Nur ein Tropfen Leben. Christina M. Kerpen

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Nur ein Tropfen Leben - Christina M. Kerpen


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Staaten das ganz Jahr über milde sein soll und hat ihren leichten Wagen von Wyoming aus, wo sie ihre Reise begonnen hat, immer der untergehenden Sonne nachgelenkt.

      Carols Aussehen hat sich ziemlich verändert. War sie noch vor wenigen Wochen eine knabenhaft schmale Jugendliche, die trotz ihrer Zierlichkeit harte Männerarbeit auf einer großen Ranch verrichtet hat, so ist sie zu einer jungen Frau mit durchaus weiblichen Rundungen geworden.

      Sie hat ihre Jeans, die sie auch mit aller Gewalt vor ein paar Tagen beim allerbesten Willen und noch so angestrengtem Baucheinziehen nicht mehr hat schließen können, gegen ein einfaches, graues Leinenkleid gewechselt, obwohl gerade dieses Kleidungsstück traurige Erinnerungen in ihr wach hält und eigentlich auch schon nicht mehr richtig passt, obwohl sie bereits die Knöpfe an den äußersten Rand des Vorderteils versetzt hat.

      Unter dem Leibchen, welches sie anstelle eines Korsetts trägt, hat sie ein fleckiges Taschentuch verborgen, welches sie eigentlich längst hatte vernichten wollen, so wie sie krampfhaft versuchen wollte, alle Erinnerungen an ein früheres Leben zu verbannen.

      Doch so wenig sie es über ihr Herz gebracht hat, das Taschentuch fortzuwerfen oder zu verbrennen, so wenig gelingt es ihr, die Erinnerungen aus dem Kopf zu verjagen, denn tief in ihrem Innersten wünscht sich die junge Frau, dass gerade mit dem Tuch das Gefühl einer großen Liebe wachgehalten werden kann, die sie selbst zerstört hat und immer wenn sie es in der Hand hält, denkt sie daran, dass dieser Fetzen Stoff sie daran gemahnen sollte, sich nie wieder mit einem Mann einzulassen oder sich diesem gar hinzugeben.

      Ab und zu, wenn sich die Frau, die eigentlich selbst noch gar nicht richtig erwachsen ist, sehr schlecht oder einsam fühlt, holt sie das Tuch heraus und verbirgt ihr Gesicht darin, nur um zu spüren, wie grausam die Strafe ist, die sie sich für ihr schändliches Tun selbst auferlegt hat.

      In den Nächten liegt sie oft wach und denkt an die wundervolle Zeit, die sie auf der Willow-Tree-Ranch in Wyoming hat verbringen dürfen. Bei den Menschen dort hatte sie, die elternlose Waise, ein neues Zuhause gefunden, dort hat ihr Bruder, ihr einziger Verwandter, seinen Job und dort war ihr auch ihre große Liebe begegnet.

      Immer wieder sieht sie den Mann vor sich und sehnt sich unaussprechlich nach ihm, gleichzeitig hofft sie inständig, dass es ihm gut geht und ihm nicht wegen ihr gekündigt worden ist, denn eine Liaison unter Angestellten findet selten Gnade vor den Augen der Rancher und damit den Arbeitgebern.

      Und wenn diese Liebelei auch noch Folgen hatte…, unwillig verscheucht die junge Frau diese elenden Gedanken.

      Das Mädchen, welches eigentlich von kleiner Statur und sehr zierlicher Gestalt ist, ist mittlerweile alles in allem ein wenig fülliger, weiblicher geworden, aber ihr zartes Gesichtchen hat nach wie vor kindliche Züge, auch wenn es ständig bleich ist und sie immer dunkle Schatten unter den tiefliegenden, traurigen Augen hat.

      Mittlerweile ist es deutlich zu erkennen, dass sie weit im fünften Monat schwanger ist und sie selber merkt es immer dann an sich, wenn ihre Finger und Füße anschwellen. Wenn sie in diesen Momenten das Elend überkommen will, horcht sie in sich hinein und spürt die zaghaften Bewegungen des Babys und staunt darüber, wie sich sofort ein merkwürdiges, ganz sachtes Glücksgefühl in ihr trauriges Herz einschleicht und den Kummer zu überlagern imstande ist.

      In jedem Ort, den sie durchfährt oder in dem Station macht, wird die junge Frau neugierig nach ihrem Mann gefragt und immer wieder beantwortet sie die Frage tieftraurig: „Mein Mann ist tot, bitte quälen Sie mich nicht mit Fragen um Einzelheiten.“

      Bedauernde Blicke folgen nach dieser Erklärung jedes Mal der werdenden Mutter, die noch so jung aussieht, als wäre sie selber noch ein Kind, schmal und untergewichtig, mit zartgliedrigen Händen, denen man aber sehr viel schwere und harte Arbeit ansehen kann. Zur, wie sie meint, perfekten Täuschung aller wohlmeinenden Mitmenschen trägt Carol den Ehering ihrer Mutter und so nimmt ihr schließlich auch jeder Skeptiker die Geschichte vom verstorbenen Ehemann ab.

