Sieben Leben. Stefan Kuntze
Читать онлайн книгу.– als „trotzkistische Abweichung“ von der richtigen Linie gegeißelt. In der von der KAPD herausgegebenen Zeitschrift „Proletarier“ bezeichnete man das Ergebnis dieser Thesen als „aufs äußerste gesteigerten(n) Kadaverzentralismus“.
Enttäuscht verließ Schröder das Mekka des Kommunismus und der spätere Austritt der KAPD aus der Komintern war nur noch eine Formsache. Die Partei beschloss zwar mehrheitlich den Beitritt zur Komintern und entsandte im November 1920 eine weitere Delegation nach Moskau. Ihre Delegierten nahmen sogar im Sommer 1921 noch am dritten Weltkongress teil, nur um dort zu erfahren, dass man gefälligst die 21 Thesen zu akzeptieren und sich im Übrigen mit der KPD zu vereinigen habe.
Damit war ihnen klar gemacht geworden, dass mit den 21 Leitsätzen ein Primat der sowjetischen Partei in Kraft gesetzt worden war, der die ausländischen Parteien zu Befehlsempfängern degradierte. Von wegen eigener Weg zum Sozialismus, für den sie sich so stark gemacht hatten!
Der Austritt der KAPD aus der 3. Internationale geschah durch nahezu einstimmige Beschlüsse der einzelnen Wirtschaftsbezirke. Bernhard Reichenbach formulierte 1928: „Die Revolution lässt sich durch Kongressbeschluss nicht binden. Sie lebt, sie geht ihren Weg. Wir gehen mit ihr, wir gehen in ihrem Dienste unsern Weg.“ Den verfolgten sie dann auch.
Allerdings war für die durch die Schrecken des 1. Weltkriegs gegangenen Intellektuellen die Idee des Internationalismus nicht gestorben. Zunächst erlitt jedoch die KAPD dasselbe Schicksal wie andere linke Parteien in dieser aufgeregten Phase der Weimarer Republik: Ausschlüsse wegen ideologischer Abweichungen und Austritte wegen inhaltlicher Differenzen hatten die Mitgliederzahl bereits 1921 auf fast die Hälfte (43.000) reduziert, als Schröder und Reichenbach die Spaltung durch Initialisierung einer „Essener Richtung“ vorantrieben, deren Anhänger folgerichtig 1922 förmlich aus der Partei ausgeschlossen wurden.
Die genannten Revolutionäre ließen nicht nach und gründeten mit anderen von der Sowjethegemonie enttäuschten Parteien schon im April 1922 die Kommunistische Arbeiter-Internationale (KAI), die die Aufgabe haben sollte, über die Ländergrenzen hinweg den Zusammenschluss der gleichgerichteten Parteien herbeizuführen und die Idee der Räteregierung zu retten.
Bereits zuvor, im Oktober 1921 hatte sich die AAU gepalten und es entstand neben ihr die Allgemeine Arbeiterunion-Einheitsorganisation (AAU-E), die über die Sammlung der Proletarier in den Betrieben die Revolution vorbereiten wollte. In der politischen Entwicklung der Weimarer Republik und später spielte diese ebenso wie die 1923 durch Ausschlüsse und Abspaltungen reduzierte Gruppe der KAI keine Rolle. Das muss auch Schröder so gesehen haben, da er bereits 1922 der SPD beigetreten war. Reichenbach vollzog diesen Schritt im Jahr 1925.
Dieses vielschichtige und verwirrende Bild der linken Parteienlandschaft, das durch weitere Klein- und Kleinstgruppen zu vervollständigen wäre, war dem Jungen aus Pommern nicht bekannt. Er wusste, dass sein Vater seit Urzeiten in der SPD und als Personalrat bei der Reichsbahn aktiv war. Natürlich hatte er auch von der KPD und deren Distanz zur SPD gewusst, aber die feinen ideologischen Verästelungen, welche die politische Landkarte der späten Zwanzigerjahre aufwies, entzogen sich seiner Kenntnis.
„Weißt du, Karlchen, das ist alles gar nicht so einfach. Wenn du mehr darüber wissen willst, komm morgen Abend einfach mit zum Vorwärts-Haus. Ich werde dort bei den Jungsozialisten über den dialektischen Materialismus sprechen.“
„Gerne, ich werde kommen, aber mir raucht der Kopf. Jetzt muss ich in die Schule zurück.“
„Du nimmst am besten die S-Bahn bis Papestraße und dort steigst du um in Richtung Lichterfelde Ost.“
„Ich kann zu Fuß gehen.“
„Verschätz dich nicht, mein Lieber. Das ist ganz schön weit. Ich geb dir das Fahrgeld.“
Voller Begeisterung trabte Karl zur nahe gelegenen Station. Da war sie, die Einladung zur Teilnahme an der großen revolutionären Bewegung, die den Jungen vom pommerschen Land erreichte. Sie sollte auf fruchtbaren Boden fallen. Er würde alles daransetzen, an der Veranstaltung und an der Revolution teilzunehmen.
