Sieben Leben. Stefan Kuntze
Читать онлайн книгу.sich leistete, und sang mit ihrer schönen Stimme anspruchsvolle Lieder.
‚Thomas der Reimer‘, das von Carl Loewe vertonte Fontane-Gedicht hatte es dem jungen Karl besonders angetan. Das Schicksal dieses Poeten, der der schönen Elfenkönigin für sieben Jahre angehören durfte, drückte etwas von der eigenen Hoffnung auf ein interessantes und schönes Leben aus. Er selber brachte sich neben dem Klavierunterricht in dieser Zeit das Gitarrenspiel bei und von einem Freund der Familie erhielt er ein Akkordeon sowie eine Einführung in die Grundtechnik dieses Instruments.
Diese seine Heimat musste Karl bereits 1925 verlassen, um weiter zu kommen.
Ein Landleben
Als Jugendlicher hasste Karl Gartenarbeit, auch wenn er in seinen in den Achtzigerjahren aufgezeichneten Erinnerungen die Mitarbeit im elterlichen „Anwesen“ etwas idealisiert darstellt. Wenn er ehrlich war, hatte er auch im Alter keine andere Einstellung dazu. Ein etwas verbissener Ernst erfüllte ihn, wenn im Garten Arbeit anstand und dann musste es meist sehr schnell gehen, so als ob er möglichst bald damit fertig sein wollte.
Waldemar war verständnisvoll und ließ seinem Erstgeborenen genügend Freiheit und freie Zeit, sodass seine Naturerlebnisse sich auch auf die unbearbeitete Erde ausdehnen konnten, wenn er mit Klampfe und Freunden der Wandervogelgruppe die pommersche Schweiz unsicher machte.
Schwieriger gestalteten sich für ihn die Sommerferien, die er fast in jedem Jahr in Polzin beim Großvater Richard Schröder verbringen musste. Er nennt ihn in einer Beschreibung seiner Familie, die er 1985 angefertigt hat, „absoluter Patriarch“ sowohl zu Hause als auch in den Klassen, die er als Lehrer unterrichtete, beeilt sich aber, hinzuzufügen, dass er hohes Ansehen genoss. Die Frage drängt sich auf, für welches Umfeld diese Aussage gilt. An anderer Stelle der Aufzeichnungen ist von einer Loge die Rede, über deren Tätigkeit und die Stellung des Großvaters darin jegliche Angabe fehlt. Darüber habe die Familie nichts gewusst.
Offenbar wurden auch die Enkel dieses dem 19. Jahrhundert entstammenden Pädagogen in Lehrstunden einbezogen, denn bei Spaziergängen gab es nicht etwa Abenteuerspiele oder sportliche Anstrengungen, sondern Pflanzenkunde. Zwar schreibt Karl: „Und doch haben wir auch viel Schönes erlebt. Ich erinnere mich an manchen Spaziergang mit ihm und meinem Vater, wenn er mir die Pflanzen und Sträucher erklärte, die wir sahen.“ Wirklich schön und interessant fand er das allerdings nicht. Das „und doch“ zu Beginn der Aufzeichnung ist verräterisch!
Die allfällige Gartenarbeit war bei den Großeltern von anderem Kaliber als in Schivelbein. Aus bäuerlicher Familie kommend hatte sich Opa Schröder einen wirklich großen Garten angelegt, der nach strenger Weisung mit Händen, Hacken und Mist in Schuss zu halten war. Es war eine schwierige Zeit, als Karl während einer längeren Krankheitsphase seiner Mutter ein halbes Jahr bei den Großeltern verbringen musste.
Die regelmäßigen Aufenthalte in Bad Polzin während der Sommerferien waren dennoch Höhepunkte in seinem Leben, weil die drei Töchter von Onkel Schröder aus Berlin in dieser Zeit ebenfalls anwesend waren. Er hat es nie verraten und diplomatisch davon geschrieben, er und sein Bruder Heinz seien abwechselnd jeweils in eine der drei verliebt gewesen. Aber es war nicht zu übersehen: Inge, die älteste der Mädchen, war seine Favoritin. Er hätte sie gerne bei einem der nach dem Ende der Gartenarbeit möglichen Ausflüge an einen See in der Umgebung berührt oder geküsst. Beim vorsichtigen Einsteigen ins Wasser oder noch besser beim Auftauchen und Verlassen des Sees hat er sie genau betrachtet. Die Mädchen brachten den Hauch der verruchten Großstadt Berlin mit, auch wenn sie keine Bikinis trugen, die es damals nicht gab und die hier absolut verpönt gewesen wären.
