Sieben Leben. Stefan Kuntze
Читать онлайн книгу.„Na, ihr Beiden, habt ihr noch Schnee gefunden?“
Sein sonst so gepflegter Schnauzbart wirkte etwas zerzaust und lange Haarsträhnen hingen in sein Gesicht.
„Onkel Karl, das ist ja schön, dass du uns besuchst!“
Waldemar Kuntze, der noch die grauschwarze Eisenbahnerkluft trug, kratzte sich die hohe Stirn, die unter den beiden Geheimratsecken strenge Falten zeigte.
„Jetzt hört bitte zu! Euer Onkel wird ein paar Wochen bei uns wohnen.“
Karl strahlte über das ganze Gesicht, das ähnlich dem seines Vaters breit und rechteckig geformt war.
„Au fein, dann kannst du mit uns Schlittschuh laufen gehen.“
Waldemar griff nach der auf dem Tisch platzierten Schnapsflasche und füllte die bereits benützten Gläschen.
„Draus wird nichts! Niemand darf wissen, dass Onkel Karl bei uns lebt. Ihr seid schon große Jungens und ich bin mir sicher, dass ihr ein Geheimnis für euch behalten könnt.“
Elsbeth, die inzwischen das Zimmer betreten hatte, blickte missbilligend auf die Flasche.
„Mein Bruder muss sich hier vor bösen Menschen verstecken.“
„Aber warum? Was wollen die bösen Menschen von ihm?“
Karl Schröder leerte das Glas in einem Zug.
„Das ist nichts für kleine Jungens. Ihr versprecht mir auf die Hand, dass ihr niemandem erzählt, dass ich hier bin. Ist das klar?“
Er streckte seine rechte Hand aus. Karl schlug mit seiner darauf.
„Klar, Onkel, aber was ist mit dem Schlittschuh laufen?“
„Daraus wird diesmal nichts.“
Enttäuscht gingen die beiden Knaben am Abend ins Bett.
„Das ist richtig gemein von den Erwachsenen, dass sie uns nichts sagen. Wir würden bestimmt nichts verraten.“
Karl beschloss, in der nächsten Zeit seinen Onkel so lange zu löchern, bis er irgendetwas von dem offenbar schrecklichen Geheimnis herausrückte. Nach acht Tagen hatte er einen kleinen Erfolg. Er kam von der Klavierstunde nach Hause und traf seinen Onkel, der beim Geräteschuppen stand und versuchte, eine Pfeife anzuzünden.
„Wovor musst du dich verstecken? Ich werde niemandem etwas sagen. Großes Indianerehrenwort!“
Karl Schröder lächelte und entzündete ein neues Streichholz. „Ach, Karlchen, das ist eine sehr komplizierte Sache.“
„Ich bin kein Baby mehr und ich weiß auch schon viele Sachen.“
Eine dicke Rauchwolke quoll aus dem Pfeifenkopf.
„Du bist ein kluges Kerlchen. Also, hör zu, es ist so: Die wollen mich totschießen.“
Karl erschauerte und erinnerte sich an die Kampfgeschichten, die er in dem dicken Indianerbuch, dem ‚Lederstrumpf‘, gelesen hatte.“
„Wer will dich umbringen?“
„Böse Soldaten, die Arbeiter und ihre Freunde töten.“
„Aber warum denn?“
„Mein lieber Junge, wir haben die Revolution begonnen in Berlin.“
„Die Revolution? Was ist das denn?“
„Weißt du, meine Freunde und ich, wir hatten im Dezember das Deutsche Reich fast gewonnen, aber dann haben die Sozialdemokraten alles kaputt gemacht und Wahlen angesetzt. Die haben nichts begriffen! Im Januar mussten wir deshalb kämpfen und dann hat die SPD doch tatsächlich böse Freikorpssoldaten auf uns Spartakisten losgelassen.“
„Was sagst du, Sozialdemokraten, Spartakisten, Freikorpssoldaten? Das verstehe ich nicht.“
„Wie bitte? Entschuldige, Karlchen, das musst du auch nicht. Vergiss das alles und erzähle bitte niemandem etwas, auch nicht deinen Eltern.“
„Versprochen.“ Verwirrt sah Karl den Rauchkringeln nach, die sich aus dem Mund des Onkels in die kalte Januarluft kräuselten. Sie gingen miteinander ins Haus.
