Der Lebensweg - ein Werk von Leo Tolstoi. Franz Gnacy

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Der Lebensweg - ein Werk von Leo Tolstoi - Franz Gnacy


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nicht ein Mal die Asche der Gebeine übrig geblieben ist; dass nach uns Millionen und Abermillionen ebensolcher Menschen leben werden; dass aus unserm Staube Gras wächst, das die Schafe fressen, die selbst wieder von Menschen verzehrt werden, während von uns aber kein Stäubchen, keine Spur übrig bleibt – wird dann nicht klar, dass wir nichts sind.

      Alles recht und gut – aber Nichts kann sich nicht begreifen und auch nicht seinen Platz in der Welt. Wenn es das dennoch tut, so ist dieses Begreifen nicht Nichts, sondern das Allerwichtigste in der ganzen unendlichen Welt, weil ohne dieses Begreifen weder in mir noch in anderen mir ähnlichen Wesen etwas von alledem wäre, was ich als diese unendliche Welt bezeichne.

       Seele und Körper im Menschen

      Wer bist du? „Ein Mensch!“ Was für ein Mensch? Wodurch unterscheidest du dich von anderen? „Ich bin Sohn, Tochter, der und der Eltern; bin alt, jung, reich, arm.“

      Jeder von uns ist als Mann, Weib, Greis, Knabe, Mädchen von allen anderen Menschen verschieden; und dabei lebt in jedem von uns, in uns allen ein und dasselbe geistige Wesen, so dass jeder von uns Sohn oder Tochter, Greis oder Knabe, und außerdem ein und dasselbe geistige Wesen ist. Wenn wir sagen: Ich will, so heißt das bisweilen, dass jener Sohn, oder jene Tochter, Karl oder Marie, will; bisweilen aber jenes geistige Wesen, das in allen dasselbe ist. So kommt es vor, dass Karl oder Marie dieses, das geistige Wesen in ihnen aber etwas ganz anderes will.

      Es klopft jemand an der Tür. Ich frage: wer ist da? Antwort: „Ich!“ – Wer: „Ich!“ – „Ich bin es“, erwidert der Betreffende erstaunt. Es ist ein Bauerjunge. Er wundert sich darüber, dass man fragen kann, wer dieses „Ich“ ist? Wundert sich, weil er das eine geistige Wesen in sich fühlt, das in allen dasselbe. Wundert sich, dass man nach etwas fragen kann, was jedem bekannt sein muss. Er spricht von dem geistigen Ich, ich dagegen frage nach dem Fensterchen, durch welches dieses Ich hindurchschaut.

      Behaupten, dass das, was wir unser Ich nennen, nur Körper sei; dass auch unser Verstand, unsere Seele, unsere Liebe – dass alles das nur vom Körper herrühre – ist gerade so, wie die Behauptung: unser Körper sei nur die Speise, von der der Körper sich nährt. Gewiss ist mein Körper Speise, die der Körper verarbeitet; ohne Speise gäbe es keinen Körper; aber trotzdem ist mein Körper nicht die Speise. Speise ist das zum Leben des Körpers Erforderliche, nicht aber der Körper selbst.

      Genau so ist es mit der Seele. Ohne meinen Körper würde das, was ich Seele nenne, nicht existieren; trotzdem ist meine Seele nicht der Körper. Der Körper ist für die Seele notwendig, ist aber nicht sie selbst. Gäbe es keine Seele, so würde ich auch nicht wissen, was mein Körper ist.

      Der Grund alles Lebens liegt nicht im Körper, sondern in der Seele.

      Wenn wir sagen: dieses war, das wird sein, oder kann sein – so sagen wir das nur vom körperlichen Leben. Außer diesem körperlichen Leben, das war und sein wird, kennen wir in uns noch ein anderes Leben: das geistige. Dieses geistige Leben war nicht und wird nicht sein sondern ist jetzt. Dieses Leben ist das wirkliche. Wohl dem Menschen, der dieses geistige und nicht das körperliche Leben lebt.

      Christus lehrt die Menschen, dass in ihnen etwas ist, was sie über dieses Leben mit seinem Jagen, seiner Angst und Lust emporhebt. Wer die Lehre Christi begreift, hat dasselbe Gefühl, wie ein Vogel, der bis dahin nicht wusste, dass er Flügel besitzt und nun plötzlich begreift, dass er fliegen und frei sein kann und nichts zu fürchten braucht.

       Das Gewissen ist die Stimme der Seele

      In jedem Menschen leben zwei Wesen: ein blindes körperliches, und ein sehendes, geistiges. Das erste, blinde, isst, trinkt, arbeitet, ruht sich aus, pflanz sich fort usw. alles wie eine aufgezogene Uhr. Das andere, sehende, geistige Wesen tut selbst nichts, sondern billigt oder missbilligt nur, was das blinde, animalische Wesen tut.

