Der Lebensweg - ein Werk von Leo Tolstoi. Franz Gnacy

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Der Lebensweg - ein Werk von Leo Tolstoi - Franz Gnacy


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      Es ist gut, sich beim Zusammentreffen mit jedem Menschen, mag er noch so unangenehm und widerwärtig erscheinen, vorzuhalten, dass nur durch ihn ein Verkehr mit dem geistigen Wesen ermöglicht wird, das in ihm, in uns und in der ganzen Welt lebt; deswegen muss man sich durch den Verkehr nicht bedrückt fühlen, sondern dankbar sein, dass man dieses Glück genießt.

      Ein von seinem Ast abgeschnittener Zweig wird dadurch vom ganzen Baum getrennt. So wird auch der Mensch durch Zwist mit einem anderen von der ganzen Menschheit getrennt. Der Zweig aber wird von fremder Hand abgeschnitten, während der Mensch in seinem Hass sich selbst vom Nächsten losreißt und nicht bedenkt, dass er dadurch der ganzen Menschheit entfremdet wird.

      Es gibt kein schlechtes Werk, für das nur der bestraft wird, der es verübt hat. Wir können uns nicht so abschließen, dass das Böse, das in uns ist, nicht auf andere Menschen übergeht. Unsere Werke, gute wie böse, leben und wirken wie unsere Kinder nicht nach unserem Willen, sondern für sich.

      Das Leben ist nur deswegen schwer, weil die Menschen nicht wissen, dass die in jedem von ihnen lebende Seele in allen Menschen lebendig ist. Daher rührt die Feindschaft der Menschen; daher sind die einen reich, die anderen arm, die einen Herren, die anderen Arbeiter; daher rühren Neid und Bosheit, daher alle menschlichen Leiden.

      Der Körper des Menschen wünscht nur sich Gutes und die Menschen unterliegen diesem Trug. Sobald aber jemand nur seinem Körper lebt und nicht der Seele, so kommt er mit Gott und Menschen auseinander und erhält nicht das Gut, das er sucht.

      Die Liebe

       Durch den Körper von Gott und den Seelen anderer Wesen getrennt, strebt die Menschenseele nach Vereinigung mit ihnen. Die Seele vereint sich mit Gott durch stets zunehmende Erkenntnis Gottes in sich, und mit den Seelen anderer Wesen durch stets zunehmende Offenbarung der Liebe.

       Die Liebe vereint die Menschen mit Gott, wie auch mit anderen Wesen

      Jesus sprach zu ihm (dem Schriftgelehrten): „Du sollst Gott deinem Herrn dienen von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Das ist das erste und größte Gebot.“ –

      „Das zweite aber ist dem gleich: du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst –“ sagte der Schriftgelehrte zu Christus. Darauf sagte Jesus: „Du hast recht geantwortet, handle so: liebe Gott und denen Nächsten, so wirst du leben.“

      Unglücklich seid ihr; Kinder der Welt! Kummer und Unruhe lauern zu euren Häuptern und Füßen, rechts und links; und ihr selbst seid euch ein Rätsel. Solches Rätsel bleibt ihr immer, wenn ihr nicht froh und lieb werdet, wie Kinder. Nur dann erkennt ihr Mich – und wenn ihr Mich erkannt habt, erkenn ihr euch, und nur dann werdet ihr euch beherrschen.

      Und nur dann, wenn ihr durch eure Seele auf die Welt blickt, wird euch alles Glück in der Welt und in euch selbst zuteil.

      Lieben kann man nur die Vollkommenheit. Deshalb ist, um zu lieben, eins von beiden nötig: entweder muss man für Vollkommenheit halten, was unvollkommen ist, oder die Vollkommenheit lieben, das heißt Gott. Wenn man für vollkommen hält, was unvollkommen ist, stellt sich dieser Fehler früher oder später als solcher heraus und die Liebe nimmt ein Ende. Die Liebe zu Gott aber, das heißt zur Vollkommenheit, kann nicht enden.

      „Gott ist die Liebe; wer in der Liebe ist, ist in Gott und Gott in ihm. Niemand hat Gott jemals gesehen; wenn wir uns aber gegenseitig lieben, ist Er in uns und Seine Liebe ist völlig in uns. Wenn jemand sagt: ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder – so ist er ein Lügner; denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann der Gott lieben, Den er nicht sieht? Brüder, lasst uns einander lieben; die Liebe kommt von Gott, und jeder, der liebt, ist von Gott und kennt Gott, weil Gott die Liebe ist.“

      Wirklich vereinigen können sich die Menschen nur in Gott. Um sich zu vereinigen, brauchen sie sich nicht entgegenzukommen, sondern müssen nur alle zu Gott gehen.