Er wusste nicht, ob er die Schule abends verlassen durfte und wenn nicht, wie er das trotzdem anstellen konnte. Irgendwie würde es klappen. Als er in den rot-gelben Wagen der S-Bahn saß, kam er sich erwachsen vor. Wie gut war es, dass er nach Berlin hatte gehen können. Aus dem Gespräch mit dem Onkel hatte er ein Feuer revolutionärer Begeisterung mitgenommen.
Aber jetzt war er müde. Sein Kopf schwankte mit den Bewegungen der ratternden Bahn. Er schreckte hoch, als die Bremsen kreischten. Sein Blick fiel auf die Seitenwand des Wagens über den Fenstern. Überall waren kleine rechteckige Plakate angebracht. Er kniff die Augen zusammen und las: „Feuer breitet sich nicht aus, hast du Minimax im Haus.“
Was für ein Unsinn, dachte er noch, als er vom Bahnhof Lichterfelde den Weg zur Zehlendorfer Straße marschierte.
Neue Perspektiven
Karl Schröder verbreitete in diesen Jahren die Einschätzung der politischen Lage und seine Ideen zur Errichtung der Räteherrschaft, die den Kapitalismus schließlich überwinden werde, bei Vortrags- und Diskussionsabenden der Jungsozialisten und der sozialistischen Arbeiterjugend. Hier waren junge Leute anzutreffen, die mit dem Kurs der Mutterpartei SPD unzufrieden waren.
Was er wirklich dachte, als er mit seinem Neffen sprach, ist nicht bekannt. Es war eigentlich offensichtlich, dass die revolutionäre Situation in Deutschland vorüber und die beschworene Einheit der Arbeiterklasse nicht erreicht war. Jedenfalls begann er damals mit der Beschränkung seiner Absichten auf die Schulung von Menschen, die die sozialistischen Gedanken bewahren und in einer ferneren Zukunft verwirklichen sollten. Das war Ziel der aus seinen Vorträgen und einer damit zusammenhängenden Sozialwissenschaftlichen Vereinigung (SWV) hervorgegangenen Organisation der „Roten Kämpfer“.
Karl besuchte in den folgenden knapp zwei Jahren oft die Veranstaltungen der SWV, musste dies in der Schule aber irgendwie kaschieren. Er sei immer heimlich hingegangen, schrieb er. Andererseits heißt es weiter, im Schlafraum des Internats, den er mit fünf anderen Jungen teilte, habe es „am Abend die heftigsten politischen Diskussionen“ gegeben. Sein Mitschüler Johannes Schröter schlug sich meist auf seine Seite und manchmal kam er zu den Vorträgen mit.
Die Schule wurde unmittelbar nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten geschlossen und in eine Eliteschule für den Nazinachwuchs, eine nationalpolitische Erziehungsanstalt (Napola), umgewandelt. Das Lehrpersonal in der Zeit davor spiegelte – so schreibt Karl –die politische Landschaft wider. Es gab also darunter Sozialdemokraten und andere Linke. Das war für die neuen Machthaber im Jahr 1933 zu viel der Vielfalt.
Karl verbrachte nach dem Besuch bei seinem Onkel eine unruhige Nacht. Er hat nie etwas über seine Klassenkameraden berichtet, obwohl ein paar Jungen aus Pommern mit ihm nach Berlin gekommen waren. Den Johannes traf er 1934 in Ostpreußen und 1935 als Mitangeklagten im Gerichtssaal wieder.
Daher ist nicht bekannt, was er von seinem kommunistischen Onkel und dessen Vorträgen erzählt hat. Ob ihm in den Träumen der Nacht vor dem ersten Besuch bei der SWV das von seinem Onkel beschworene Bild des Leichnams aus dem Landwehrkanal erschienen ist, bleibt im Dunkel.
Den Nachmittag vor dem Vortragsabend hätte Karl nach Schulschluss in der neu eröffneten Galerie Neumann-Nierendorf in der Lützowstraße verbringen können. Vielleicht hätte ihm jemand vorher in der Nähe die Stelle im Landwehrkanal zeigen mögen, an der der übel zugerichtete Leichnam Rosa Luxemburgs im Mai 1919 gefunden worden war.
Die Eröffnungsausstellung der Galerie mit dem Titel „Werke lebender Künstler“ zeigte auch Arbeiten von Otto Dix. Dessen schonungslose Darstellung der Wirklichkeit und der Folgen des 1. Weltkriegs hätten dem pommerschen Jungen die Auswirkungen des Kapitalismus und der nationalistischen Politik plastisch vor Augen geführt.
Vorstellen kann man sich, wie er vor der Prozession der vier menschlichen Wracks steht, die der Maler in dem Gemälde „Die Kriegskrüppel“ von 1920 festgehalten hat. Man sieht entstellte und amputierte Körper, zu Fratzen verzerrte Gesichter