      Den sehenden, geistigen Teil eines Menschen nennt man Gewissen. Dieser geistige Teil, das Gewissen, funktioniert genau wie die Magnetnadel in einem Kompass. Die Nadel rückt nur dann von der Stelle, wenn der Träger des Kompasses von dem Wege abweicht, den die Nadel angibt. Dasselbe ist mit dem Gewissen der Fall: es schwiegt solange der Mensch seine Pflicht tut. Sobald man aber vom richtigen Wege abweicht, zeigt das Gewissen an, wie weit und wohin man abgeirrt ist.

      Wenn wir hören, dass jemand etwas Schlechtes begangen hat, sagen wir: er hat kein Gewissen.

      Was ist denn das Gewissen? Die Stimme des einen geistigen Wesens, das in allen Menschen lebt.

      Das Gewissen ist das Bewusstsein des geistigen Wesens, das in allen Menschen lebt. Nur wenn es dieses Bewusstsein ist, ist es ein richtiger Führer auf dem Lebenswege. Es kommt aber oft vor, dass Menschen für das Gewissen nicht das Bewusstsein dieses geistigen Wesens halten, sondern dasjenige, was von ihren Mitmenschen für gut oder schlecht gehalten wird.

      Die Stimme der Leidenschaften kann lauter sein, als die des Gewissens; sie ist aber ganz anders, als die ruhige, hartnäckige Stimme, mit der das Gewissen zu uns spricht. Wie laut die Leidenschaften auch schreien vor der leisen, ruhigen, hartnäckigen Stimme des Gewissens werden sie dennoch zaghaft. Aus dieser Stimme spricht das Ewige, Göttliche, das im Menschen lebt.

      Kant sagt: zwei Dinge setzen ihn am meisten in Erstaunen: der gestirnte Himmel über ihm und die Stimme des Gewissens in der Seele des Menschen.

      Das wahre Gute liegt in dir, in deiner Seele. Wer das Gute nicht in sich sucht, handelt wie der Hirt, der das Lamm in der Herde sucht, das er am Busen trägt.

       Das Göttliche der Seele

      Zunächst erwacht im Menschen das Bewusstsein seiner Getrenntheit von allen übrigen Dingen, das heißt: seines Körpers. Dann das Bewusstsein dessen, was getrennt ist, d.h. seiner Seele; hierauf das Bewusstsein dessen, wovon diese geistige Grundlage des Lebens getrennt ist. Das ist das Bewusstsein des All: Gott.

      Eben dieses Etwas, das seine Trennung vom All, von Gott erkannt hat, ist das eine geistige Wesen, das in allen Menschen lebt.

      Sich als ein getrenntes Wesen erkennen, heißt die Existenz dessen erkennen, wovon man getrennt ist: die Existenz des All: Gottes.

      „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: wer mein Wort höret und glaubet dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurch gedrungen. Wahrlich, wahrlich ich sage euch: es kommt die Stunde, und sie ist schon da, dass die Toten werden die Stimme des Sohnes Gottes hören, und die sie hören werden, die werden leben. Denn wie der Vater das Leben hat in ihm selber, also hat er dem Sohn gegeben, das Leben zu haben in ihm selber.“

      Der Tropfen, der ins Meer fällt, wird zum Meer. Die Seele, die sich mit Gott vereinigt, wird Gott.

      Wenn jemand eine Wahrheit ausspricht, heißt das nicht, dass sie von ihm ausgegangen ist. Jede Wahrheit rührt von Gott her. Sie geht nur durch den Menschen durch. Wenn sie durch diesen und nicht durch einen anderen hindurchgeht, so rührt das nur daher, dass der betreffende es verstanden hat, sich so durchlässig zu machen, dass die Wahrheit durch ihn hindurch gehen konnte.

      Gott sagt: Ich war ein Schatz, den niemand kannte. Und wünschte bekannt zu werden. Da schuf ich den Menschen.

      Gott kann man nicht mit dem Verstande begreifen. Wir wissen nur deswegen, dass Er ist, weil wir Ihn nicht mit dem Verstande, sondern dadurch begreifen, dass wir Ihn in uns erkennen.

      Um wirklich Mensch zu sein, muss man Gott in sich erkennen.

      Die Frage, ob es einen Gott gibt, ist genau so, wie die: ob ich bin? Das, wodurch ich lebe, ist ja gerade Gott.

      Der Körper ist die Speise der Seele, das Holz, aus dem das wahre Leben gebaut wird.

      Die größte Freude, die jemand erfahren kann, besteht darin, dass man das freie, vernünftige, liebende und deswegen glückliche Wesen in sich – dass man Gott in sich erkennt.

      Wenn jemand sich selbst nicht kennt, kann man ihm nicht


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