      Jedes Mal, wenn sie ihre Lügengeschichte erneut hervorgebracht hat, fragt sich das Girl, wie ihre Mutter wohl in einer solchen Situation gehandelt hätte.

      Carol weiß es genau.

      Abgesehen davon, dass Mummy niemals in eine solche prekäre Situation geraten wäre, sie wäre bestimmt nicht so feige fortgelaufen. Keinesfalls hätte sie so impulsiv und falsch gehandelt, auch wenn sie selber ihr Leben anders gestaltet hat, als ihre Eltern es sich für die wohlbehütete Tochter erhofft hatten. Die hochmusikalische Tochter einer deutschen Musikerfamilie hatte, statt eine große Karriere als Pianistin einzuschlagen, bei einem Konzert in England einen jungen Mann kennen gelernt, sich bis über beide Ohren in ihn verliebt, ihn schon nach wenigen Tagen geheiratet und war ihm dann in die Staaten gefolgt.

      Aber eben ehrbar, wie es sich für eine anständige Frau gehört, erst die Hochzeit, dann das andere.

      Carol hingegen hat den sturen Hitzkopf des Vaters geerbt und handelt impulsiv aus dem jeweiligen Gefühl heraus und das ist nicht immer unbedingt richtig. Insbesondere in der Liebe nicht. Als anständiges Mädchen hätte sie bis nach der Hochzeit warten müssen, bevor sie sich ihrem Geliebten körperlich hingibt, doch sie hatte nicht auf die warnenden Stimmen in ihrem Hinterkopf gehört und die Strafe folgte sofort und wird ihr in wenigen Monaten auf zwei wackligen Beinchen überall hin folgen.

      Ihre Reise bringt die junge Frau Hunderte von Meilen weg von Ebony Town und der Willow-Tree-Ranch und ihren beiden Vergangenheiten. Schon einmal war sie mutterseelenallein durch die Vereinigten Staaten geritten.

      Nach dem Tod der Eltern hatte sie sich auf die Suche nach ihrem älteren Bruder gemacht, der die elterliche Ranch im Streit verlassen hatte, als Carol noch fast ein Baby gewesen ist. Zwei Jahre war sie auf sich alleine gestellt und um diese Zeit ranken sich für die Menschen in der Kleinstadt in deren Nähe die Willow-Tree-Ranch liegt, ständig alle nur möglichen Vermutungen.

      Lächelnd lässt Carol die hinter vorgehaltener Hand und ihr doch immer wieder zu Ohren gekommenen Geschichten Revue passieren und denkt manchmal, dass die guten, anständigen Bewohner von Ebony-Town gar nicht so falsch gelegen haben, weder was ihre Liederlichkeit noch ihre kriminelle Energie anbelangt. Nur dass dies nicht ihre Vergangenheit sondern eher die gegenwärtige Lage beschreibt. Sie ist unverheiratet schwanger und sie belügt alle Menschen nach Strich und Faden

      Und in noch etwas unterscheidet sich diese Reise sehr von der ersten, denn Carol trifft es unterwegs fast immer gut an und stellt verwundert fest, dass sie nicht mehr wie eine junge Straftäterin auf der Flucht behandelt wird, sondern fast überall wie eine Dame.

      ‚Welch eine Ironie’, denkt sie manchmal traurig, ‚damals war ich im Prinzip nicht auf der Flucht, sondern nur auf der Suche nach einem Platz zum Bleiben, wurde aber wie eine Kriminelle behandelt. Heute bin ich tatsächlich auf der Flucht und werde von allen hofiert. Ha, wenn die Leute wüssten, dass ich gar keinen Vater für mein Kind habe, dass ich es mir nur in meiner grenzenlosen Dummheit eingefangen habe, na, die würden mich bestimmt ganz anders behandeln.’

      Hatte das junge Mädchen noch bei seiner Abreise befürchtet, nicht lange mit seinem ersparten Geld hinzukommen und sich den Kopf nach einer Erwerbsquelle zerbrochen, so stellt sie schnell fest, dass es selten nötig ist, den Geldbeutel aufzumachen, denn schon in den ersten Ortschaften, in denen sie Station gemacht hatte, war ihr aufgefallen, dass die Bewohner der kleinen Ansiedlungen nur wenig Abwechslung haben und dass es für sie ein willkommener Genuss ist, wenn jemand ein Klavier malträtiert. Und wenn er dazu auch noch singt, sind sie hin und weg und ihre Spendierbereitschaft kennt kaum noch Grenzen.

      Carol benötigt nur zwei Abende, um ihre anfängliche Scheu, Geld für ihre Darbietungen zu nehmen, abzulegen und die Aufmerksamkeiten, die ihr zu Teil werden, zu genießen.

      Schnell verlegt sie sich darauf, abends in den Hotels in denen sie unterkommt oder auch mal in einem Saloon ihre Künste darzubieten und bald ist es so, dass sie sogar einige Dollar mehr bekommt, als sie unterwegs ausgeben muss und statt Geld aus ihren Beständen zu nehmen, fügt sie fast täglich welches hinzu. Plötzlich erscheinen ihr ihre Aussichten gar nicht mehr so trübe, sondern wirken wie in ein rosiges Licht getaucht.

      In einem kleinen Nest


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