      Wenn es einen riesigen Tempel gäbe, in den das Licht von oben nur in die Mitte fiele, so müssten die Menschen, um sich in diesem Tempel zu vereinigen, alle nur in das Licht in der Mitte gehen. Dasselbe ist mit der Welt der Fall. Wenn alle Menschen zu Gott gehen, werden alle vereinigt.

      „Brüder, lasst uns einander lieben. Die Liebe kommt von Gott; wer liebt, ist von Gott geboren und kennt Gott. Wer nicht liebt, kennt Gott nicht, weil Gott die Liebe ist“ – sagte der Apostel Johannes.

      Alle Menschen lieben, scheint schwer. Jedes Werk erscheint aber nur solange schwer, bis man es gelernt hat. Die Menschen lernen alles: nähen, weben, pflügen, mähen, schmieden, lesen, schreiben. So muss man auch lernen, alle Menschen zu lieben.

      Das zu lernen, ist nicht schwer, weil die Liebe zu anderen jedem von uns in die Seele gepflanzt ist.

      „Niemand hat Gott jemals gesehen; wenn wir uns aber gegenseitig lieben, ist Er in uns.“

      Wenn aber Gott die Liebe und in uns ist, ist es nicht schwer, die Liebe zu lernen. Man muss sich nur bemühen, von dem loszukommen, was der Liebe im Wege ist, sich von dem befreien, was sie nicht nach außen lässt. Damit beginn – so wirst du bald die wichtigste und notwendigste Wissenschaft: Liebe zu den Menschen lernen.

      Es gibt nichts Froheres, als wenn wir wissen, dass die Menschen uns lieben. Aber wunderbar: damit die Menschen uns lieben, brauchen wir ihnen nicht gefällig zu sein, sondern müssen uns nur Gott nähern. Nähere dich Gott und denk nicht an die Menschen, so werden dich alle Menschen lieben.

      Bittet Gott nicht darum, er möge euch vereinigen. Er hat euch schon vereinigt, indem er euch allen ein und denselben -: Seinen Geist einpflanzte. Befreit euch nur von dem, was euch trennt, so werdet ihr vereinigt.

      Es scheint dem Menschen, dass er nur sich Glück wünscht. Aber das scheint nur so: in Wirklichkeit wünscht der Gott, der im Menschen lebt, sich Heil. Gott wünscht allen Menschen Heil.

      Wer sagt, er liebe Gott, seinen Nächsten aber nicht liebt, der betrügt die Menschen. Wer aber sagt, er liebe seinen Nächsten, dabei aber Gott nicht liebt, der betrügt sich selbst.

      Es heißt, man müsse Gott fürchten. Das ist nicht wahr. Man muss Gott lieben, aber nicht fürchten. Man kann nicht den lieben, den man fürchtet. Außerdem kann man Gott deswegen nicht fürchten, weil Gott die Liebe ist. Wie kann man sich vor der Liebe fürchten? Nicht fürchten muss man Gott, sondern ihn in sich erkennen. Wenn man Gott in sich erkennt, braucht man nichts in der Welt zu fürchten.

      Es heißt, am letzten Tage würde das Jüngste Gericht stattfinden und der gute Gott würde zürnen. Von einem guten Gott kann aber nichts anders kommen, als Gutes.

      Wie viele Religionen es auch in der Welt gibt, der wahre Glaube ist nur einer: dass Gott die Liebe ist. Von der Liebe kann aber nur Gutes kommen.

      Fürchte dich nicht: Im Leben und nach dem Leben kann und wird nichts anderes sein, als Gutes.

      Gottgemäß leben, heißt Gott ähnlich sein. Um Gott aber ähnlich zu sein, darf man nichts fürchten und sich nichts wünschen. Um aber nichts zu fürchten und sich nichts zu wünschen, muss man nur lieben.

      Die einen sagen: geh in dich, dort findest du Ruhe. – Das ist noch nicht die ganze Wahrheit.

      Die anderen sagen im Gegenteil: geh aus dir heraus; bemüh dich, zu vergessen und das Glück in Vergnügungen zu finden. – Das ist auch nicht wahr. Ist schon deswegen nicht wahr, weil Vergnügungen uns nicht von Krankheit befreien. Ruhe und Glück liegen nicht in uns und nicht außer uns, sondern in Gott. Gott ist aber in und außer uns.

      Liebe Gott, in Ihm findest du, was du suchst.

       Wie der menschliche Körper Speise verlangt und ohne sie leidet, so verlangt die Seele Liebe und leidet ohne sie

      Alle Dinge streben zur Erde und zu einander. Ebenso streben alle Seelen zu Gott und einander.

      Alle


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