Karl Schröder hatte bei den Januaraufständen in Berlin-Lichtenberg gekämpft, was er Jahre später in seinem Roman ‚Die Geschichte Jan Beeks‘ literarisch verarbeitete. Bevor er am Tempelhofer Feld mit anderen Genossen zu Tode gekommen wäre, hatte er Berlin verlassen. Die Häscher der Brigade Berlin und vor allem die Schlächter aus den Freikorps unter Gustav Noske waren hinter allen her, die an den Aufständen teilgenommen hatten. Über 150 Revolutionäre kamen in diesen Januartagen zu Tode. Schlimmer noch waren die Gewaltexzesse nach der Besetzung Berlins durch die Freikorpssoldaten.
Der Lärm der Novemberrevolution war bis nach Hinterpommern gedrungen und man hatte von den Januarereignissen und dem Spartakusaufstand in Berlin gehört. Waldemar Kuntze, der schon vor einiger Zeit in die SPD eingetreten war, war nicht erfreut über diesen Gast, aber bei aller politischen Differenz blieb die familiäre Solidarität heilig.
Also durfte der Revolutionär bleiben. Vielleicht spürte Waldemar ein schlechtes Gewissen, weil die Einheit der Arbeiterklasse schon bei einer ersten Bewährungsprobe in Blut und Tränen zerstoben war. Friedrich Ebert, der sozialdemokratische Führer einer Räteregierung, des Rates der Volksbeauftragten, hatte die nicht in die staatliche Organisation einbezogenen Freikorpssoldaten auf die Aufständischen in Berlin marschieren lassen und damit die Revolution und den Aufbau des Sozialismus, den so viele erträumten, verhindert. Mit ihren aus dem Krieg mitgeführten schweren Waffen hatten die Freikorps leichtes Spiel mit den Angehörigen der am 1. Januar gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands, die die Macht in den Betrieben und damit auch im Staat erobern wollten. Es wurde ein Blutbad, dessen Spuren überall in Deutschland sichtbar wurden.
Schröder, der politische Freund von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, gehörte zu den Gründern der revolutionären Partei, die den Parlamentarismus ablehnte und über die Herrschaft in den Fabriken die Diktatur des Proletariats und schließlich die klassenlose Gesellschaft errichten wollte.
Nach den von der SPD durchgesetzten und von der KPD konsequenterweise vehement abgelehnten Reichstagswahlen vom 19. Januar wüteten die Freikorpssoldaten im ganzen Reich bis etwa Mai 1919 und töteten alle, die sie für Kommunisten hielten. Schröder hatte Berlin sofort verlassen, als er erfuhr, dass eine sogenannte Bürgerwehr seine beiden Freunde verhaftet und ins Eden-Hotel verfrachtet hatte. Alle wussten, dass dort der Stab der Garde-Kavallerie-Schützen-Division residierte, der Spartakisten folterte und tötete.
“Einfach totgeschlagen haben sie sie, die Rosa und den Karl, und dann weggeworfen wie ein Stück Dreck!“
Viel diskutiert wurde im Hause Kuntze nicht. Erst viel später brachte Karl den Namen Rosa Luxemburg mit seinem Onkel in Verbindung. Er selber konnte sich im Alter nur daran erinnern, dass damals um die Umstände ein großes Geheimnis gemacht worden war, was seine Neugier erst recht geweckt hatte.
„Karlchen, du musst viel lernen. Wir brauchen gut ausgebildete Menschen, die eine sozialistische Zukunft bauen können. Streng dich an in der Schule!“
„Mach ich, Onkel Karl. Ich will mit dir die Welt besser machen.“
Als er abreiste, nahm der Onkel das Geheimnis und den Hauch von großer Geschichte mit sich in die große, ferne Stadt Berlin und Karl widmete sich wieder seinem Leben als Jugendlicher in der Provinz Pommern. Seit seiner Geburt am 5. April 1909 als Sohn des Lokomotivführers Waldemar und seiner zeitlebens kränklichen Frau Elsbeth lebte er in der Kleinstadt Schivelbein.
Das Städtchen gehörte zu Westpommern, auch Hinterpommern genannt, und ist seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein Teil von Polen. Ein Grab der Eltern Kuntze und Schröder oder ein sonstiger Platz, an dem Karl ihrer hätte gedenken können, existiert nicht. Eine Reise nach Polen war nach dem Kriegsende und vor den Warschauer Verträgen von 1970 nicht im Bereich seiner Möglichkeiten. So blieb seine Herkunft aus Hinterpommern für die Familie von einem gewissen Geheimnis umwittert.
Er