nachdenken zu bringen. Schließlich war es zum Beispiel völlig unsinnig, 90jährige Sterbenskranke mit Maschinen noch wochenlang am Leben zu erhalten, einem Leben, das fast nur noch aus Schmerzen und Dahinvegetieren bestand. Es ging dabei nicht nur um die enormen Kosten der ganzen Geschichte, sondern auch um die Frage nach dem tatsächlichen Sinn einer solchen Maßnahme. Ein Gärtner schnitt seine Bäume und Rosensträuche ja auch, damit sie sich besser entwickeln konnten, die Menschen dagegen ließen jeglichen Wildwuchs zu und regten sich dann darüber auf, daß es in ihren Städten vor Proleten und vermeintlich Asozialen nur so wimmelte. Aber das war doch alles selbst verursacht und verschuldet, daran bestand überhaupt keinen Zweifel; wenn man diese Wahrheit und banale Erkenntnis jedoch ans Tageslicht brachte, dann wurde man als Misanthrop bezeichnet und auf das Heftigste beschimpft. Wohin sollte das noch führen, wenn alle halbwegs sinnvollen Gedanken im Keim erstickt und zensiert wurden, nur damit alle in der Konsenssoße weiter schwimmen konnten, ohne darüber nachzudenken, in welcher Brühe sie sich da bewegten? Der Tag hatte sich auf den Weg gemacht, aber der Philosoph war noch in seiner Gedankenwelt versunken.

      „Würde es Sie stören, wenn ich mich zu Ihnen setze?“ „Kommt ganz darauf an, was Sie von mir wollen.“ „Ach, nur ein bißchen plaudern. Wie ich sehe, lesen Sie gerade ein Hochglanzmagazin. Interessieren Sie sich etwa für Prominente?“ „Oh ja und wie! Das Leben der Anderen finde ich ganz spannend. Wußten Sie zum Beispiel schon, daß die zu Guttenbergs ganz großartig sind und sich selber auch total toll finden?“ „Also damit hätte ich nun wirklich nicht gerechnet. Aber wenn es da drin steht, dann wird es schon stimmen.“ „Ganz bestimmt. Und die Frau von der Leine, die ist ja auch so ein Multitalent. Diese Adeligen sind wirklich große Klasse.“ „Wie schön! Dann freue ich mich ja schon darauf, bald wieder vom Adel regiert zu werden. Vielleicht wird dann ja wieder der Frondienst eingeführt und das ius primus noctis.“ „Reden Sie gefälligst Deutsch mit mir, wir sind doch hier nicht in Bayern! Ja und das Mädchen vom Maurice Mecker, das ist dem Vater ja wie aus dem Gesicht geschnitten.“ „In der Tat, das sehe ich genauso. Aber Schönheit liegt halt auch immer im Auge des Betrachters.“ „Die arme Marlene Kischer. Hoffentlich klappt das dann mit dem Kind beim nächsten Mal.“ „Entschuldigen Sie bitte, aber ich würde mich mit Ihnen gerne über wesentlich unwichtigere Dinge unterhalten.“ „Ach so. Schade. Worüber denn zum Beispiel?“ „Über den Sinn des Lebens.“ „Nein, mit mir nicht. Ich bin keine von diesen Tratschtanten, die immer nur über diesen Quatsch


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