Zum Patriarchen Schröder passte die Mitgliedschaft im Turnverein, der jährlich einen großen Ausflug in die pommersche Schweiz veranstaltete. Für diesen Großvater war es – ganz im Sinne der Zeit seines Erwachsenenwerdens – selbstverständlich gewesen, dass sein Sohn Karl studieren durfte, während die ähnlich intelligenten zwei Töchter ja „ohnehin heiraten“, oder wie es damals hieß: „Mädchen brauchen keine höhere Schulbildung.“
Diese höhere Bildung hatte er seinem Sohn dagegen ermöglicht und auch der Enkel Karl sollte die Chance bekommen. Ein guter Schulabschluss, der Wunsch nach weiterer Bildung und der Lockruf Berlins brachten den 16-jährigen 1925 in die Reichshauptstadt. So viel an Reform im Bildungswesen hatte inzwischen in dieser ersten deutschen, der Weimarer Republik stattgefunden, dass begabten jungen Menschen Schulen und Internate zur Verfügung standen, in denen sie ohne größere finanzielle Mittel der Familie zum Abitur gelangen konnten. Hierzu bestimmte der „Schulartikel“ der Weimarer Verfassung (Artikel 146): „Für den Zugang Minderbemittelter zu den mittleren und höheren Schulen sind durch Reich, Länder und Gemeinden öffentliche Mittel bereitzustellen.“
Wäre Karl nur wenige Jahre später geboren worden, hätte sein Leben völlig anders ausgesehen, denn bereits 1927 verwandelte die Stadt Schivelbein die Landwirtschaftsschule in Vollzug dieser Verfassungsbestimmung in ein Realgymnasium, auf dem er mit Sicherheit gelandet wäre. Dann hätten die entscheidenden Begegnungen mit Karl Schröder, Alexander Schwab, Bernhard Reichenbach und den anderen Männern der Sozialwissenschaftlichen Vereinigung in Berlin nicht stattgefunden. Auch der Kreis der „Roten Kämpfer“ wäre ihm unbekannt geblieben, einer kleinen, linksradikalen Splittergruppe, die sein Leben durcheinander wirbeln sollte.
Der für den weiteren Weg notwendige Schritt, der Umzug nach Berlin, war zwar auch von Karl selber gewollt, aber ganz freiwillig kann man ihn nicht nennen. Er fühlte sich verpflichtet, seine Begabung weiter zu entwickeln. Schlimm war, dass er dafür nicht nur seine geliebte Heimat verlassen musste, sondern auch die kranke Mutter, die ihn oft brauchte. Tief drinnen plagte ihn sein Gewissen und wenn er ehrlich war, hatte er auch etwas Manschetten vor der großen Stadt.
„Pass gut auf dich auf, mein Junge!“ Elsbeth ließ sich nicht anmerken, wie sehr sie dieser Abschied schmerzte. „Onkel Karl wird dir helfen.“
„Ich komme ja in den Schulferien wieder, Mutti, du musst dir keine Sorgen machen.“
Im Zug wurde Karl nachdenklich. Würde er der Erwartung des Onkels gerecht werden? Seine Erinnerungen an den Januar 1919 waren zwar intensiv, aber was genau seine Aufgabe sein sollte, war ihm nicht ganz klar. Wichtig war – so viel stand fest – ein guter Schulabschluss und wenn irgend möglich ein Studium. Das Weitere würde sich finden. Außerdem war er gespannt, wie ein Metropole aussah und nicht zuletzt freute er sich auf Inge.
Erste Eindrücke
Waldemar Kuntze hätte nicht gewusst, wie er eine weitere Ausbildung seines Ältesten finanzieren sollte und vor allem wo diese stattfinden könnte. Eine weiterführende Schule gab es 1925 in Schivelbein nicht. Er war deshalb dankbar, dass der Schwager Karl Schröder ihn auf die Möglichkeiten hinwies, die in dieser reformfreudigen Phase der Republik für begabte Söhne und Töchter kleiner Beamter und für Kriegswaisen zur Verfügung standen.
In den mit allem Prunk des Kaiserreichs errichteten, turmgeschmückten Baulichkeiten in Berlin-Lichterfelde, in denen preußische Kadetten seit der Reichsgründung zur Vorbereitung auf das Kriegshandwerk und auf den Eintritt in die Offizierslaufbahn gebüffelt hatten, befand sich seit 1920 die Stabila (staatliche Bildungsanstalt), die nach anfänglichen Schwierigkeiten mit den verbliebenen Kadettenschülern eine Reformpädagogik versuchte. Hier sollte Karl, der begabte Junge aus Pommern, mit moderner Pädagogik zum Abitur geführt werden, um ein gebildeter Mitbürger des demokratischen Deutschland zu werden. Später, in einem anderen Deutschland, zog hier die Leibstandarte Adolf Hitler ein.
Karl bestand die Aufnahmeprüfung und durfte auf dem Bildungsweg weiter marschieren. Im Abschiedsgruß des wie viele Menschen in Pommern eher maulfaulen Vaters „Mach’s gut, mein Junge!“ schwang Stolz über diesen Aufstieg seines Ältesten mit.
„Mein Bruder wird dir helfen, wenn du nicht weiter weißt“, hatte Elsbeth ihm mit auf den Weg gegeben.
Karls Gefühle beim Abschied von Schivelbein waren trotz Heimweh und schlechtem Gewissen mit einer Spur Erleichterung vermischt.